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LATEINAMERIKA/1526: Chavismus ohne Maduro? Venezuela vor den Parlamentswahlen (FES)


Friedrich-Ebert-Stiftung
Perspektive | FES Venezuela

Chavismus ohne Maduro?
Venezuela vor den Parlamentswahlen

von Benjamin Reichenbach
Dezember 2015


• Vor den venezolanischen Parlamentswahlen am 6. Dezember 2015 befindet sich das Land in einer massiven politisch-institutionellen, wirtschaftlichen und sozialen Krise, die von Rezession, Inflation, Lebensmittelknappheit und politischen Konflikten gekennzeichnet ist. Wenngleich das Oppositionsbündnis MUD in allen Umfragen weit vor der Regierung liegt, bleibt das Ergebnis abzuwarten. Das Wahlsystem, die Wahlbeteiligung und die Rahmenbedingungen der Wahlen könnten einem Sieg des Oppositionsbündnisses entgegenwirken.

• Die Opposition misst den Parlamentswahlen eine historische Bedeutung zu. Nach deren Lesart könnte ein Erfolg den Anfang einer neuen Ära einleiten, die 2016 mit einem Referendum über die Abwahl von Präsident Maduro schließlich zur Regierungsübernahme nach Neuwahlen führen würde. Eine Niederlage droht hingegen die Gräben zwischen dem radikaleren Flügel um den inhaftierten Leopoldo López und dem moderateren Flügel um den Ex-Präsidentschaftskandidaten Henrique Capriles wieder aufzureißen.

• Für das Regierungslager stellt sich die Frage, ob es Präsident Maduro gelingen wird, der Kluft zwischen Basis und Führung des Chavismus entgegenzuwirken und seine Macht innerhalb des Chavismus trotz des wirtschaftlichen Absturzes zu stabilisieren, oder ob die Parlamentswahlen zu einer politischen Verschiebung der Kräfteverhältnisse führen werden. Im Kalkül der chavistischen Basis könnte eine Niederlage bei den Parlamentswahlen von Vorteil für die politische Erneuerung sein. Mittelfristig könnte die Entwicklung eines Chavismus ohne Maduro durch verlorene Parlamentswahlen gestärkt werden.

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Am 6. Dezember 2015 finden die ersten Parlamentswahlen seit dem Tod von Ex-Präsident Hugo Chávez im Jahr 2013 statt. Alle Umfragen sind sich einig, dass das Oppositionsbündnis Mesa de la Unidad Democrática (MUD) so weit vor der Regierungspartei Partido Socialista Unido de Venezuela (PSUV) von Präsident Nicolás Maduro liegt, dass der Vorsprung nahezu uneinholbar scheint.(1)

Dazu trägt eine massive wirtschaftliche Krise bei. Zwar gibt die venezolanische Zentralbank (BCV) seit Anfang 2015 keine offiziellen Zahlen mehr heraus, jedoch liegen seriöse Schätzungen der Inflationsrate zwischen 160 und 200 Prozent; die höchste Inflation weltweit. Die Rezession hat sich nach negativem Wirtschaftswachstum von minus vier Prozent 2014 weiter vertieft und die Knappheit an Lebensmitteln - bedingt durch Devisenmangel für Importe - erreicht ständig neue Höhepunkte. Steht das Ergebnis der venezolanischen Parlamentswahlen vor diesem Hintergrund bereits fest?

Ein nicht proportionales Wahlsystem

Ganz so einfach wird es für das Oppositionsbündnis MUD nicht werden. Bei den letzten Parlamentswahlen 2010 lagen Regierung (48,1 Prozent) und Oppositionsbündnis (47,2 Prozent) beinahe gleich auf. Trotzdem erhielt die Regierungspartei PSUV aufgrund des Wahlsystems 59 Prozent der Abgeordnetensitze in der Nationalversammlung (Asamblea Nacional). Für eine Mehrheit der Abgeordneten werden dem MUD knapp über 50 Prozent der Wählerstimmen daher nicht ausreichen.

In Venezuela besteht ein Mischwahlsystem aus Mehrheits- und Verhältniswahl. Gewählt werden insgesamt 167 Abgeordnete, 113 davon per Direktmandat in 87 Wahlkreisen sowie weitere 51 Abgeordnete über Listenplätze in den 23 Bundesstaaten und dem Hauptstadtdistrikt. Für die Wahl der übrigen drei Abgeordnetenmandate, die an indigene Vetreterinnen und Vertreter gehen, bestehen regionale Bezirke über die Bundesstaaten hinweg.

Das Ergebnis der Verteilung der Listenplätze ist einigermaßen vorhersehbar. In den Bundesstaaten mit zwei Listenplätzen dürfte meist jeweils ein Mandat an das Regierungslager und eines an das Oppositionsbündnis gehen. In den drei bevölkerungsreichsten Bundesstaaten Zulia, Miranda und Carabobo könnte der MUD zwei von insgesamt drei Mandaten per Liste bekommen.

Entscheidend an der Wahlsystematik ist die Verteilung von Mandaten auf die Wahlkreise. Nach Artikel 186 der venezolanischen Verfassung müssen alle Wahlkreise gleichermaßen 1,1 Prozent der Bevölkerung erfassen, allerdings wird nicht in allen Wahlkreisen die gleiche Anzahl an Abgeordneten gewählt. Von den insgesamt 19,5 Millionen Wahlberechtigten wählen beispielsweise 52 Prozent im Hauptstadtdistrikt und den fünf bevölkerungsreichsten Bundesstaaten (Zulia, Miranda, Cara bobo, Lara und Aragua). In diesem Wahlgebiet wird jedoch lediglich über 38 Prozent der Abgeordnetenmandate entschieden, in den übrigen 18 Bundesstaaten mit einem Anteil von 48 Prozent der Wahlberechtigten dagegen über 60 Prozent.

Während im bevölkerungsarmen Bundesstaat Amazonas ein Direktmandat bei 179.000 Einwohnerinnen und Einwohnern vergeben wird, repräsentiert eines der zwölf Direktmandate im bevölkerungsreichsten Bundesstaat Zulia 330.000 Wählerinnen und Wähler. Dieses Wahlsystem hat zur Folge, dass die Stimmenzahl auf nationaler Ebene sich nicht proportional im Anteil an Abgeordneten in der Nationalversammlung widerspiegelt. Das dürfte - wie schon bei den Wahlen 2010 - dem in den ländlichen Regionen starken Chavismus nützen und dem in den urbanen Zentren starken MUD dagegen schaden.

Wahltechnisch gesehen finden insgesamt 114 unterschiedliche Wahlen mit teilweise eigener Dynamik statt. Üblicherweise gewinnt die Regierung mit Abstand in 38 Wahlkreisen mit 46 Abgeordneten und die Opposition in 17 Wahlkreisen mit 18 Abgeordneten. Die übrigen 32 Wahlkreise mit 49 Abgeordneten sind von beiden Seiten stark umkämpft. Auf diese Wahlkreise, in denen beinahe ein Drittel der 167 Abgeordneten zur Wahl stehen, wird es ankommen. Wer eine Mehrheit an Abgeordnetenmandaten erringen will, muss hier punkten. Umfragen prognostizieren dem MUD ca. 86 Abgeordnete. Dies wäre zwar eine Parlamentsmehrheit, aber eine hauchdünne. Es bleibt abzuwarten, wie die Verteilung der Parlamentsmandate in den 87 einzelnen Wahlkreisen am Ende tatsächlich ausfallen wird.

Wahlenthaltung und dritte Kräfte

Zwar erfährt die Regierung von Präsident Maduro in aktuellen Umfragen eine sehr hohe Ablehnung, allerdings lässt dies nicht automatisch den Schluss zu, dass frühere Wählerinnen und Wähler des Regierungslagers nun für das Oppositionsbündnis stimmen werden. Unzufriedene Regierungsanhängerinnen und -anhänger werden eher zuhause bleiben, als den MUD zu wählen. Oder aber sie wählen sogenannte unabhängige dritte Kräfte, d.h. die wenigen Parteien, die weder zum Regierungsblock noch zur Oppositionsallianz gehören. In einzelnen Wahlkreisen könnte der MUD dadurch entscheidende Stimmen verlieren.

Die dem linken Spektrum zuzuordnende Partei Movimiento al Socialismo (MAS) könnte dem MUD in einigen Bundesstaaten (Miranda, Falcón, Portuguesa, Monagas) den Listenplatz streitig machen. Wenn die MAS, der Chancen auf bis zu zehn Mandate eingeräumt werden, auch nur wenige dieser Mandate gewinnt, so könnte dies unter Umständen ausreichen, um eine Mehrheit des MUD zu verhindern und im neuen Parlament quasi zum Zünglein an der Waage zu werden.

Auch die Partei Movimiento de Integridad Nacional-Unidad (MIN Unidad) könnte dem MUD schaden. Die Führung der seit den späten 1970er-Jahren existierenden Randpartei wurde vom Nationalen Wahlrat (CNE) suspendiert und ersetzt. Nun treten Kandidatinnen und Kandidaten aus dem Regierungslager für die Partei an, die nicht nur einen ähnlichen Namen und ähnliche Farben wie das Oppositionsbündnis MUD hat, sondern sich auf dem Wahlzettel direkt neben dem MUD befindet und eindringlich mit dem Slogan wirbt »Wir sind Opposition«. Irritierte Wählerinnen und Wähler könnten daher trotz gegenteiliger Intention versehentlich die Regierung wählen.

Für die zukünftige Entwicklung des Chavismus, auch über die Parlamentswahlen hinaus, ist auch die marxistisch-chavistische Partei Marea Socialista, eine sehr junge Abspaltung der regierenden PSUV, von Bedeutung. Die regierungskritische Formation um den Politikwissenschaftler Nicmer Evans hätte eine echte Gefahr für die PSUV darstellen können und das Potenzial gehabt, gerade mit dem Chavismus verbundene, aber mit Präsident Maduro unzufriedene potenzielle Nichtwählerinnen und Nichtwähler für sich zu gewinnen. Ende August wurde die Hälfte der Kandidaturen von Marea Socialista sowie die Liste der Partei dann jedoch aus fragwürdigen Gründen vom CNE annulliert, wenngleich die übrigen Kandidatinnen und Kandidaten bei den Direktwahlen antreten.

Das Endergebnis der Parlamentswahlen am 6. Dezember wird auch von der Wahlbeteiligung abhängen. Vor allem für das Regierungslager stellt sich die Frage nach der Mobilisierungsfähigkeit potenzieller Nichtwählerinnen und -wähler. Die Beteiligung an Parlamentswahlen ist in Venezuela traditionell eher niedrig, 2010 lag sie bei 66 Prozent. Die Meinungsforschungsinstitute Consultores 21 (60 Prozent) und Dataanalisis (65 bis 70 Prozent) rechnen mit einer durchschnittlichen Wahlbeteiligung, was auch für den MUD zum Problem werden könnte, gerade in umkämpften Wahlkreisen, in denen mit einem knappen Ergebnis zu rechnen ist.

Ausnahmezustand und Wahlbedingungen

Da sich die Entscheidung über die Parlamentsmehrheit auf der Mikroebene ergeben kann, besteht auch die Möglichkeit, durch eine Veränderung der Rahmenbedingungen in wenigen einzelnen Wahlkreisen das Gesamtergebnis entscheidend zu beeinflussen. Dort könnten beispielsweise kurz vor den Wahlen knappe und nicht verfügbare Produkte auftauchen.

Das Umfeld am Wahltag könnte durchaus eine entscheidende Rolle spielen. Es ist nicht sicher, ob in allen Wahllokalen Beobachterinnen und Beobachter beider politischer Lager vertreten sein werden. Auch die Geografie der Wahllokale könnte gerade für Oppositionswählerinnen und -wähler in einzelnen Wahlkreisen eine Hürde darstellen. Es muss damit gerechnet werden, dass es in umkämpften Wahlkreisen zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kommen wird.

In den Bundesstaaten Tachira, Zulia, Apure und Amazonas wurde zudem von Präsident Maduro im Zuge des im August aufgekommenen Grenzkonflikts mit Kolumbien der Ausnahmezustand verhängt. Dies betrifft 28 Munizipien mit insgesamt 19 Abgeordnetenmandaten, und damit elf Prozent aller Abgeordneten. Wahlkampf findet dort unter eingeschränkten und vom Militär kontrollierten Bedingungen statt.

Eine Suspendierung der Wahlen durch den Wahlrat CNE auf Druck der Regierung ist zwar nicht vollkommen ausgeschlossen, jedoch unwahrscheinlich aufgrund der zu erwartenden negativen Reaktionen nicht nur auf regionaler und internationaler Ebene, sondern vor allem auch an der Basis des chavistischen Regierungslagers. Allerdings könnte es unter Umständen dazu kommen, dass in einzelnen Wahlkreisen Probleme bei der Auszählung entstehen, die Öffnung der Wahllokale bis spät in den Wahlabend verlängert wird und vorübergehend keine Ergebnisse verkündet werden. Szenarien dieser Art können ebenso wenig ausgeschlossen werden wie mediale Überraschungen bis zum Wahltag.

Unangenehme Familienmitglieder

Die politische Konjunktur im Vorfeld der Wahlen ist geprägt von unvorhergesehenen Ereignissen. Der Staatsanwalt Franklin Nieves, der die Anklage im Prozess gegen Oppositionsführer Leopoldo López geführt hat, ist am 23. Oktober mit seiner Familie nach Miami geflohen und machte dort öffentlich, dass die international kritisierte Verurteilung zu 13 Jahren Haft eine politische Entscheidung der Regierung gewesen sei. Darüber hinaus behauptet Nieves, dass Präsident Maduro und Parlamentspräsident Diosdado Cabello (PSUV) den gesamten venezolanischen Justizapparat kontrollierten. Die öffentlichen Erklärungen von Nieves erregten großes Aufsehen. Die Regierung bezichtigte Nieves daraufhin, dass seine Beschuldigungen von der Opposition erkauft worden seien.

Anfang November wurden dann in Haiti zwei Venezolaner mit Diplomatenpässen wegen vorsätzlichen Kokainhandels von der US-amerikanischen Antidrogenorganisation Drug Enforcement Administration (DEA) verhaftet. Beide gaben bei ihrer Verhaftung an, sie seien Neffen von Cilia Flores, der Ehefrau von Präsident Maduro. Regierungsnahe Medien sowie Parlamentspräsident Cabello bezichtigen die USA der Entführung der beiden Venezolaner und der Verleumdung des Präsidenten.

Mitte November wurde dann durch den Whistleblower Edward Snowden publik, dass der US-amerikanische Geheimdienst National Security Agency (NSA) die venezolanische Ölgesellschaft Petróleos de Venezuela (PDVSA) ausspioniert hat. Gegen einige hohe (Ex)-Funktionäre von PDVSA ermitteln wiederum verschiedene US-Behörden im Zusammenhang mit Vorwürfen von Bestechung und Geldwäsche.

Derartige Vorfälle dürften eher einen zu vernachlässigenden Einfluss auf das Wahlergebnis haben, werden aber generell von beiden Seiten in plakativer Art und Weise für den Wahlkampf verwendet.

Streit über internationale Wahlbeobachtung

Im Vorfeld der Wahlen wurde auch über Möglichkeiten internationaler Wahlbeobachtung gestritten. Der MUD forderte frühzeitig eine Mission der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS). Im Unterschied zur 2008 gegründeten Union Südamerikanischer Nationen (UNA SUR) verfügt die wesentlich länger existierende OAS über technisch hochwertige Fähigkeiten einer Wahlbeobachtungsmission. Die Regierung von Präsident Maduro steht allerdings auf Kriegsfuß mit der jahrzehntelang von den USA dominierten OAS. Seine Regierung favorisiert grundsätzlich eine Wahlbeobachtung der UNASUR, deren Generalsekretär, der ehemalige kolumbianische Präsident Ernesto Samper, Sympathie für die venezolanische Regierung hat.

Schließlich kam es zu einem offenen Konflikt zwischen dem uruguayischen OAS-Generalsekretär Luis Almagro und der venezolanischen Regierung. In einem zwölfseitigen Brief Almagros an Tibisay Lucena, Vorsitzende des CNE, werden vor allem die ungleichen Wahlbedingungen für Regierung und Opposition, vom Wahlrat verhängte Berufsverbote für Oppositionspolitikerinnen und Oppositionspolitiker sowie die mit der Verhängung des Ausnahmezustands verbundene Aussetzung von Grundrechten beklagt. Die offensichtlichen und sich auf Tatsachen beziehenden Kritikpunkte Almagros sind alles andere als neu, aber kein ehemaliger oder aktueller Vertreter einer linken Regierung der Region hat sich bislang so eindeutig geäußert.

Im Gegensatz zur OAS wird die UNASUR während der Parlamentswahlen in Venezuela präsent sein. Ihre Mission ist jedoch aus unterschiedlichen Gründen bereits in Misskredit geraten. Ende Oktober hat der brasilianische Wahlgerichtshof mitgeteilt, sich nicht an der Mission zu beteiligen, da die venezolanische Regierung notwendige Informationen nicht rechtzeitig bereitgestellt und versucht habe, Einfluss auf die Besetzung der Mission zu nehmen. Der uruguayische Wahlgerichtshof hatte zwischenzeitlich sogar eine gänzliche Absage der Wahlbeobachtung durch die UNASUR ins Spiel gebracht, um den Ruf der Organisation zu wahren. Die schließlich entsandte - vom Ex-Präsident der Dominikanischen Republik, Leonel Fernández, angeführte - Mission wird laut der zwischen UNASUR und CNE getroffenen Vereinbarung am Wahltag »dem Wahlprozess im Rahmen von Respekt, Solidarität und Kooperation beiwohnen«. Die UNASUR unterstellt sich mit dem CNE einer Institution, in die 56 Prozent der venezolanischen Bevölkerung geringes oder überhaupt kein Vertrauen haben.

Gehen die Verlierer auf die Straße?

Wie auch immer die Parlamentswahlen am 6. Dezember ausgehen werden, sie bieten in jedem Falle Konfliktpotenzial. Beide Seiten haben sich bereits ihren Diskurs für den Fall einer Niederlage zurechtgelegt. Eine entscheidende Rolle spielt dabei das Konzept der »Straße« (calle). Auf der Straße herrscht in der venezolanischen Soziologie Gewalt und Auseinandersetzung. Wer dazu aufruft, auf die Straße zu gehen, der muss wissen, was er tut. Zuletzt hatte Oppositionsführer Leopoldo López Anfang 2014 zu Straßenprotesten aufgerufen, die zu 43 Toten und seiner Verurteilung zu 13 Jahren Haft geführt haben.

Es erscheint schwer vorstellbar, dass Maduro und Parlamentspräsident Diosdado Cabello (PSUV) am 6. Dezember ohne Weiteres eine Wahlniederlage öffentlich einräumen werden. Der Präsident hat bereits im Staatsfernsehen verkündet, dass man nicht einer politischen Opposition gegenüberstehe, sondern einer Konterrevolution der politischen Rechten mit Unterstützung der imperialistischen Vereinigten Staaten. Er sei politisch und militärisch vorbereitet und würde bei einem Wahlsieg der Opposition auf die Straße gehen.

Sollte es zu einem Sieg des Oppositionsbündnisses bei den Parlamentswahlen kommen, ist auch davon auszugehen, dass die Regierung die ihr zur Verfügung stehenden Mittel nutzen wird, um die Möglichkeiten einer oppositionellen Parlamentsmehrheit einzuschränken. Dazu gehört die Option eines Ermächtigungsgesetzes (Ley Habilitante), das es Präsident Maduro ermöglichen würde, per Dekret Gesetze zu erlassen. Dieses könnte noch im Dezember von der bestehenden Nationalversammlung verabschiedet werden, bevor sich im Januar das neue Parlament konstituiert, und würde auf einen Zweikampf zwischen Legislative und Exekutive hinauslaufen, bei dem der Präsident im Zweifelsfall am längeren Hebel sitzt. In jedem Fall sähe sich eine parlamentarische Oppositionsmehrheit einer geschlossenen Front des Chavismus in allen anderen Staatsgewalten gegenüber.

Sollte der CNE ein Wahlergebnis zugunsten der Regierung bestätigen, dürfte im MUD sehr schnell von Wahlbetrug die Rede sein. Eine Niederlage droht, die Gräben zwischen dem radikaleren Flügel um den inhaftierten López und dem moderateren Flügel um Ex-Präsidentschaftskandidat Henrique Capriles (Primero Justicia) wieder aufzureißen. Die Anhängerinnen und Anhänger von López könnten dann auf die Straße gehen, was ähnlich wie bei den Protesten von La Salida 2014 zu gewalttätigen Auseinandersetzungen führen könnte. Diese waren die Folge einer Niederlage bei den Lokalwahlen Ende 2013, welche die Opposition genauso zur Schicksalsfrage der Nation erklärt hatte wie nun die Parlamentswahlen. Das Parlament ist in dieser Lesart nur der erste Schritt zur späteren Übernahme der Regierung. 2016 könnte die Opposition ein Referendum zur Abberufung von Präsident Maduro einleiten. Eine Niederlage bei den Parlamentswahlen wäre dafür eine schlechte Voraussetzung.

Es ist zu hoffen, dass sich unabhängig vom Wahlausgang auf beiden Seiten die gemäßigten und friedlichen Kräfte in der Reaktion auf das Wahlergebnis durchsetzen und dass die Anhängerschaft der Opposition im Falle eines negativen Ergebnisses den Fehler von La Salida kein zweites Mal begeht. Die Entwicklung am (unter Umständen sehr langen) Wahlabend selbst könnte dahingehend entscheidende Dynamiken auslösen.

Cambio wohin?

Unabhängig vom Ausgang der Parlamentswahlen steht das Land vor einem harten wirtschaftlichen Anpassungsprozess. Ob ein Staatsbankrott 2016 abgewendet werden kann, wird nicht nur von den politischen Konstellationen abhängen, die aus den Parlamentswahlen hervorgehen, sondern auch von der Frage, wer die politischen Kosten eines wirtschaftlichen Anpassungsprozesses tragen soll. Wer auch immer die Parlamentswahlen gewinnen sollte, wird diesen Prozess zwar entscheidend mitgestalten können, aber auch Verantwortung für seine enormen politischen Kosten übernehmen müssen.

Gewinnt das Regierungslager die Parlamentswahlen, dürfte es zu noch mehr staatlicher Kontrolle kommen. Wenn China nicht dazu bereit sein sollte, weiterhin Milliarden im Ölgeschäft vorzuschießen, wird der Verteilungsspielraum der Regierung aber bald so gering werden, dass es zu internen Auseinandersetzungen kommen könnte. Dass dies zu einer notwendigen Demokratisierung des Chavismus in Verbindung mit der Wiederherstellung demokratischer Praktiken und der Funktionsfähigkeit der Institutionen führen würde, wäre zwar zu hoffen, muss aber bezweifelt werden.

Ob es dem MUD gelingen wird, die Wählerstimmen der Unzufriedenen anzuziehen, bleibt abzuwarten. Der Vertrauensverlust großer Teile der Bevölkerung in die politische Klasse ist enorm. Nach wie vor fehlt der Opposition ein klares Angebot an die Unzufriedenen innerhalb des Chavismus. Der MUD repräsentiert einen klaren Schnitt und ein schnelles Ende des unter Hugo Chávez eingeleiteten Revolutionsprozesses. Dies erscheint nach wie vor äußerst unrealistisch, auch wenn die Kritik an der Regierung innerhalb des Chavismus deutlich wächst und die wirtschaftliche Situation unhaltbar scheint. Die Rückwärtsgewandtheit eines Teils des MUD ist allerdings auch derjenigen (überwiegend älteren) Anhängerschaft der Oberschicht und oberen Mittelschicht geschuldet, die im Chavismus noch immer einen Unfall der Geschichte sehen will, den es zu korrigieren gelte, und das eigene Versagen der politischen Eliten der Vergangenheit verklärt.

Zwischen den Antipoden vom Wirtschaftskrieg und mehr staatlicher Kontrolle einerseits sowie der simplifizierenden Forderung nach mehr Markt anderseits, ist wenig Differenzierung erkennbar. Der MUD verkündet zwar fortlaufend den Wechsel (cambio), hat aber kein Narrativ, das sich von der Rückkehr in die Vergangenheit der Vierten Republik (1958-1999) unterscheidet und deutlich machen würde, in welcher Form sich das Land in der Zukunft verändern sollte. Es ist so, wie der uruguayische Präsident José Mujica über die venezolanische Opposition sagt: »Sie hat keine Gesichter, keine Vision für das Land und kein Lied, das sie singen kann.« Immerhin setzt sich mit Henry Falcón (Avanzada Progresista), Gouverneur des Bundesstaates Lara und ehemaliger Chavist, eine der oppositionellen Führungsfiguren mit einem Diskurs der Verständigung und des Ausgleichs beider politischer Lager positiv davon ab.

Im Falle eines Oppositionssieges bestünde für den MUD die Problematik, Parlamentsarbeit gegen die Regierung und den Staatsapparat machen zu wollen. Um dabei Fortschritte zu erzielen, bedürfte es einer einheitlichen Strategie sowie politischem Geschick der Führungsfiguren, diese umzusetzen. Beides ist derzeit nicht erkennbar. Ob der MUD sich darauf vorbereitet hat, ab dem 7. Dezember eine kluge Verhandlungspolitik gegenüber den vom Chavismus dominierten Staatsgewalten einzuleiten, müsste sich im Falle eines Wahlsiegs erst erweisen. Die Gefahr ist jedoch groß, dass sich eine siegreiche Opposition in Verteilungskämpfen um Ämter verliert. Mit Henry Ramos Allup (Acción Democrática) und Julio Borges (Primero Justicia) werden zwei Anwärter als Parlamentspräsidenten gehandelt, die beide eher für eine Rückkehr in die Vergangenheit und Kompromisslosigkeit gegenüber dem Chavismus stehen. Der MUD hat zudem hohe Erwartungen unter seinen Anhängerinnen und Anhängern geweckt. Diese würden selbst im Falle eines Wahlsiegs nicht leicht zu erfüllen sein.

Der Glaube an Hugo Chávez und die Richtigkeit seines Projektes ist trotz der massiven Krise Venezuelas nach wie vor bei einem harten Kern von vermutlich um die 25 Prozent der Bevölkerung vorhanden. Zudem drückt sich die politische Krise des Landes zwar im wirtschaftlichen und sozialen Niedergang aus, die Krise der Regierung Maduro hat im Kern aber weniger mit Inflation und Lebensmittelknappheit zu tun als mit verloren gegangenem Vertrauen der Basis in die politische Führung zur Lösung dieser Probleme.

Ob diese Krise der Regierung Maduro auch zur Krise des Chavismus wird, dürfte auf die Entwicklung nach den Parlamentswahlen ankommen. Eine Niederlage bei den Parlamentswahlen würde in der chavistischen Basis Präsident Maduro angelastet. Damit würde die Stimmung für eine Erneuerung des chavistischen Führungspersonals Auftrieb bekommen, die neue Charaktere ins Zen trum der politischen Aufmerksamkeit rücken könnte. Der vormalige Bildungsminister und Parlamentskandidat, Héctor Rodriguez, und die Tochter von Hugo Chavez, Maria Gabriela, werden unter anderem als mögliche zukünftige Führungsfiguren gehandelt. Und dann ist da noch das Militär.


Anmerkung

1. Umfrageergebnisse Oppositionsbündnis (MUD) versus Regierungsallianz: Institut Dataanalisis (63 zu 28 Prozent), More Consulting (47 zu 22 Prozent), Consultores 21 (55 zu 34 Prozent) und IVAD (42 zu 22 Prozent), aber auch das eher regierungsfreundliche Hinterlaces (63 zu 33 Prozent).


Über den Autor

Benjamin Reichenbach ist Leiter der Friedrich-Ebert-Stiftung in Venezuela.


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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Dezember 2015

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