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LATEINAMERIKA/1316: Venezuela - "Poder Popular" (Volksmacht) und partizipative Demokratie (spw)


spw - Ausgabe 4/2011 - Heft 185
Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft

"Poder Popular" (Volksmacht) und partizipative Demokratie unter der Regierung von Hugo Chávez in Venezuela

Von Benedikt Behrens


Der ehemalige Militär Hugo Chávez war der erste linke Politiker, der nach der Zeitenwende von 1989 eine nationale Wahl in Lateinamerika gewann. Dies ereignete sich 1998, zu einem Zeitpunkt als fast alle Staaten Lateinamerikas ergeben die neoliberalen Rezepte des Washington Consensus von 1990 und die Vorgaben von IWF und Weltbank befolgten. Chávez gelang es in Venezuela, den Bann der Krise der lateinamerikanischen Linken zu brechen. Danach folgte im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts eine regelrechte Welle von Wahlerfolgen und Regierungsübernahmen durch zumeist neue linke Bündnisse mit politisch-ideologischen Ausrichtungen von reformorientiert im "sozialdemokratischen" Sinne bis hin zu einem "Sozialismus des 21. Jahrhunderts".(1) Um zu verstehen, warum gerade Venezuela die Rolle des Impulsgebers übernahm, muss man einen Blick in die jüngere Geschichte des Landes werfen.


Die Entwicklung eines Zweiparteiensystems seit 1958

Vor 1958 konnte man in Venezuela von einer funktionierenden bürgerlichen Demokratie nicht sprechen, da sich zivile und militärische Caudillos (starke Männer) in ihrer Herrschaft ablösten und die Herausbildung eines demokratischen Parteiensystems vereitelten.(2) 1958 stürzte eine soziale und politische Bewegung, die von einem breiten Spektrum von den bürgerlichen Parteien bis zu den Kommunisten (PCV) sowie Teilen des Militärs angeführt wurde, den Militärdiktator Marcos Pérez Jiménez. Nach Einsetzung einer Übergangsregierung unter dem Vorsitz eines Militärs wurden Ende 1958 demokratische Präsidentschaftswahlen abgehalten, die Rómulo Betancourt, der Vorsitzende der Acción Democrática, eine sich als sozialdemokratisch verstehende Partei und spätere Mitgliedsorganisation der SI, gewann. Einige Wochen vor den Wahlen hatte die AD mit den bürgerlichen Parteien - die christdemokratisch orientierte COPEI und die linksliberale URD -, aber unter Ausschluss der Kommunisten, den "Pakt von Puntofijo" unterzeichnet, der die Basis für die zukünftige Machtaufteilung in einem (formal)demokratischen System bilden sollte. Während der folgenden drei Jahrzehnte entstand ein Zweiparteiensystem (die URD verlor schnell an Bedeutung), in dem sich AD und COPEI regelmäßig an der Macht ablösten, wobei sie Mechanismen schufen, mit denen das Aufkommen einer politischen Alternative verhindert wurde. Bei aller Fragwürdigkeit der dabei teilweise angewandten undemokratischen Machenschaften, gelang es, ein stabiles Regierungssystem zu etablieren, das sich von den mehrheitlich instabilen und autoritären, oft durch Militärs regierten Regimen in Lateinamerika abhob.

Ein wichtiger Faktor für diese Stabilität war zweifellos der Erdölreichtum Venezuelas. Mithilfe der als unerschöpflich angesehenen Einnahmequelle gelang es der politischen Elite, ein weitverzweigtes klientelistisches System aufzubauen, das alle jene Bevölkerungsgruppen materiell begünstigte, die in irgendeiner Weise direkt oder indirekt mit dem Erdölsektor verbunden waren. Das galt auch für die Gewerkschaften, deren Führungspositionen sich AD und COPEI untereinander aufteilten und dabei das Aufkommen von linken Organisationen, die sich den klientelistischen Mechanismen widersetzten, verhinderten. Gleichzeitig überzog ein dichtes Spinnennetz der Korruption Verwaltung, Wirtschaft und Gesellschaft, insbesondere den riesigen verstaatlichten Erdölsektor.


Krise des Zweiparteiensystems und Aufstieg des Chavismus

Das von sprudelnden Erdöleinnahmen in Gang gehaltene System geriet jedoch seit Beginn der 1980er Jahre in die Krise, als auf dem Weltmarkt ein rapider Preisverfall einsetzte und die Außenverschuldung des Landes explodierte. Von 1978 bis 1989 sank das BIP pro Kopf um 29 Prozent und die Armutsrate stieg auf über 50 Prozent, was zu einem massiven Legitimationsverlust des politischen und ökonomischen Systems führte. Sichtbarster Ausdruck der sozialen Unzufriedenheit war 1989 der sog. Caracazo als es in der Hauptstadt Caracas zu mehrtägigen Demonstrationen und schweren Plünderungen seitens der Bewohner verelendeter Stadtteile kam, welche durch einen äußerst brutalen Einsatz der Sicherheitskräfte mit Hunderten von Toten niedergeschlagen wurden.

Der Caracazo wurde allgemein als Wendepunkt betrachtet: Die Zeit der exklusiven Machtaufteilung unter den beiden dominierenden Parteien war damit vorbei. 1993 kam es zur Wahl einer Regierung, die zum erstenmal seit Jahrzehnten nicht mehr von AD oder COPEI geleitet wurde und eine vorsichtige Abkehr von der neoliberalen Politik versprach. Die radikale Linke war in der Ära des "Paktes von Punto Fijo" politisch isoliert. Aufgrund ihres faktischen Ausschlusses aus dem politischen System griffen einige ihrer Gruppen seit den 1960er Jahren zu Taktiken des Guerillakampfs, die jedoch in der Aufschwungphase des herrschenden Systems zum Scheitern verurteilt waren.

Zu Beginn der 1980er Jahre bildete sich innerhalb des Militärs eine linksnationalistische Gruppe, die als klandestine Zelle organisiert war und sich vornahm, das herrschende politische System zu stürzen. Sie nannte sich Ejército Bolivariano Revolucionario (Bolivarisches Revolutionäres Heer), zu dessen Gründern der junge, aus einfachen ländlichen Verhältnissen stammende Offizier Hugo Chávez(3) zählte. Die revolutionären Militärs optierten jedoch nicht für rein putschistische Aktionen, sondern für die Organisierung eines zivil-militärischen Aufstands, der die aktive Mitwirkung von sozialen Bewegungen einschloss. Bei einem Aufstandsversuch im Februar 1992, den Chávez mit anführte, war die Geheimorganisation der Militärs die führende Kraft. Der Aufstand scheiterte sowohl operativ militärisch als auch politisch, da es nicht gelang, ausreichend aktive Unterstützung in der Bevölkerung zu mobilisieren. Chávez und andere an der Verschwörung beteiligte Offiziere wurden verhaftet und zu Gefängnisstrafen verurteilt.

Nach dem Antritt der Regierung unter Rafael Caldera wurden die Teilnehmer der militärischen Aufstände des Jahres 1992 begnadigt, einige von ihnen erhielten sogar Posten in der Administration. Hugo Chávez lehnte letzteres strikt ab und beteiligte sich am Aufbau einer neuen zivilen Organisation, die sich statt Ejército nun Movimiento (MBR-200) nannte und den Weg der militärischen Machteroberung ausschloss. Nach einem längeren Prozess des organisatorischen Aufbaus und der programmatischen Debatte entschloss man sich schließlich 1997, an den für Ende 1998 vorgesehen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen teilzunehmen. Unter dem neuen Namen Movimiento Quinta República - MVR (Bewegung Fünfte Republik) ging die Organisation mit anderen linken Parteien das Wahlbündnis Polo Patriótico (Patriotischer Pol) mit Chávez als Präsidentschaftskandidat ein. Die Wahlen brachten ihm mit 56 Prozent der Wählerstimmen einen großen persönlichen Erfolg, allerdings verfehlte sein Bündnis im Parlament deutlich die Mehrheit.

Die "bolivarische Bewegung" hatte schon lange vor den Wahlen angekündigt, eine neue Verfassung auszuarbeiten. Chávez erließ am Tage seiner Amtsübernahme ein Dekret, mit dem er ein Referendum anberaumte, bei dem das Volk über die Wahl einer neuen Verfassungsgebenden Versammlung entscheiden sollte. In dem Referendum sprachen sich im April 1999 - bei einer Beteiligung von knapp 38 Prozent - über 80 Prozent der Teilnehmenden für Chávez' Vorschlag aus. Bei der Wahl zur Verfassunggebenden Versammlung im Juli 1999 (Wahlbeteiligung 46 Prozent) erreichten die mit Chávez verbundenen Kräfte mit 120 von 131 Sitzen einen überwältigenden Sieg. Die Erörterung des Verfassungsinhalts war dann aber nicht allein Sache der gewählten Abgeordneten, sondern verlief in einem sehr breiten Prozess, an dem eine Vielzahl von Vertretern sozialer Organisationen und Einzelpersonen teilnahmen, die direkt in die Debatten der Versammlung einbezogen wurden. Von 644 ihr von außen unterbreiteten Vorschlägen fand etwa die Hälfte Eingang in den Verfassungstext. So hatte schon das Verfahren der Verfassungsgebung Einfluss auf deren Inhalt, der Elementen der direkten Partizipation der Bevölkerung einen prominenten Platz einräumt.(4) Die neue "bolivarische" Verfassung wurde im Dezember1999 in einer Volksabstimmung mit der breiten Mehrheit von 71 Prozent der Abstimmenden (Wahlbeteiligung 46 Prozent) angenommen. Bei weiteren Wahlen im nachfolgenden Jahrzehnt erzielte Chávez, wenn er persönlich zur Wahl stand, Ergebnisse um die 60 Prozent bei ansteigender Wahlbeteiligung von bis zu über 70 Prozent. Die Opposition konnte bisher lediglich bei der Ablehnung der Verfassungsreform im Jahr 2007 einen knappen Sieg und bei den Parlamentswahlen von 2010, als sie fast soviel Stimmen bekam wie das Regierungslager, einen relativen Erfolg verbuchen.


"Partizipative Demokratie" oder autoritärer "Populismus" in Venezuela?

Die Verfassung von 1999 lässt sich mit einigem Recht als das politische Grundsatzprogramm des Chavismus betrachten. Auch wenn sie nicht das Ziel einer sozialistischen Gesellschaftsordnung enthält, so dürfte sie hinsichtlich der den Bürgern gewährten Partizipationsrechte und sozialen Garantien zu den progressivsten Verfassungen der Welt zählen. In ihrer Präambel ist niedergelegt, dass das venezolanische Volk sich die Verfassung gegeben habe "... um eine demokratische, partizipative, ihr Schicksal selbst bestimmende, multiethnische und multikulturelle Gesellschaft in einem föderalen und dezentralisierten, gerechten Staat zu schaffen, der die Grundwerte der Freiheit, der Unabhängigkeit, des Friedens, der Solidarität, des Gemeinwohls, der territorialen Integrität, des gedeihlichen Zusammenlebens und die Herrschaft des Rechts ... sichert". Weiterhin garantiert die Präambel das Recht auf "Leben, Arbeit, Kultur, Bildung, soziale Gerechtigkeit und Gleichheit ohne Ansehen der Person".(5) Diese Postulate werden in den einzelnen Artikeln der Verfassung konkretisiert. So benennt Art. 71 als demokratische Rechte des Volkes in Erfüllung seiner "protagonistischen Rolle" - neben den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen - "Volksabstimmung, Volksbefragung, Widerruf von Mandaten, gesetzgebende, verfassungsändernde und verfassungsgebende Initiativen, öffentliche Gemeinderatssitzungen und die Versammlung der Bürger und Bürgerinnen, die verbindliche Entscheidungen treffen." Auf wirtschaftlichem Gebiet nennt derselbe Artikel die Beteiligungsformen der "Selbstverwaltung, Mitbestimmung, Genossenschaften, Gemeinschaftsunternehmen und andere Formen gemeinsamer Organisation, die sich von Werten der Zusammenarbeit und der Solidarität leiten lassen." Neben der Möglichkeit von Volksabstimmungen zum Erlass und zur Aufhebung von Gesetzen enthält die Verfassung die Möglichkeit, gewählte Amtsträger in "Verwaltung und Rechtssprechung"(6) wieder abzuberufen. Dies kann geschehen auf Initiative von mindestens 20 Prozent der im Wahlbezirk Stimmberechtigten und zwar frühestens nach Ablauf der Hälfte der Wahlperiode, wobei die Abwahl erfolgt ist wenn mindestens wieder so viele Stimmen gegen den Amtsträger zusammenkommen wie er bei seiner Wahl ursprünglich erhalten hat. Dass diese Bestimmung kein toter Buchstabe ist, zeigte 2004 die Initiative der Opposition zur Abwahl von Chávez, ein Unterfangen, das allerdings klar scheiterte und im Gegenzug eine enorme Stärkung seiner Position bewirkte.

Artikel 184 konkretisiert das bereits in der Präambel vorgegebene Ziel der Schaffung eines dezentralisierten Staats und der Gewährung von Mitwirkungsrechten der Bevölkerung auf kommunaler und regionaler Ebene. Schauplätze dieser Bürgerbeteiligung sollen lokal die comunidades, also die Gemeinschaften kleinerer Orte und Stadtviertel sein. Sie sollen nicht nur konsultativ beteiligt werden, sondern bei einer großen Anzahl von Aufgaben der lokalen Daseinsvorsorge direkte Mitwirkungs-, Vorschlags- und Kontrollrechte haben. Darüber hinaus ist vorgesehen, Arbeitnehmer und die comunidades "an der Leitung öffentlicher Unternehmen durch Mechanismen der Selbstverwaltung und Mitbestimmung" zu beteiligen. Schließlich sieht Abs. 6 desselben Artikels die Schaffung "neuer Subjekte der Dezentralisierung" vor, "mit dem Ziel, das Prinzip der Mitverantwortung beim öffentlichen Verwaltungshandeln der Gemeindeleitung und der bundesstaatlichen Regierung zu gewährleisten." Ferner garantiert die Verfassung soziale Rechte wie den kostenlosen Zugang zu allen Bildungsstufen und zum Gesundheitswesen sowie die Verpflichtung des Staates, öffentliche Dienstleistungen für die Bevölkerung bereitzuhalten (so wird z.B. Wasser als "öffentliches Gut" deklariert und öffentliche Rundfunkanstalten, Bibliotheken sowie "universeller Zugang" zum Internet garantiert). Der Art. 302 enthält einen Staatsvorbehalt beim Erdöl und "anderen Industriezweigen, Wirtschaftstätigkeiten sowie Dienstleistungen und Gütern von öffentlichem Interesse und strategischer Bedeutung".

Nun könnte man sich vor dem Hintergrund historischer Erfahrungen in Lateinamerika auf den Standpunkt zurückziehen, "Papier ist geduldig", insbesondere dasjenige, worauf Verfassungen geschrieben sind. Allerdings kann bei Chávez und seinen Anhängern konzediert werden, dass es ihnen mit der Verwirklichung der Verfassungspostulate durchaus ernst ist. Die abschätzige Beurteilung Chávez' als einen der üblichen Populisten Lateinamerikas, die sich getragen von einer momentanen Volksstimmung zu Despoten aufschwingen, krankt daher offenkundig an einer allzu stereotypen Wahrnehmung. Einer der ersten sozialpolitischen Maßnahmen der Chávez-Regierung nach ihrer Konsolidierung ab 2003 war die Einrichtung der misiones. Diese verwalten Gelder aus den Erdölerlösen, die ihnen teilweise an der vom alten Regime übernommenen Bürokratie vorbei zur Verfügung gestellt werden, um in Zusammenarbeit mit sozialen Initiativen Projekte zur Verbesserung der Lebensbedingungen an der Basis zu finanzieren. Dabei wird in der Regel großes Gewicht auf die aktive Partizipation der Basisorganisationen in den barrios gelegt, die bei der Bedarfsermittlung, dem Einsatz der Mittel und der Überwachung der Projektdurchführung mitwirken. Die bedeutendsten der etwa drei Dutzend misiones erstrecken sich auf die Alphabetisierung (bis 2005 1,5 Millionen Alphabetisierte) und Bildungsförderung bis zum Hochschulstudium, das Gesundheitswesen (barrio adentro) mit Hilfe von 15.000 kubanischen Ärzten und unter Beteiligung von seitens der lokalen Bevölkerung gebildeter Gesundheitskomitees (Ende 2006: 9.000) sowie die Versorgung mit billigen Lebensmitteln und Waren des Grundbedarfs (misión mercal) durch den Aufbau eines staatlichen Vertriebsnetzes (etwa 14.000 Läden).(7)

Von den genannten "Missionen" ist wohl barrio adentro die erfolgreichste, lobte doch 2006 die Weltgesundheitsorganisation (WHO) ausdrücklich das "venezolanische Modell" und bescheinigte ihm, dass es im selben Jahr bereits 73 Prozent der Bevölkerung Zugang zu kostenlosen Gesundheitsdiensten verschafft hätte. Mit der Einrichtung einer contraloría sociál wurde den Basisorganisationen die Möglichkeit gewährt, eine Rechnungsprüfung in der Verwaltung der jeweiligen misiones durchzuführen, was sich besonders beim besonders korruptionsanfälligen staatlichen Vertriebsnetz mercal als notwendig erwies. Die Unterschiede in der Sozialpolitik zwischen der Chávez-Administration und ihren direkten Vorgängern sind auch zahlenmäßig klar belegt. So machten 2007 die Sozialausgaben 47 Prozent des Staatshaushalts aus, für Bildung stiegen die Staatsausgaben seit 1999 von 3 auf 9 Prozent des BIP, in den Gesundheitssektor investierte der Staat 2007 4,2 Prozent des BIP. Die Folge davon war, dass in Venezuela nach dem letzten Bericht der UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika (CEPAL) der Anteil der unter der Armutsgrenze lebenden Menschen seit 1999 von 49 Prozent auf 28 Prozent zurückging und dass das Land inzwischen den niedrigsten Gini-Koeffizienten der ungleichen Einkommensverteilung in Lateinamerika (ohne Kuba) aufweist.(8)

Eine beeindruckende Innovation hinsichtlich der Bürgerbeteiligung sind die Consejos Comunales (Kommunale Räte). Zunächst 2005 spontan entstanden, wurden sie 2006 per Gesetz offiziell eingeführt. Ein Consejo (CC) wird von etwa 200-400 Familien in einem städtischen Wohnviertel und mindestens 20 auf dem Land gebildet, 2009 soll es im ganzen Land ca. 30.000 CC gegeben haben. Laut Gesetz sind sie "Instanzen der Partizipation, Vernetzung und Integration der verschiedenen kommunitären Organisationen, gesellschaftlicher Gruppen und Bürger, die es dem organisierten Volk erlauben, direkt Einfluss auf die Verwaltung der öffentlichen Politiken und der Projekte auszuüben, die darauf ausgerichtet sind, die Bedürfnisse und Bestrebungen der comunidades im Aufbau einer Gesellschaft mit Gleichheit und sozialer Gerechtigkeit zu befriedigen".(9) Die CC entstehen auf Beschluss einer Versammlung der über 15-jährigen Einwohner einer comunidad, das Mindestquorum für die Gründung liegt bei 20 Prozent der Einwohnerschaft. Schon in der Gründungsphase wird in der Regel Unterstützung seitens der "Präsidialkommissionen der Volksmacht gewährt, die zum Chávez direkt unterstellten Verwaltungsapparat gehören. Die CC erhalten unter Umgehung der etablierten Kommunalverwaltung, auf direktem Wege staatliche Finanzmittel, um Projekte der sozialen Infrastruktur selbstständig durchzuführen und Genossenschaften im Stadtteil aufzubauen, wobei sie technische Unterstützung von staatlichen Stellen in Anspruch nehmen können. Das einzige Beschlussorgan der CC ist die Bürgerversammlung, die nicht nur über den Einsatz der erhaltenen Mittel entscheidet, sondern auch vorweg eine Prioritätenliste der am dringendsten durchzuführenden Projekte erstellt und die korrekte Verwendung der eingesetzten Mittel prüft. 2007 erhielten die CC staatliche Finanzmittel in Höhe von insgesamt 2,8 Milliarden US-Dollar.

Gesetzlich gibt es die Möglichkeit für direkt benachbarte CC, sich in Mancomunidades zusammenzuschließen, um stadtteilübergreifende Projekte durchzuführen. Die gescheiterte Verfassungsreform von 2007 sah sogar den Zusammenschluss von CC zu Comunas Socialistas vor, die auch bestehende Gemeindegrenzen überschreiten können, sowie von Ciudades Comunales, die einen Zusammenschluss sämtlicher CC einer politischen Gemeinde darstellen. Dennoch kam es nach dem Verfassungsreferendum, unterstützt von einer eigens zu diesem Zweck gegründeten misión, vor allem in ländlichen Gebieten zur Gründung von 220 Comunas und 10 Ciudades Comunales. Fernziel dieser räteähnlichen Selbstverwaltungsstrukturen ist der Aufbau eines Estado Comunal, dessen utopische Konturen bisher jedoch nur sehr schemenhaft zu erkennen sind.


Wirtschaftliche Mitbestimmung und Aufbau einer "solidarischen Ökonomie"

Seit 1999 ist es zu einem Boom bei der Gründung von Kooperativen gekommen. Von wenigen Hundert stieg ihre Zahl auf nominell 262.000. Obwohl davon nur ca. 70.000 als wirkliche Genossenschaften funktionieren, vertreten sie mit etwa zwei Millionen Mitgliedern 13 Prozent der ökonomisch aktiven Bevölkerung. Vom Staat werden die Kooperativen mit günstigen Krediten und Steuererleichterungen gefördert. Seit 2005 unterstützt die Regierung den Aufbau von sog. Unternehmen sozialer Produktion (EPS), die ihren Beschäftigten eine weitgehende Mitbestimmung gewähren und verpflichtet sind, 10-15 Prozent ihres Gewinns in soziale Projekte und Infrastruktureinrichtungen zu investieren. Bei den EPS kann es sich um Staatsbetriebe, Kooperativen sowie um gemischte oder reine Privatbetriebe handeln. Diesen Betrieben werden Vorteile wie etwa bevorzugte staatliche Auftragsverteilung gewährt. Darüber hinaus plant die Regierung den Aufbau von 200 "sozialistischen Fabriken" mit den Ziel, eine auf den Binnenmarkt ausgerichtete Industrie zu schaffen. Die Verwaltung dieser Betriebe soll schrittweise in die Hände der Beschäftigten und der lokalen CC übergehen. Bisher geht der Ausbau dieses Sektors jedoch eher schleppend voran, bis Mitte 2010 arbeiteten rund 80 dieser Fabriken.(10)

In staatlichen Betrieben und Firmen, die staatliche Förderung erhalten, fördert die Regierung die Einführung einer Mitverwaltung (cogestión) durch die Beschäftigten. Die Betriebe verpflichten sich dabei, diese an der Leitung und am Gewinn zu beteiligen und keine Entlassungen vorzunehmen. Der fehlenden Gesetzesgrundlage ist es allerdings wohl geschuldet, dass es in vielen Staatsbetrieben, allen voran beim Erdölgiganten PDVSA, keine Mitverwaltung der Beschäftigten gibt.(11)

Seit 2006 ist es auch zur Bildung von Fabrikräten gekommen, die eine betriebliche Selbst- bzw. Mitverwaltung durch die Beschäftigten unter Beteiligung der lokalen comunidades darstellen. Diese Form der Selbstverwaltung ist bisher fast nur in von den privaten Eigentümern aufgegebenen, von den Beschäftigten besetzten oder von der Regierung enteigneten Unternehmen realisiert worden. Das bedeutendste Experiment der Arbeiterselbstverwaltung fand seit 2005 in der staatlichen Aluminiumhütte Alcasa mit 3.000 Beschäftigten statt. Hier reformierte der Soziologe Carlos Lanz als Direktor seit 2005 die bisherige Leitungsstruktur, indem er in den sechsköpfigen Unternehmensvorstand zwei von den Arbeitern gewählte Repräsentanten neben den vom Staat bestimmten Managern aufnahm; die Abteilungsleiter ließ er fortan von Abteilungsversammlungen wählen. 2006 hatte er vor, sein Mitverwaltungskonzept zu radikalisieren, indem er vorschlug, den Vorstand aus vier von der Fabrikversammlung gewählten Vertretern und einen von der örtlichen Bevölkerung entsandten Repräsentanten neben den beiden verbliebenen staatlichen Managern zu bilden. Dieses Experiment endete jedoch 2007 infolge der Ersetzung von Lanz durch einen wesentlich moderateren Direktor und auch der nachlassenden Unterstützung seitens des Großteils der Beschäftigten. 2009 kam es zu einem neuen, von Chávez persönlich unterstützten Versuch, im staatlichen Konglomerat von 17 Metallbetrieben (CVG) eine Arbeiterkontrolle einzuführen. Beschäftigtenvertreter arbeiteten zusammen mit einer Kommission des zuständigen Ministeriums den "Sozialistischen Plan Guayana 2019" aus, den Chávez genehmigte und der vorsieht, Fabrikräte einzurichten, die neben der Durchführung des Investitionsplans, die Unternehmensleitung aus den Reihen der Beschäftigten bilden sollen. Als der strukturelle Umbau ins Stocken geriet, setzte Chávez im Mai 2010 die von den Beschäftigten nominierten Vertreter als Direktoren der 17 Betriebe (inklusive der Aluminiumhütte Alcasa) ein.(12)


Schlussbetrachtung

Unabhängig davon ob man Hugo Chávez einen populistischen Stil in der Inszenierung seiner Politik attestiert, wofür sicherlich vieles spricht, zeigen die oben beschriebenen Programme, dass es der von ihm geleiteten Regierung ernst damit ist, die Lebensverhältnisse der Bevölkerung zu verbessern und diese an der Umgestaltung der Gesellschaft zu beteiligen. Chávez' Methode, sich direkt an die Bevölkerung zu wenden, ohne den Institutionen allzu große Beachtung zu schenken, mag aus westlich-liberaler Sicht wie Populismus erscheinen, ist jedoch vor dem historischen Hintergrund Venezuelas zu beurteilen. Das institutionalisierte Zweiparteiensystem hatte in der Bevölkerung jegliche Legitimation verloren, so dass eine charismatische Figur "von unten", die mit den unerträglichen Missständen des alten Regimes aufräumt, geradezu herbeigesehnt wurde. Chávez nahm diese Rolle an, nicht nur aus taktischem Kalkül heraus, sondern weil er sich allem Anschein nach dazu berufen fühlt, die "unterdrückten Massen" zu befreien. Innerhalb der Tradition der Heldenverehrung Simón Bolivars, des "Befreiers", fühlt Chávez sich in der Nachfolge des Freiheitskämpfers, wenn er in seinen Staatsreden ständig auf dessen Erbe verweist. Hinzu kommt, dass die mythische Figur des "Volksbefreiers" in ganz Lateinamerika seit den Unabhängigkeitskämpfen weit verbreitet ist - nicht zufällig wird dem Präsidentenamt in fast allen Staatsverfassungen seit jeher ein überragender Rang eingeräumt.

Sicher ist dieser um eine Person zentrierte Politikstil mit erheblichen Gefahren verbunden. Was geschieht, wenn der charismatische Führer plötzlich ausfällt, wie es jüngst durch Chávez' Krebserkrankung zu drohen schien - fällt dann der "bolivarische Prozess" der gesellschaftlichen Umgestaltung wie ein Kartenhaus zusammen? Inzwischen wird auch innerhalb der "bolivarischen Bewegung" Kritik an einer sich neu etablierenden Bürokratie in den Sozialprogrammen und an den Kommunalen Räten geübt, die, wie einige meinen, zu einer "Spielwiese" chavistischer Aktivisten zu verkommen drohen, während der große Rest der Bevölkerung außen vor bliebe. Andere konstatieren das Aufkommen einer "Bolibourgeoisie", die versucht, durch politische Anpassung materielle Vorteile für sich herauszuschlagen.(13) Ein schwerwiegendes strukturelles Problem Venezuelas auf ökonomischem Gebiet ist die weiterhin einseitige Ausrichtung auf den Export von Erdöl, das immer noch wertmäßig allein 90 Prozent der Ausfuhren ausmacht. Die dadurch bestehende Verwundbarkeit der Wirtschaft wurde 2009 schlagartig sichtbar, als der Weltmarktpreis für Rohöl innerhalb eines halben Jahres um 70 Prozent sank und das Land vorübergehend in eine Rezession mit einer Wachstumsrate von -3,3 Prozent abglitt. Ein länger anhaltender Rückgang der Staatseinnahmen infolge einer von Weltmarktfaktoren verursachten tiefen Wirtschaftskrise könnte das Ende des "bolivarischen Projekts" einleiten, wenn es nicht gelingt, der Wirtschaft Venezuelas künftig eine breitere und damit sicherere Basis verschaffen.


Dr. Benedikt Behrens ist Historiker und lehrte zuletzt in Berlin (FU), Hannover und Hamburg.



ANMERKUNGEN

(1) Für einen Überblick vgl. Dieter Boris, Linkstendenzen in Lateinamerika (Supplement von Sozialismus), Hamburg 2007 und Helge Buttkereit, Utopische Realpolitik. Die neue Linke in Lateinamerika, Bonn 2010.

(2) Zur Geschichte des Landes seit der Unabhängigkeit vgl. Michael Zeuske, Von Bolivar zu Chávez. Die Geschichte Venezuelas, Zürich 2008.

(3) Zum Lebensweg von Chávez vgl. Zeuske, Boli var, S. 449-66 und Christoph Twickel, Hugo Chávez. Eine Biographie, Hamburg 2007

(4) Siehe hierzu Dario Azzellini, Partizipation, Arbeiterkontrolle und die Commune. Bewegungen und soziale Transformation am Beispiel Venezuela, Hamburg 2010, S. 72-78.

(5) Zitiert nach der offiziellen Übersetzung der Verfassung der Bolivarischen Republik Venezuela, herg. v. Netzwerk Venezuela und der Botschaft der Bolivarischen Republik Venezuela in der BRD, Essen 2005.

(6) Diese Formulierung lässt - zumindest in der übersetzten Version - offen, ob damit auch Parlamentsabgeordnete gemeint sind.

(7) Vgl. eine Übersichtsdarstellung der verschiedenen "Missionen" bei Azzelini, Partizipation, Seite 186-205, s. auch M. Lange/J. Ulrich, Soziales Wachstum. Neue Perspektiven in der Wirtschaftspolitik; In: Andrej Holm, (Hg.), Revolution als Prozess. Selbstorganisation und Partizipation in Venezuela, Hamburg 2007, S. 155f.

(8) Zu den Daten vgl. Azzellini, Partizipation, S. 194f.; Ana María Sanjuan, "Venezuela - die symbolische und die wahre Revolution", in: Le Monde diplomatique, Sept. 2007 und Rául Zelik, "Zwölf Jahre Chavismus in Venezuela", in: Le Monde diplomatique, Mai 2011.

(9) Übersetzung nach Azzellini, Partizipation, S. 273

(10) Vgl. hierzu Azzellini, Partizipation, S. 228f.

(11) Vgl. ebenda, S. 233ff.

(12) Vgl. ebenda, S. 240-44.

(13) Zu dieser Kritik vgl. Zelik, "Zwölf Jahre" und Helge Buttkereit, "Hugo Chávez und die Bolibourgeoisie", in: Blätter für deutsche und internationale Politik, S. 2O-23. Azzellini, Partizipation, ist eine der bisher wenigen Studien, die eine empirische Untersuchung der Praxis der "Kommunalen Räte" enthält. Auf der Basis von Interviews mit Akteuren aus sieben CC kommt der Autor zu einer differenzierten Einschätzung. Er konstatiert eine generelle Zunahme der Partizipation in ärmeren Stadtvierteln, in sozial gemischten barrios ist sie allerdings weitgehend auf die Sympathisanten der Regierung beschränkt. Allgemein hält er die Partizipation, trotz zeitweise hoher Intensität, für noch "nicht konsolidiert und meistens nach wie vor von der Initiative Einzelner abhängig" (S. 341-49).


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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 4/2011, Heft 185, Seite 22-29
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. November 2011