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NAHOST/1074: Jordaniens Migrationsregime - Eine kritische Analyse (inamo)


inamo Heft 90 - Berichte & Analysen - Sommer 2017
Informationsprojekt Naher und Mittlerer Osten

Jordaniens Migrationsregime: Eine kritische Analyse

von Ava Matheis


Der Artikel liefert eine Übersicht über die sozialen Kämpfe um jordanische Migrations- und Arbeitskraftpolitik insbesondere vor dem Hintergrund der Krise des jordanischen neoliberalen Entwicklungsmodells und der Krise des europäischen Grenz- und Migrationsregimes. Im Mittelpunkt der Analyse steht das Strategiepapier Jordan Compact, mit dessen Umsetzung die jordanische Regierung syrischen Geflüchteten erstmals Zugang zum Arbeitsmarkt gewährte. Gerahmt wird der Artikel von Überlegungen zur Notwendigkeit kritischer Migrationsforschung.


Mit dem Strategiepapier Jordan Compact [1] brach die jordanische Regierung im Januar 2016 erstmals ein Tabu: Blieben Forderungen nach der Arbeitsmarktintegration syrischer Geflüchteter bis dato ungehört, kündigte Abdullah II. auf der Londoner Geberkonferenz administrative Änderungen an, die Syrerinnen und Syrern formalen Arbeitsmarktzugang ermöglichen sollten. Unter der Voraussetzung, dass sie syrische Arbeiterinnen und Arbeiter einstellen, wurden Unternehmen in fünf ausgewählten Entwicklungszonen Anreize im Rahmen des neuen Investitionsgesetzes in Aussicht gestellt. Langfristig sollen so bis zu 200.000 Arbeitsplätze geschaffen werden (vgl. Laub/Malkawi 2016). Aktuelle Analysen richten ihre Aufmerksamkeit hauptsächlich auf die Umsetzbarkeit des Strategiepapiers bzw. jene Faktoren, die seiner Umsetzung im Wege stehen (vgl. u.a. Sullivan/Kelberer 2017). Um nicht dem "Problemlösungsbias" (Georgi 2016: 188) der Mainstream-Migrationsforschung zu erliegen, ist das Ziel dieses Artikels, den Politikwechsel unter Berücksichtigung seines politökonomischen Kontextes nachzuvollziehen. Dabei stehen insbesondere Dynamiken migrationsbasierter Arbeitskraftpolitik seit 2011 in Jordanien im Fokus: Welche migrations- und arbeitskraftpolitischen Strategien verfolgen soziale Kräfte und welche Rolle nehmen diese im Kontext der Umstrukturierung der jordanischen Wirtschaft ein? Daraus ergibt sich folgende übergeordnete Fragestellung: Wie lässt sich der im Jordan Compact angelegte Politikwechsel aus einer materialistischen Perspektive erklären?

Migrationspolitik nimmt in der Reproduktion des kapitalistischen Akkumulationsprozesses, also des ökonomischen Wachstumsprozesses, eine zentrale Rolle ein: Um trotz der widersprüchlichen Strategien von kapitalistischen Unternehmen und Arbeiterinnen und Arbeitern diesen aufrecht erhalten zu können, sind Unternehmerinnen und Unternehmer darauf angewiesen, eine Vielzahl arbeitskraftspezifischer Probleme zu lösen. So müssen sie Zugriff auf qualifizierte, gesunde Arbeitskräfte haben, die sowohl "frei, los und ledig" (MEW 23, 742) von Produktionsmitteln sind, und somit gezwungen, als auch juristisch befähigt sind, sich in Lohnarbeit zu begeben. Indem bspw. bestehende Mobilität nutzbar gemacht wird oder diese erst ermöglicht wird, kann Migrationspolitik dazu dienlich sein, systemische Arbeitskraftprobleme zu lösen.

Methodisch orientiert sich dieser Artikel an der Historisch-Materialistischen Politikanalyse (HMPA), die von der Forschungsgruppe "Staatsprojekt Europa" (2014) entwickelt wurde. Politische Konflikte werden als Ringen gesellschaftlicher Akteure um Hegemonie gesehen, im Fokus der HMPA stehen die divergierenden Strategien verschiedener Hegemonieprojekte. Hegemonieprojekte werden hier als "politikfeldübergreifende Kräftekonstellationen" (Forschungsgruppe "Staatsprojekt Europa" 2014: 47) verstanden. Hegemonie ist nach Antonio Gramsci die Fähigkeit der herrschenden Klassen, ein Konzept von der Ordnung und Entwicklung der Gesellschaft zu formulieren, hinter das sich große Teile verschiedener Kapitalfraktionen stellen und zugleich den nicht-herrschenden Klassen materielle Zugeständnisse einräumt. Zur Organisierung der ideologischen Hegemonie einer Klasse sind sog. organische Intellektuelle von zentraler Bedeutung: Sie stellen die Konsens- und Anschlussfähigkeit von Partikularinteressen der jeweiligen Kapitalfraktion an das Alltagsverständnis der beherrschten Klassen her.


Migrations- und Arbeitskraftpolitik im Kontext neoliberaler Umstrukturierung

Vorangetrieben durch saudi-arabische Ölrenten und den damit verbundenen Ausbau des jordanischen öffentlichen Sektors und wohlfahrtsstaatlicher Strukturen entstand seit den 1970er-Jahren eine transjordanisch geprägte Mittelklasse. Hochqualifizierte jordanisch-palästinensische Bevölkerungsteile fanden Anstellung in den Golfstaaten, während v.a. der Bau- und Agrarsektor auf dem Import billiger Arbeitskraft aus arabischen und südostasiatischen Ländern fußte.

Mit dem Rückgang des Ölpreises ab 1984 geriet das rentengestützte Entwicklungsmodell in die Krise und die jordanische Regierung war gezwungen, Kredite auf den internationalen Kapitalmärkten aufzunehmen. Auf der Ebene der globalen politischen Ökonomie konnte sich das neoliberale Projekt als Strategie des Finanzkapitals zur Überwindung der Krise seit 1973 durchsetzen. Um Zugang zu Refinanzierungskrediten der internationalen Finanzorganisationen (IFI) zu erhalten, begann König Hussein II. weitreichende Strukturanpassungsprogramme (SAP) der IFI umzusetzen. Im Mittelpunkt dieser Programme stand die Deregulierung der Arbeits- und Finanzmärkte, die Ausrichtung der jordanischen Wirtschaft auf Exporte, die Streichung von Subventionen, der Um- und Rückbau des öffentlichen Sektors und Privatisierungen.

Internationale Abkommen wie der Beitritt zur Welthandelsorganisation 2000, die Etablierung von Qualified Industrial Zones (QIZ)[2] und Sonderwirtschaftszonen (SWZ) und das Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union (EU) 2002 boten den Rahmen für diese Prozesse. Mit der neoliberalen Ausrichtung der jordanischen Wirtschaft veränderten sich auch die arbeitskraftpolitischen Parameter: Die Exportausrichtung der Wirtschaft und die Implementierung von SWZ und QIZ als Entwicklungsstrategie ließen den Bedarf an gering qualifizierter, billiger Arbeitskraft im Privatsektor weiter steigen. Durch den Umbau des öffentlichen Sektors entfielen Arbeitsmöglichkeiten für höher qualifizierte Jordanierinnen und Jordanier. Die abnehmende Nachfrage nach jordanisch-palästinensischer Arbeitskraft in den Golfstaaten führte zu einem Einbruch der Rücküberweisungen, die Arbeitslosigkeit stieg und der Stabilitätsfaktor Migration war nicht mehr gegeben. Aufgrund der Diskrepanz zwischen dem relativ hohen Bildungsniveau und der prekären Qualität der entstehenden Arbeitsmöglichkeiten v.a. im Textil-, Bau- und Agrarsektor waren neoliberale Kräfte zunehmend mit einem 'Fachkräftemangel' konfrontiert. So setzte sich die Strategie, migrantische Arbeitskraft zu importieren, auch für den exportorientierten Produktionssektor durch.

Unter dem neoliberalen Paradigma verloren die jordanischen Staatsapparate die Möglichkeit, materielle Zugeständnisse in großem Umfang zur konsensualen Einbindung der subalternen Klassen aufzuwenden. In Reaktion auf die sich verschlechternde sozialen Lage regte sich seit 2009 Protest im Königreich. Aus den syrischen Protesten entwickelte sich durch das Eingreifen internationaler und regionaler Mächte ein imperialer Stellvertreterkrieg. Als direkter Nachbar Syriens ist Jordanien eines der Hauptaufnahmeländer in der Region: Im Mai 2017 waren 659.828 Menschen bei dem Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) registriert (vgl. UNHCR 2017).

Vor diesem Hintergrund sollen die Dynamiken rund um den Politikwechsel von 2016 skizzenhaft dargestellt werden. Dabei lassen sich drei Phasen ausmachen: Die erste Phase von 2011 bis Anfang 2015 ist geprägt von der Verschärfung und der damit einhergehenden (Nicht)-Durchsetzung restriktiver Maßnahmen. Mit der Krise des europäischen Grenz- und Migrationsregimes ändern sich in der zweiten Phase die Kräfteverhältnisse und bereiten somit den Politikwechsel vor. In der dritten Phase wird dargestellt, wie soziale Kräfte ab Januar 2016 um die Umsetzung und Konkretisierung des Jordan Compact ringen.

Phase 1: Zwischen restriktiven Maßnahmen und Illegalisierung

Zwar war es Syrerinnen und Syrern faktisch möglich, formalen Arbeitszugang zu erhalten. Aufgrund hoher bürokratischer Hürden und restriktiver Auflagen für Geflüchtete konkurrieren diese vor allem mit anderen migrantischen Arbeiterinnen und Arbeitern um prekäre Arbeitsplätze im informellen Sektor. Angesichts der anhaltenden Austeritätspolitik und der sich damit verschlechternden wirtschaftlichen Lage, einer hohen Arbeitslosigkeit, steigenden Mietpreisen und der nachlassenden Qualität staatlicher Leistungen (überfüllte Krankenhäuser, Zweischichtbetrieb in Schulen) wurden rassistische und chauvinistische Stimmen lauter, die Geflüchtete bezichtigten, für die wirtschaftliche Misere verantwortlich zu sein. Mehrere widersprüchliche Dynamiken prägten diese Phase:

1. Militär- und Polizeiapparate setzen ihre Strategie der Versicherheitlichung der jordanischen Grenz- und Flüchtlingslagerpolitik durch.

2. Einerseits reagierten repressive Staatsapparate (Arbeitsministerium, Ministerium für Inneres) restriktiv auf syrische Geflüchtete, bspw. durch Deportationen illegalisierter Arbeiterinnen und Arbeitern nach Syrien. Diese Maßnahmen können als Zugeständnis an national-soziale Kräfte gesehen werden.

3. Jedoch werden die Maßnahmen nicht kohärent umgesetzt und begründen dadurch erst illegalisierte Arbeiterinnen und Arbeiter. Davon profitieren v.a. Kapitalfraktionen im Agrarsektor, die auf billige Arbeitskraft angewiesen sind.

4. Neoliberale Akteure wie bspw. die Industriekammer Irbid und der Ökonom Yusuf Mansur versuchen, syrisches Kapital und Arbeitskraft als 'Chance' zu definieren, können sich damit im Kräfteverhältnis aber nicht durchsetzen.

5. Außerdem ist von europäischer Seite das Interesse erstarkt, Jordanien mittels einer Mobilitätspartnerschaft effizienter in die Externalisierung des EU-Grenz- und Migrationsregimes einzubinden.

In dieser Phase des Konfliktes ergeben sich keine tieferen Brüche in der jordanischen Arbeitskraft- und Migrationspolitik. Es konnten sich jene Kräfte durchsetzen, die auf die Illegalisierung von migrantischer Arbeitskraft und restriktive Maßnahmen setzen.

Phase 2: Der Jordan Compact als neoliberaler Politikwechsel

Auf der Londoner Geberkonferenz 2016 forderte Abdallah II. die internationale Gemeinschaft auf, Jordanien Hilfe zu leisten und stellte den neuen jordanischen Umgang - formuliert im Jordan Compact - mit der sog. 'Flüchtlingskrise' vor. Mit der Arbeit im informellen Sektor reagierten Geflüchtete auf restriktive Arbeitsmarktpolitiken und Kürzungen der finanziellen Zuwendungen von internationalen Organisationen. Zunehmend verließen Menschen jordanische Flüchtlingslager, um zurück nach Syrien, in die Türkei oder nach Europa zu gelangen. Unter dem Eindruck dieser eigensinnigen Migrationsbewegungen geriet im "langen Sommer der Migration" (Kasparek/Speer 2015) das europäische Grenz- und Migrationsregime mit der Aussetzung des Dublin-Systems in die Krise. Die Politik der partiell geöffneten Grenzen der deutschen Regierung führte zu einer Stärkung linksliberaler Kräfte und ihrer Forderung nach offenen Grenzen. Durch Grenzschließungen und erstarkende rechts-nationalistische Parteien sahen neoliberale Kräfte ab Herbst 2015 den Schengen-Raum - einen Grundpfeiler des neoliberalen Modells der europäischen Integration - in Gefahr. Dies führte zu einem Strategiewechsel: Positionen national-konservativer Kräfte wurden übernommen und die Notwendigkeit effektiver Rückführungs- und Rückhaltemaßnahmen sowie 'Fluchtursachenbekämpfung' in den Krisenregionen betont.

Als die migrationspolitische Diskussion in Europa und Jordanien auf ihrem Höhepunkt war, lieferten zwei Flüchtlingsforscher der Universität Oxford - Alexander Betts und Paul Collier - als organische Intellektuelle des neoliberalen Projekts neue Impulse. In einem Artikel in dem Magazin Foreign Affairs (Betts/Collier 2015) fordern sie ein Umdenken im Umgang mit Geflüchteten: Syrische Geflüchtete seien

1. ein Reservoir an Arbeiterinnen und Arbeitern. Dementsprechend sieht ihr Konzept vor, die Bewohnerinnen und Bewohner der Lager und Aufnahmegemeinden in bereits bestehenden, aber als Arbeitsplatz unbeliebten Entwicklungs- und Freihandelszonen einzustellen.

2. Da Jordanien mit der Flüchtlingsversorgung ein globales Gut bereitstelle, müssten Investitionen ausländischer Unternehmen in eben diese Freihandelszonen forciert werden. Nach Gesprächen im Herbst 2015 zwischen Abdallah II., dem britischen Premierminister David Cameron und dem Präsidenten der Weltbank, Jim Yong Kim, griff die jordanische Regierung die Vorschläge Betts und Colliers im Jordan Compact wieder auf. Der Vorschlag wurde maßgeblich mit Unterstützung neoliberaler Kapitalfraktionen des Textilsektors sowie linksliberalen Kräften wie der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) und dem UNHCR weiterentwickelt. Die Europäische Kommission stellte eine Anpassung der Ursprungsregelungen für jordanische Produkte in Aussicht. Um Kredite und Finanzierung zu mobilisieren, sicherte die jordanische Regierung zu, ein IWF-SAP zu durchlaufen und in diesem Rahmen makroökonomische Strukturanpassungsreformen fortzuführen.

In dem Vorschlag der Wissenschaftler werden Strategien zur Bearbeitung diverser (arbeitskraft-) spezifischer Problemen entwickelt, mit denen sich neoliberale Akteure konfrontiert sahen:

1. Jordanien verfügt nicht über konkurrenzfähige Arbeitskraft um im internationalen Wettbewerb mit anderen Niedriglohnländern konkurrieren zu können.

2. Restriktive Migrationspolitiken als Zugeständnisse an national-soziale Kräfte (sowohl in Jordanien als auch in europäischen Staaten) erschweren die Anwerbung geeigneter migrantischer Arbeitskraft.

3. Dem jordanischen Staat entgehen durch einen großen informellen Sektor wichtige Einnahmequellen, die vor dem Hintergrund abnehmender Steuereinnahmen dringend notwendig sind.

4. Jordanische Unternehmen konnten das Freihandelsabkommen mit der EU nur bedingt zu ihrem Vorteil nutzen: Seit 2006 ist das Handelsdefizit zwischen EU und Jordanien auf vier Milliarden Dollar angestiegen (vgl. Europäische Kommission 2017: 2). Unternehmensnahe Verbände wie das Jordan Strategy Forum (JSF) beklagen als Grund für die geringen Exporte in den europäischen Binnenmarkt die hohen Anforderungen der europäischen Ursprungsregelungen.

Mit dem Jordan Compact konnte sich ein neoliberaler Politikwechsel durchsetzen: Die Formalisierung syrischer Arbeitskraft dient in erster Linie dazu, vorhandenes 'Humankapital' auszubeuten. An Konditionen geknüpft, die insbesondere auf neoliberale Arbeitsmarktreformen und die weitere Integration Jordaniens in den europäischen Freihandel abzielen, hat der Politikwechsel weitreichende Implikationen. Eine Diskursverschiebung neoliberaler Kräfte in den 2010er-Jahren ermöglicht es diesen, linksliberale Kräfte zu bündeln, welche die Formalisierung von Arbeitsverhältnissen zur Herstellung menschenrechtskonformer Umstände fordern. Mit der Bezugnahme auf die Schaffung von Bleibeperspektiven ist der Jordan Compact außerdem Ausdruck des Strategiewechsels, den Teile des neoliberalen Projekts in Reaktion auf restriktive Grenz- und Migrationspolitiken innerhalb des Schengen-Raums vollzogen haben. Angesichts der wirtschaftlichen und finanziellen Abhängigkeit Jordaniens von der EU, der Nähe zum Privatsektor einiger Politikerinnen und Politiker und deren Berufserfahrung in der Verwaltung der Freihandelszonen vollzogen Teile der jordanischen Regierung diesen Diskurswechsel mit.

Phase 3: Auseinandersetzungen um die Umsetzung des Jordan Compact

Der Jordan Compact markierte einen vorläufigen Erfolg des neoliberalen Hegemonieprojekts. Das bedeutete jedoch nicht, dass die Kämpfe um arbeits- und migrationspolitische Strategien damit endeten. In der Phase nach Februar 2016 rangen Kräfte um die konkrete Ausformulierung und Umsetzung der im Jordan Compact zusammengefassten Strategien.

Im März 2016 erließ die Regierung eine Frist, innerhalb derer Arbeitserlaubnisse kostenfrei beantragt werden konnten. Ein Pilotprojekt von UNHCR und der Jordan Garments, Accessories & Textiles Exporters' Association (JGATE) im Textilsektor stieß auf eine geringe Nachfrage: Berichten zufolge waren im August 2016 lediglich fünf bis zehn Geflüchtete über das Projekt angestellt (vgl. Lenner/Turner 2017: 9). Gründe dafür gab es zahlreiche: Die Sorge vor Leistungskürzungen oder Deportationen führen dazu, dass formalisierte Arbeitsverhältnisse für viele syrischen Geflüchtete keine Option sind. Außerdem sind die ausgewählten SWZ weit entfernt von Wohnorten und die Arbeit schlecht bezahlt. Eine Quote des Arbeitsministeriums sieht vor, dass 30% der Arbeitskraft im Textilsektor in SWZ jordanisch sein muss. Aufgrund der Darstellung syrischer Arbeitskraft als unproduktiv sind die entsprechenden Kapitalfraktionen nicht gewillt, Syrerinnen und Syrer innerhalb der Quote für migrantische Arbeitskraft einzustellen. Quoten, die den Anteil migrantischer Arbeitskraft in bestimmten Sektoren festlegen, sind ein wichtiges ideologisches Element zur Einbindung nicht-herrschender Klassen. Daher konnten sich die Kapitalfraktionen mit ihren Forderungen nach einer Änderung dieser Regelung bislang nicht durchsetzen.

Auch im Agrarsektor stießen die Pläne zur Formalisierung von Arbeitskraft auf Hindernisse. Dass Arbeiterinnen und Arbeiter durch die Arbeitserlaubnisse für die Dauer eines Jahres an einen Arbeitgeber gebunden sind, erwies sich als nicht praxistauglich, da in dem Sektor Tagelöhner- oder Saisonarbeit vorherrscht. Auf Initiative von ILO, der Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber und Kooperativen änderte die Regierung die Bestimmungen dahingehend, dass Kooperativen als Arbeitgeberinnen auftreten können.

Die Reform der europäischen Ursprungsregelungen wurde im Juli im Rahmen einer sog. "Migrationspartnerschaft" zwischen der EU-Kommission und Jordanien verabschiedet: Will ein Unternehmen von erleichtertem Zugang zum europäischen Binnenmarkt profitieren, müssen zunächst 15% der Belegschaft syrisch sein. Ab dem dritten Jahr erhöht sich die Quote auf 25% (vgl. Assoziationsausschuss EU-Jordanien 2016: 9). Schon im Sommer 2016 wurde das jordanische Vorhaben, syrische Geflüchtete in den Arbeitsmarkt zu integrieren, von verschiedenen Seiten für gescheitert erklärt. Folgende Dynamiken sind dabei zentral:

1. Neoliberale Kapitalfraktionen und die jordanische Regierung sind hinsichtlich der Reform der Ursprungsregelungen nicht in der Lage, der EU-Kommission weitreichende Veränderungen abzuringen. Der unternehmensnahe Think Tank Jordan Strategy Forum (JSF) kritisierte bspw., dass sich die Lockerung der Ursprungsregelungen nur auf einzelne Freihandelszonen und Sektoren bezieht.

2. Die jordanische Quotenregelung innerhalb der SWZ unterstreicht die Rhetorik der jordanischen Regierung von der Wiederbelebung des sozialen Vertrages und "Jobschaffung für Alle". Um die ideologische Einbindung national-sozialer Kräfte und damit die politische Stabilität des Landes zu sichern, hält die jordanische Regierung an dieser Regelung fest.

3. Da von jordanischer und syrischer Seite das Interesse an Jobs in SWZ und QIZ gering ist und darüber hinaus auch die Formalisierung von bereits bestehenden Arbeitsverhältnissen syrischer Geflüchteter Probleme für diese birgt, können Unternehmen die Quoten nur schwer erfüllen. Diese Dynamiken verhindern, dass der Anfang 2016 als Entwicklungschance gefeierte Plan maßgeblich zur Arbeitsplatzschaffung oder Formalisierung von Arbeitsverhältnissen beitragen kann.

Zur Relevanz kritischer Migrationsforschung

Ziel dieses Artikels war es, den Blick auf den Jordan Compact zu weiten. Er ist das Ergebnis einer Verschiebung im jordanischen und europäischen Kräfteverhältnis, die sich vor dem Hintergrund einer Vielzahl von Dynamiken abspielte: Der Krise des Neoliberalismus, der jordanischen Wirtschaftskrise und sowie eigensinnigen Migrationsbewegungen nach Jordanien und in die EU in Reaktion auf den syrischen Krieg. Der Jordan Compact hat weitreichende Implikationen für die jordanische Gesellschaft: Er ist an Maßnahmen geknüpft, die auf die tiefgreifende Umstrukturierung der jordanischen Wirtschaft sowie den Umbau des Arbeitsmarktes abzielen. Außerdem konnte gezeigt werden, dass die 'Migrationspartnerschaft' ein Teil des von der Europäischen Kommission und neoliberalen Kräften vorangetriebenen 'Migrationsmanagement'-Projekts ist. Dieses zielt durch die Externalisierung der EU-Außengrenzen darauf ab, ökonomisch gewünschte Migration in die EU zu befördern und ungewünschte Mobilität zu verhindern. So dienen Visaerleichterungen für jordanische Staatsbürgerinnen und -bürger als positive Anreize im Gegenzug für die Unterzeichnung eines Rückübernahmeabkommens und den Ausbau des jordanischen Asylsystems.

Grenzen sind ein grundlegendes Element des kapitalistischen Systems. Das unhinterfragte Annehmen von Grenzen als naturgegeben ist es, was trotz aller unterschiedlichen Strategien die Konflikte zwischen sozialen Kräften um Migrationspolitik rahmt. Diese Einsicht erklärt, weshalb die neoliberale Ausgestaltung scheinbar progressiver Forderungen nach Sicherheit, Würde und der Bekämpfung von Fluchtursachen durch Flüchtlingsforscher wie Alexander Betts und Paul Collier auch in linksliberalen Kreisen anschlussfähig werden konnten. Entgegen der forschungspolitischen Konjunktur policy-orientierter Flüchtlingsforschung ist es - um ein gegen-hegemoniales Projekt auf den Weg zu bringen - notwendig, über eine humanitäre oder menschenrechtliche Perspektive hinaus zu gehen und Kritik an herrschaftsförmigen Verhältnissen zu üben. Dazu ist eine kritische Wissensproduktion notwendig, die nach politischen, ökonomischen und rechtlichen Bedingungen und umkämpften Prozessen fragt, die Migration und Grenzen als gesellschaftliche Phänomene überhaupt erst hervorbringen. So ist bspw. ein Verständnis der Auswirkungen der internationalen Arbeitsteilung in den Ländern des Globalen Südens geboten, in denen neoliberale Arbeitsmarkt- und Wirtschaftsreformen eine Erosion der bestehenden sozialen Sicherungssysteme bewirken.


Ava Matheis studiert Politik und Wirtschaft des Nahen und Mittleren Ostens am Centrum für Nah- und Mitteloststudien (CNMS) in Marburg.


Anmerkungen

[1] Text siehe: Jordanische Regierung 2016

[2] QIZ sind Sonderwirtschaftszonen, aus denen Produkte zollfrei in die USA importiert werden können, sofern sie bestimmte Ursprungsregelungen erfüllen. Die Ursprungsregelungen bestimmen, welche Kriterien Waren erfüllen müssen, um in den Genuss von Zollpräferenzen zu kommen.


Literaturverzeichnis

Betts, Alexander/Collier, Paul (2015): Help Refugees Help Themselves. Let Displaced Syrians Join the Labour Market. (Online).

Europäische Kommission (2017): European Union, Trade in goods with Jordan. (Online).

Forschungsgruppe "Staatsprojekt Europa" (Hg.) (2014): Kämpfe um Migrationspolitik. Theorie, Methode und Analysen kritischer Europaforschung. Bielefeld: transcript Verlag.

Georgi, Fabian (2016): Widersprüche im langen Sommer der Migration. Ansätze einer materialistischen Grenzregimeanalyse. In: PROKLA. Verlag Westfälisches Dampfboot, Heft 183, 46. Jg. 2016, Nr. 2, 183-203.

Jordanische Regierung (2016): The Jordan Compact: A New Holistic Approach between the Hashemite Kingdom of Jordan and the International Community to deal with the Syrian Refugee Crisis. (Online).

Kasparek, Bernd/Speer, Marc (2015): Of Hope. Ungarn und der lange Sommer der Migration. (Online).

Kelberer, Vicky/Sullivan, Denis (2017): Challenges and Successes of Jordan's Work Permit Program After One Year. (Online).

Laub, Karin/Malkawi, Khetam (2016): Jordan is the test ground for an ambitious program to find jobs for 200.000 Syrian refugees. (Online).

Lenner, Katharina/Turner, Lewis (2017): Making refugees work? The politics of labor market integration for refugees in Jordan. Artikel in Begutachtung.

Marx, Karl/Engels, Friedrich (1958): Marx-Engels-Werke (MEW). Bd. 23. Berlin.

UNHCR (2017): Total Persons of Concern. (Online).

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Inhaltsverzeichnis - inamo Nr. 90, Sommer 2017

Gastkommentar
- Die verhinderte Führungsmacht Saudi-Arabien. Von Jens Heibach

Politische Ökonomie
- Einführung: Kritische Politische Ökonomie des Nahen- und Mittleren Ostens. Von Sascha Radl
- Ein Petrodollar und ein Traum. Von Adam Hanieh
- Pakistan: Die immer größere werdende Macht Chinas. Von Adam Pal
- Fünf Jahre Revolution und Gegenrevolution in Ägypten. Von Brecht de Smet
- «Ihr habt unsere Träume verbrannt» - Arbeitslosenproteste in Algerien. Von Marie Wehner
- Der fragile Bonapartismus in der Türkei. Von Baris Yildirim/Foti Benlisoy
- Jordaniens Migrationsregime. Von Ava Matheis
- Neoliberale Transformation des Kairoer Stadtkerns. Von Nora Schmid

Syrien
- Die Waffen-Industrie «tötet und schafft Flüchtlinge»! Von Diana Bashur
- Die syrische Katastrophe - Syrien, 2013-2014. Von Patrick Cockburn

Essay
- Vom Gebrauch des Begriffs Zionismus. Von Eleonora Roldán Mendívil

Zeitensprung
- Die Legitimität des Staates Israel: 100 Jahre Deklarationen und Beschlüsse. Von Alexander Flores

Sudan
- Der Pyramiden-Krieg der qatarischen Prinzessin. Von Roman Deckert

Ex mediis
- Zum «Dschihadismus» in der iz3W (358). Von Imad Mustafa
- Charlotte Wiedemann: Der neue Iran. Eine Gesellschaft tritt aus dem Schatten. Von Asghar Schirazi
- Sebastian Sons: Auf Sand gebaut. Saudi-Arabien - ein problematischer Verbündeter. Von Werner Ruf
- Helmut Mejcher: Der Nahe Osten im II. Weltkrieg. Von Alexander Flores
- Lutz Fiedler: Matzpen: Eine andere israelische Geschichte. Von Adrian Paukstat

Nachrichtenticker

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Quelle:
INAMO Nr. 90, Jahrgang 23, Sommer 2017, Seite 31-34
Berichte & Analysen zu Politik und Gesellschaft des Nahen und Mittleren Ostens
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Februar 2018

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