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LATEINAMERIKA/1476: Steht Chile vor einem Neuanfang? (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion - 3/2014

Steht Chile vor einem Neuanfang?
Eine zweite Chance für Präsidentin Bachelet

Von Reiner Wilhelm



Chile habe beschlossen, dass dies der Moment für tiefgreifende Veränderungen sei, erklärte Mitte Dezember die frisch gewählte chilenische Präsidentin Michelle Bachelet. Dringend bedarf das Land einer grundsätzlichen Bildungs- und Steuerreform, vor allem aber einer Reform der Verfassung, die mit dem System Pinochet ein für alle Mal bricht. Auch die katholische Kirche steht als einer der wichtigsten Träger im schulischen wie universitären Bildungsbereich vor großen Herausforderungen.


"Freundinnen und Freunde. Danke! Danke, dass ich ein Teil dieser Geschichte sein darf. Danke für dieses Privileg." Das waren die ersten Worte der erneut gewählten Präsidentin Michelle Bachelet am 15. Dezember 2013, kurz nachdem ihr Sieg offiziell feststand. "Chile hat sich entschieden für Reformen von Grund auf, mit Verantwortung und Energie, mit Geschlossenheit und Entschiedenheit", so die Wahlsiegerin.


Ein undurchlässiges und ausschließendes Klassensystem

In diesem Wahlkampf hatten sich zwei Frauen gegenübergestanden, deren Familien eine gemeinsame Geschichte verbindet; die Väter von Bachelet und Evelyn Matthei, beide Luftwaffengeneräle, waren - wie auch ihre Töchter - miteinander befreundet. Der eine, Alberto Bachelet, war während des Putsches loyal zum demokratisch gewählten Präsidenten Salvador Allende, wurde gefoltert und starb an den Folgen. Fernando Matthei dagegen stieg während der Diktatur in die Militärjunta auf.

Auch wenn die Herkunft beziehungsweise Geschichte der Kandidatinnen nicht den Mittelpunkt der Wahlen gebildet hatten, standen beide doch je für ein Lager und eine bestimmte Politik: Die Sozialistin Bachelet, die bereits 2006 bis 2010 Präsidentin war, verkörpert die demokratische Sammelbewegung (Sozialisten, Sozialdemokraten und Christdemokraten), die sich nach der Diktatur zur Concertación und 2009 unter Beteiligung der Kommunistischen Partei zur Nueva Mayoría (Neue Mehrheit) zusammengefunden hat. Die konservative Kandidatin Matthei führt das Lager der Nationalisten, die Allianz für Chile, an. Während Bachelet das moderne, emanzipierte Chile personalisiert, steht Matthei für Tradition, die Macht und die Fortführung eines neoliberalen Wirtschaftskurses, der in der Pinochet-Zeit wurzelt.


Experten hatten erwartet, dass sich die überaus populäre Kandidatin Bachelet bereits im ersten Anlauf bei den Wahlen am 17. November 2013 durchsetzen würde. Sie verfehlte aber mit 46,7 Prozent der Stimmen knapp die notwendige absolute Mehrheit, während Matthei 25 Prozent der Wählerstimmen auf sich vereinen konnte. Die Stichwahl gewann Bachelet mit 62,2 Prozent. Die Wahlbeteiligung von 41 Prozent war die geringste aller Zeiten und lässt vermuten, wie hoch das Misstrauen in die politische Klasse ist.

Dennoch täuscht dieses Ergebnis nicht über die Schwäche der konservativen Regierungsparteien hinweg, die sich bereits bei der Wahl ihrer Präsidentschaftskandidatin andeutete: Matthei musste notgedrungen einspringen, nachdem sich zuvor zwei Kandidaten zurückgezogen hatten. Zudem stand die Stimmung im Land auf Veränderung. Obwohl Sebastián Piñera große Erfolge beim Wiederaufbau nach dem schweren Erdbeben vom 27. Februar 2010, eine boomende Wirtschaft mit jährlichen Wachstumsraten von durchschnittlich über 6 Prozent, eine insgesamt niedrige Arbeitslosigkeit und wachsenden Wohlstand vorzuweisen hatte, waren die Chilenen insgesamt unzufrieden mit seiner Politik, insbesondere mit seinem Führungsstil.

In Piñeras Regierungszeit fiel 2010 die Rettung der 33 Bergleute, die über 69 Tage in 700 Meter Tiefe eingeschlossen waren und nach einer spektakulären, international viel beachteten Aktion befreit werden konnten. Dass das Unglück von San José nur die Folge von Versäumnissen war, wurde erst in einer späteren Analyse der Ereignisse deutlich. In der Amtszeit Piñeras verschärfte sich zusehends der Konflikt um die indigene Bevölkerungsgruppe der Mapuche, der zur Militarisierung der Region, zu massiven Menschenrechtsverletzungen durch die Staatsgewalt mit konsequenter Anwendung der Terrorismusgesetze führte.

Hinzu kamen große soziale Konflikte im Süden des Landes (Provinzen Magellanes und besonders Aysen), Konflikte um Wasserrechte und den Naturschutz. International das größte Aufsehen erregten die Schüler- und Studentenproteste, bei denen es anfänglich um längst überfällige Reformen des Bildungssystems ging. Aufgrund eines verfehlten Konfliktmanagements der Regierung, das mehr auf Repression und Kriminalisierung der Demonstranten und ihrer Führer als auf echten Dialog setzte, kam über die Forderung nach einer kostenlosen und guten Bildung auch der Ruf nach einer tief greifenden Verfassungsreform auf.

Besonders die Proteste gegen das Bildungssystem, die in allen Bevölkerungsschichten einen überwältigenden Rückhalt hatten, zeigten einen grundsätzlichen Dissens mit dem aktuellen politischen System, das noch aus der Zeit der Militärdiktatur stammt. Es steht für ein undurchlässiges, ausschließendes Klassensystem, von dem nur eine kleine Minderheit profitiert und welches das neoliberale Wirtschaftsmodell zementiert.


Bis 1989 beherrschte Pinochet, der sich 1973 blutig an die Macht geputscht hatte, das Land totalitär. Im Mittelpunkt seiner Politik stand der Umbau der chilenischen Gesellschaft nach den Grundprinzipien des militärischen Ethos wie Ordnung, Gehorsam, Autorität und Stabilität. Um dies zu erreichen, schreckten die Militärs nicht vor massiven Menschenrechtsverletzungen zurück. Das demokratische System wurde außer Kraft gesetzt und die Medien zensiert. Das Sozial- und Wirtschaftssystem orientierte sich am wirtschaftsliberalen Programm der so genannten "Chicagoer Schule", nach dem die freie Marktwirtschaft das effizienteste Mittel der wirtschaftlichen Entfaltung ist.

Unter diesen Annahmen setzte die Regierung weitreichende Deregulierungs- und Privatisierungsmaßnahmen durch. Eine Folge dieser Wirtschaftspolitik war die Verarmung großer Teile der Bevölkerung, während ein kleiner Teil der Gesellschaft vom chilenischen Wirtschaftsboom profitierte und bis heute profitiert.


Der Finanzcrash von 1983 legte endgültig die Grenzen des neoliberalen Wachstumsmodells offen, woraufhin sich Widerstand gegen das Regime trotz der weiterhin gewalttätigen Unterdrückung regte. Die Proteste schufen die Grundlage für die Formierung einer von der katholischen Kirche unterstützten demokratischen Opposition, die ein weites Spektrum von Christdemokraten, Sozialdemokraten bis hin zu den Sozialisten umfasste. Ausgeschlossen waren die Kommunisten, die politische Veränderungen durch Gewalt herbeiführen wollten. Obwohl die Proteste nicht ausreichten, um die Diktatur zu beenden, ebneten sie aber den Weg für das Plebiszit 1988, das für Pinochet und die Rechte überraschend mit 55 Prozent gegen die Diktatur ausging. 1989 gewann die Concertación, der Bund der oben genannten Parteien, die ersten demokratischen Wahlen.

Die 1980 durch ein Referendum durchgesetzte Verfassung, die bis heute Gültigkeit hat, aber auch Gesetze und Personalentscheidungen aus dem letzten Jahr der Regierung Pinochet, darunter das Bildungsgesetz "Ley Orgánica Constitucional de Educación (Loce)", in dem die Bildung in die Hände des freien Marktes übergeben und dadurch zur Ware wurde, konfrontierten die demokratischen Regierungen mit großen Herausforderungen: So wurde der Oberste Gerichtshof mit Vertrauensleuten besetzt, die Oberkommandierenden der Streitkräfte blieben im Amt und konnten vom Präsidenten nicht abgesetzt werden. Die Militärs behielten weiterhin viele Sonderrechte und waren zunächst nur bedingt der zivilen Gewalt untergeordnet.

Ein nationaler Sicherheitsrat befand über Fragen der äußeren und inneren Sicherheit. Viele Gesetze bedurften und bedürfen einer besonderen Mehrheit, um verändert oder reformiert zu werden, insbesondere die, die die neoliberale wirtschafts- und soziopolitische Ausrichtung des Landes regeln. Die Regierungen der Concertación knüpften daher zwangsläufig an die neoliberale Wirtschaftspolitik der Diktatur an. Trotz der hohen Hürden im Hinblick auf die erforderlichen Mehrheiten konnte die Verfassung seit 1990 insgesamt 24 Mal reformiert werden.


Die Verfassung bevorzugt die konservativen Parteien

Die umfassendste Reform erreichte Präsident Lagos 2005, wobei ein Großteil der autoritären Elemente sowie die ernannten Senatoren (Repräsentanten der vier Teile der Armee und des Ex-Präsidenten wurden automatisch Senatoren) aus der Verfassung getilgt wurden. Hingegen nicht reformiert werden konnte das "binominale" Wahlrecht. So werden Abgeordnete und Senatoren in Chile nach Parteilisten in Zweipersonenwahlkreisen gewählt. Nur wenn die stärkste Parteiliste im Wahlkreis doppelt so viele Stimmen erhält wie die zweitstärkste Liste, bekommt sie zwei Mandate. Das heißt, dass in der Mehrzahl der Wahlkreise die beiden stärksten Listen jeweils ein Mandat erhalten.


Das gestörte Verhältnis vieler Chilenen zur öffentlichen Meinung

In der Konsequenz bedeutet dies für Chile, dass die konservativen Parteien bevorzugt und kleinere Gruppierungen vom politischen Geschehen ausgeschlossen werden. Bei der Präsidentschaftswahl im November 2013, bei der gleichzeitig das Parlament neu gewählt wurde, erhielt das Parteienbündnis der Nueva Mayoría von Michelle Bachelet trotz ihres großen Wahlsieges lediglich 67 der 120 Parlamentssitze. 80 Abgeordnetenstimmen sind aber notwendig, um eine grundlegende Verfassungsänderung durchzusetzen. Ähnlich verhält es sich im Senat, wo die Nueva Mayoría 21 der 38 Senatoren stellt. Hier sind 25 Stimmen das notwendige Quorum.


Zum Erbe der Diktatur zählt auch das gestörte Verhältnis vieler Chilenen zur öffentlichen Meinung. Die Militärdiktatur setzte konsequent das Monopol auf politische Äußerungen durch und verhinderte eine politische Partizipation. In dieser Zeit entwickelte sich das chilenische Presse- und Rundfunksystem in einem ausschließlich privatwirtschaftlich strukturierten und kommerziell organisierten Rahmen. Die Konzentration in den Händen von profitorientierten Unternehmen setzte sich auch nach der Demokratisierung fort. Heute bestimmen zwei große Medienunternehmen, "Copeza" und "Mercurio", den chilenischen Zeitungsmarkt. Beide Konzerne sind daneben in anderen Wirtschaftszweigen tätig: So hat die Edwards-Familie, Eigentümerin der Mercurio-Kette, Beteiligungen an mehr als 60 Unternehmen und hält 20 Prozent des sozialen Kapitals des Landes. Ihr Konkurrent Copeza, ein Unternehmen der Brüder Reeds Peak, ist mit Banken, Investmentfonds und einer großen Supermarktkette reich geworden. Ihre wirtschaftliche Macht ging im Laufe der Jahre in politischen Einfluss über.

Der Umgang des chilenischen Staates mit den Ureinwohnern Chiles, insbesondere mit den Mapuche, hat eine lange, traurige Geschichte. Der Mapuche-Konflikt wurzelt geschichtlich in der Zeit zwischen 1862 und 1881 und wird in der offiziellen Geschichtsschreibung als "Befriedung Araucaniens" bezeichnet. In Wirklichkeit war es ein Genozid der noch jungen Republiken Argentinien und Chile an den Mapuche. Konkretes Ergebnis der militärischen Besatzung ihrer Siedlungsgebiete war das Ende der Unabhängigkeit der Mapuche, die Reduzierung ihres Landes von 10 Millionen auf etwas über 525 000 Hektar und die Verteilung des "neuen Lands" an nicht-indigene, zumeist europäische Siedler. Die Parzellierung der Ländereien zwang die Mapuche zur Anpassung an die Landwirtschaft auf kleinen Böden. Ihr Leben in Freiheit und Selbstbestimmung wurde zerstört, ebenso viele ihrer wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Traditionen. Seitdem kämpfen die Mapuche um ihr kulturelles und soziales Überleben und die Anerkennung ihrer Rechte.


Der Mapuche-Konflikt ist eindeutig politischer Natur

Hatten sich die Präsidenten Eduardo Frei (1964-1970) und Salvador Allende (1970-1973) noch darum bemüht, im Rahmen der Agrarreform auf die Forderungen der Mapuche nach Landrückgabe und Verbesserungen auf dem Bildungssektor und im Gesundheitswesen einzugehen, so wurden sämtliche Bemühungen nach dem Putsch von der Militärdiktatur (1973-1988) zurückgenommen. Im Rahmen der Umsetzung des neoliberalen Wirtschaftssystems wurden per Dekret Enteignungen der vormals übereigneten Grundstücke vorgenommen, die Möglichkeit des Gemeinschaftsbesitzes aufgehoben und aufgelösten Gemeinden der Status als Ureinwohner aberkannt. Damit war der Verkauf von Grund und Boden möglich.


Um nach der Diktatur den Forderungen nach Rückgabe ihres Lands und damit dem Überleben ihrer Kultur Nachdruck zu verleihen, begannen die Mapuche mit der Besetzung von nicht kultivierten Ländereien, die ihnen im Laufe der Geschichte und insbesondere durch die Militärdiktatur weggenommen und großteils an Großgrundbesitzer und Unternehmen verkauft worden waren. Während dieser Aktionen richtete sich die Gewalt in der Regel gegen Sachwerte. Ihr Unmut richtete sich aber auch gegen Großgrundbesitzer, die Fisch- und Holzindustrie sowie gegen Energie- und Zellulosekonzerne, die in ihrem traditionellen Gebiet tätig sind und auf Tradition, Religion, Kultur, Umwelt- oder Gewässerschutz nur wenig Rücksicht nehmen. Auf ihrem Land entstanden Wasserkraftwerke, Eukalyptus- und Kiefernplantagen für die Holzindustrie, industrielle Anlagen zur Lachszucht und Müllhalden. Erst kürzlich wurde auf reklamiertem Gebiet der neue Flughafen von Temuco gebaut.


Der Mapuche-Konflikt ist eindeutig politisch. Aus diesem Grund adressieren die Mapuche ihre Forderungen in erster Linie an die chilenische Regierung und verlangen die Einhaltung der von ihr unterschriebenen und ratifizierten internationalen Abkommen, darunter das Übereinkommen Nr. 169 der ILO über "eingeborene und in Stämmen lebende Völker in unabhängigen Ländern". Diese Konvention verwendet ausdrücklich den Begriff "Völker" und erkennt damit auch Kollektivrechte der Indigenen an. Mindeststandards im Umgang mit den Ureinwohnern ist das Recht auf kulturelle Identität und auf gemeinschaftliche Strukturen und Traditionen (Art. 4) oder das Recht auf Land und Ressourcen (Art. 13-19). Besonderen Schutz genießen die ursprünglich besiedelten Territorien, bis hin zum Recht auf Rückforderung von Land, die kulturelle Identität, die natürliche Umwelt sowie die auf indigenen Territorien vorkommenden Rohstoffe.

Der Konflikt verschärfte sich zusehends und mit ihm die Repression. Die Regierungen Patricio Aylwin (1990-1994) und Eduardo Frei (1994-2000), Sohn des während der Diktatur ermordeten gleichnamigen Präsidenten (1964-1970), reagierten auf Aktionen der Mapuche mit der Anwendung der Staatssicherheitsgesetze, die aus dem Jahr 1958 stammen und die öffentliche Ordnung sicherstellen sollen. Unter der Regierung Ricardo Lagos (2000-2006) eskalierte der Konflikt: Einerseits hielt der Präsident wesentliche Wahlkampfversprechen zugunsten der Mapuche nicht ein, andererseits stand er durch Anschläge und andere Aktionen unter massivem Druck der finanziell wie auch politisch mächtigen Großgrundbesitzer und Holzkonzerne.

Aus diesem Grund setzte er das aus der Zeit der Militärdiktatur stammende Antiterrorismusgesetz gegen die Mapuche ein. Das Gesetz lässt die Aussagen anonymer Zeugen zu, die von der Verteidigung nicht überprüft werden können. Es verbietet den Anwälten der Angeklagten in den ersten sechs Monaten des Verfahrens Zugang zu den Ermittlungsakten, es erlaubt eine Untersuchungshaft von bis zu zwei Jahren und die Verdoppelung der üblich festgelegten Haftstrafen. Personen können auch von der Militärjustiz verfolgt werden, sobald ein Mitglied der Sicherheitskräfte bei einer Auseinandersetzung angegriffen oder verletzt wurde. Daher müssen sich viele Mapuche vor einem zivilen und zugleich vor einem Militärgericht verantworten, was zu gegensätzlichen Urteilen führen kann.


Seit der Wiedereinführung der Anwendung der Antiterrorgesetze gegen die Mapuche beklagen Menschenrechtsorganisationen polizeiliche Repression, Voreingenommenheit und Rassismus der Justiz sowie die Straflosigkeit bei Vergehen der Sicherheitskräfte und Großgrundbesitzer. Während der ersten Regierung Michelle Bachelets versuchte sie, das Antiterrorgesetz zu reformieren, konnte sich damit aber nicht durchsetzen.

Unter der Präsidentschaft Piñeras kam es 2010 in den Gefängnissen zum Hungerstreik von 32 Mapuche-Führern, die damit auf die politische Dimension des Konflikts und die Verletzung der Menschenrechte aufmerksam machten. Dank der Vermittlung der Kirche, insbesondere durch den kürzlich zum Kardinal ernannten Erzbischof von Santiago, Ricardo Ezzati, konnte der Tod der Streikenden im letzten Moment abgewandt werden. Eine neue Dimension erreichte der Konflikt 2013 durch den Brandanschlag auf das Landgut Luchsinger, bei dem dessen Besitzer Werner Luchsinger und Vivianne McKay verbrannten. Die Regierung Piñera verhängte daraufhin in der Region den Ausnahmezustand und veranlasste die Anwendung der Antiterrorgesetze für die Untersuchung des Brandanschlags. Auch ein Jahr nach dem Anschlag hat sich die Situation nicht entspannt. Der Mapuche-Konflikt ist das Ergebnis einer Politik der chilenischen Regierungen, die die Grundrechte der ethnischen Minderheiten systematisch missachtet. Trotz einiger Bemühungen, bessere Beratungsmechanismen zu etablieren, beispielsweise durch die von den Mapuche stark kritisierte "Corporación Nacional de Desarrollo Indígena CONADI" (Nationale Gesellschaft für die Entwicklung der Ureinwohner), das Indigenengesetz "Ley Indígena" aus dem Jahr 1993 und die Ratifizierung der ILO-Konvention 169 der Vereinten Nationen erst im Jahre 2008, also 19 Jahre nach dem entsprechenden Beschluss der ILO, zeichnen sich bislang alle Regierungen in Chile dadurch aus, die Forderungen der Mapuche mit der Anwendung von Ausnahmegesetzen und durch Repressionen abzuwehren.


Die Kirche hat ihre Vermittler-Rolle im Mapuche-Konflikt eingebüßt

Michelle Bachelet war bereits in ihrer ersten Amtszeit mit dem Versprechen angetreten, das Bildungssystem zu reformieren und die Ungleichheit im Land zu bekämpfen. In Wirklichkeit passierte nur wenig. Die erschreckend niedrige Wahlbeteiligung beim letzten Urnengang in Chile ist sicherlich eine Konsequenz einer großen Vertrauenskrise in die Politik und ihre Führer. "Chile hat beschlossen," so Bachelet am Wahlabend, "dass dies der Moment für tiefgreifende Veränderungen ist." Gemeint ist ihr Versprechen nach einer grundsätzlichen Bildungs- und Steuerreform, mit deren Mehreinnahmen die Finanzierung der kostenfreien Schul- und Universitätsbildung sowie weitere soziale Maßnahmen gesichert werden sollen. Im Mittelpunkt der Reformen steht aber die Verfassung, die mit dem System Pinochet ein für alle Mal brechen soll. Die Nueva Mayoría hat zwar die notwendigen Mehrheiten in Parlament und Senat, um eine Steuerreform (einfache Mehrheit) oder die Bildungsreform (Viersiebtelmehrheit) durchzusetzen, sie ist aber für die Verfassungsreform auf die Unterstützung der Rechten angewiesen. Diese ist nicht gänzlich ausgeschlossen, hängt aber davon ab, wie sich die politische Rechte nach dem Wahldesaster politisch neu positionieren wird. Alternativ bliebe der Weg über eine verfassungsgebende Versammlung, die aber in der aktuellen Verfassung nicht vorgesehen ist.

Die Präsidentin hat die Möglichkeit, per Dekret und ohne Zustimmung des Parlaments eine solche einzuberufen, es ist aber umstritten, ob ein solches Vorgehen rechtens wäre und ob sich Bachelet auf dieses Experiment abseits des institutionellen Weges einlassen wird. Zudem ist ein solches Vorgehen höchst umstritten, sodass sich innerhalb des Parteienbündnisses, insbesondere unter den Christdemokraten, bereits Widerstand gegen diese Vorgehensweise regt, während sie von der Kommunistischen Partei gefordert wird.

In Bezug auf den Umgang mit dem Mapuche-Konflikt hat Bachelet wiederholt geäußert, dass es ein Fehler war, die Terrorismusgesetze gegen die Mapuche anzuwenden. In ihrem Regierungsprogramm schließt sie ausdrücklich ihre weitere Anwendung aus und versucht einen neuen Weg der Konfliktlösung durch Dialog. Bachelet bekennt sich dabei ausdrücklich zur Umsetzung der Konvention 169. Es darf aber daran gezweifelt werden, dass es ihr gelingt, die Großgrundbesitzer wie auch die Holzindustrie zu einem Umdenken oder Nachgeben gegenüber den Forderungen der Mapuche zu bewegen.


Ein zentraler Punkt im Programm der neuen Regierung ist die Achtung der Menschenrechte. Bereits unter der konservativen Regierung Piñera, in dessen Zeit das Gedenken an den Putsch vor 40 Jahren fiel, wurde ein Umdenken deutlich; inzwischen sprechen auch führende Köpfe der rechten Parteien von der Militärdiktatur und erkennen die Menschenrechtsverletzungen durch die Militärregierung an. Zu diesem Umdenken haben die Aufklärungsarbeit des "Museo de la Memoria", die Gedenkstätten und die verschiedenen, teilweise von der Kirche unterstützten Menschenrechtsgruppen und Opferverbände beigetragen.

Nicht zu unterschätzen ist die Aufarbeitung durch die Justiz, die durch das umfassende Archiv der ehemaligen Vicaría de Solidaridad gespeist wird. Zur Zeit sind etwa 800 Strafverfahren anhängig. Weitere Anklagen stehen bevor. Es ist bemerkenswert, dass Piñera die Haftbedingungen verurteilter hochrangiger Militärs verschärft hat. Dagegen sind die chilenischen Militärs bislang nicht bereit, bei der Aufklärung von Straftaten durch ihre Angehörigen zu helfen oder den Verbleib von Überresten der Opfer preiszugeben.


Das Erdbeben und der Tsunami vom 27. Februar 2010 haben immense Schäden auf einem Gebiet von über 700 Kilometern hinterlassen. Neben Regierungsgebäuden und Privathäusern war besonders die kirchliche Infrastruktur betroffen. Trotz der strikten Trennung zwischen Staat und Kirche ist es ein Verdienst der Regierung Piñera, auch kirchliche Gebäude von historischem und kulturellem Wert in den Wiederaufbau einbezogen zu haben. Zur selben Zeit wurde die katholische Kirche durch Missbrauchsfälle erschüttert. Papst Benedikt XVI. ist es zu verdanken, dass diese Fälle öffentlich wurden und kirchenrechtlich bestraft werden konnten. Dennoch haben sie dem Ansehen und der Autorität der Kirche nachhaltig geschadet, so dass der Einfluss der Bischöfe auf Politik und Gesellschaft stark zurückgedrängt wurde.

Eine große Herausforderung für die Kirche ist die Neubesetzung von Bischofsstühlen in Konfliktregionen: So sind die Diözesen Arica und Iquique im Norden des Landes vakant, eine Region, in der die Migrationsproblematik wie auch der Bergbau eine wichtige Rolle spielen.


Im Siedlungsgebiet der Mapuche wurden die Bischöfe Sixto Parzinger und Camilo Vial, die sich für die Verteidigung der Rechte der Mapuche und einer inkulturierten Evangelisierung durch Dialog unter Achtung und Wahrung der Kultur und Tradition einsetzten, durch neue Bischöfe ersetzt. Diese müssen sich erst noch Kenntnisse über die Kultur der Mapuche, ihren Kampf ums Überleben, aber auch die Achtung und das Vertrauen der Urbevölkerung erarbeiten. Die Kirche hat damit ihre Rolle als Mittlerin in Krisensituationen in der Region eingebüßt, zumal sie selbst in letzter Zeit von den Mapuche aufgefordert wurde, Land an sie zurückzugeben.


Die Kirche als einer der wichtigsten Träger im schulischen wie universitären Bildungsbereich ist herausgefordert, sich in der Ermöglichung einer qualitativ hochwertigen kostenfreien Bildung einzubringen. Sollte sie mit eigenem Beispiel vorangehen, wie sie es bereits mit der Agrarreform in den sechziger Jahren einmal getan hat, sind sowohl der Staat als auch die Privatwirtschaft in Zugzwang.


Es bleibt zu hoffen, dass das umfangreiche und umfassende Reformprojekt, das sich die neue Präsidentin in ihrer zweiten Amtszeit vorgenommen hat, glücken wird. Die konservativen Gruppen haben ihren Widerstand bereits angekündigt, während die Studenten nicht davor zurückschrecken werden, ihren Forderungen auf der Straße Nachdruck zu verleihen, sollten sie erneut von der Politik enttäuscht werden. Ein alles in allem riskanter Weg, zu dem es aber keine Alternative gibt. Die chilenische Kirche hat ihre Unterstützung bekundet. Es bleibt abzuwarten, in welcher Weise sie diesen Prozess begleiten wird.


Reiner Wilhelm (geb. 1965) ist Theologe und Missionswissenschaftler. Er arbeitet seit 1998 als Länderreferent bei der Bischöflichen Aktion Adveniat.

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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
68. Jahrgang, Heft 3, März 2014, S. 156-161
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. August 2014