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NAHOST/560: F-Typ-Gefangene in der Türkei - Ohne Kommentar, denn wir leben noch! (Cenî)


Cenî - Kurdisches Frauenbüro für Frieden e. V., Nr. 23, September 2009
Eine alternative Frauensicht

Ohne Kommentar, denn wir leben noch!


Vielleicht kennt ihr uns, vielleicht auch nicht. Vielleicht haben sich unsere Wege zu einem Zeitpunkt in eurem Leben gekreuzt, vielleicht kennt ihr uns durch eure Freunde oder irgendwelche Verwandte. Bevor wir zum eigentlichen Grund dieses Briefes kommen, stellen wir uns mal ein wenig vor. Manche von uns sind um die 18 manche sind älter als 50. Manche von uns waren arbeitslos, manche von uns sind Ingenieure, manche Beamte, manche Schüler, Sportler oder Händler. Ihr habt ein Recht darauf zu wissen, warum wir hier sind, warum wir im Gefängnis sind und was unsere "Schuld" ist. Manche von uns haben im Rahmen der Kampagne "Was passiert in den Gefängnissen? Das zu wissen ist euer Recht!" in verschiedenen Briefen an unterschiedliche Personen und Institutionen einen Aufruf gestartet.

Dieser Brief wurde seitens der Insassen des F-Typ-Gefängnisses in Tekirdag verfasst. Wir haben uns in Gewerkschaften, Vereinen und Berufskammern organisiert, manche haben sich der Vernichtung von Slums widersetzt, andere von uns haben dem Terror der Polizei, ihrem Druck und ihrer Ungerechtigkeit nicht nachgegeben und haben sich gewehrt. Wir alle haben uns der Unterdrückungspolitik des IWF und der Regierung, die zur Marionette der EU und der USA geworden ist, die unsere Ehre und unseren Stolz getreten hat, widersetzt. Wir haben für unsere Rechte und unsere Freiheiten gekämpft. Hier sind wir also.

Kommen wir nun zu unserem eigentlichen Thema. In wie weit kennt ihr die F-Typ Gefängnisse? Wisst ihr, was Isolationsfolter ist? Habt ihr davon gehört? Wir wissen es nicht. Aber von den Nazi-Lagern in Deutschland habt ihr sicher schon was gehört. Oder von den US-Gefängnissen in der heutigen Welt, in Guantanamo, oder das Gefängnis im Irak, Ebu Garib, davon habt ihr sicher auch schon was gehört. Die Gefängnisse vom Typ F in unserer Heimat sind nicht anders als diese Nazi-Lager, als Guantanamo oder Ebu Garib. Die F-Typ-Gefängnisse wurden in der Türkei nach der Operation "Zurück zum Leben" am 19. Dezember 2000, bei der 28 Gefangene durch Schusswaffen und Feuer umgebracht und Hunderte verletzt worden sind, eröffnet.


Die F-Typ Gefängnisse können wir folgendermaßen beschreiben:

- Jeder, der in ein F-Typ-Gefängnis kommt, wird, obwohl er vorher mit den Händen und mit elektronischen Geräten unzählige Male untersucht worden ist, splitternackt ausgezogen. Wer sich gegen diese würdelose Handlung wehrt, wird geschlagen.

- Auf dem Weg ins Krankenhaus oder ins Gericht werden die Gefangenen insgesamt zehn Mal kontrolliert, fünf Mal bei der Aus- und fünf Mal bei der Einfahrt.

- Die Zellen sind entweder für eine oder für drei Personen eingerichtet. in den Einzelzellen kann mit niemandem außer den Vollzugsbeamten kommuniziert werden, in den Dreierzellen nur untereinander. Die Kommunikation ist verboten; es ist nicht einmal möglich, das Gesicht eines anderen Menschen zu sehen. Die Fahrzeuge für den Transport ins Krankenhaus oder ins Gericht haben Trennwände.

- Die handschriftliche Verteidigung für das Gericht oder Anträge werden zuerst von den Vollzugsbeamten, die keine juristische Ausbildung haben, kontrolliert. Nur wenn der Antrag als "ungefährlich" eingestuft wird, darf er mit ins Gericht genommen werden. Ansonsten wird er beschlagnahmt.

- Bei Verteidigergesprächen ist den Gefangenen die Mitnahme von Stift und Papier verboten.

- Vor Verteidigergesprächen, die höchstens 50 Meter von der Zelle entfernt durchgeführt werden, finden drei Durchsuchungen statt.

- Wenn den Gefangenen eine Ungerechtigkeit widerfährt und sie einen Antrag diesbezüglich stellen, ist der weitere Verlauf ungewiss. Um zu erfahren, ob der Antrag überhaupt bearbeitet wird oder nicht, müssen sie Anträge über Anträge verfassen. (Zusatzinformation: In den letzten Jahren sind Tausende von Anträgen wegen der Verhältnisse in den F-Typ-Gefängnissen eingereicht worden; trotzdem haben sich die Haftbedingungen nicht geändert und kein Zuständiger wurde für sein Fehlverhalten je bestraft. Auch der Verlauf unserer eingehenden und ausgehenden Briefe ist nicht nachvollziehbar, wie auch unserer Anträge.

- Es ist in den F-Typ-Gefängnissen normal, dass bei Notfällen und bei lebensgefährlichen Krankheiten kein Arzt aufzutreiben ist, oder man wird vom Arzt selbst, ohne behandelt zu werden, rausgeworfen. Viele Gefangene sind gestorben, ohne das Gesicht eines Arztes gesehen zu haben.

Wir können die Isolationsanwendungen in den F-Typen noch erweitern, und das seitenweise. Das ist aber nicht nötig. Wir sind überzeugt, dass mit diesen wenigen Punkten bereits die Isolationshaft reichlich beschrieben ist.

Nun sollen wir durch das neue Strafvollzugsgesetz 'CIK' zusammen mit all unseren Erlebnissen und der Isolationsfolter, stillschweigend begraben werden.

Wenn man das neue CIK liest, sieht man nicht nur in einem Paragraphen, sondern von Anfang bis Ende, dass es die Anwendung von Isolationsfolter und unrechtlicher Praxis erlaubt. Wir haben diesen Brief verfasst, damit ihr die Wahrheit über das neue CIK, die F-Typen und die Isolation auch einmal von uns erfahrt. Aber nicht nur, damit sie euch bekannt ist. Wir wollen, dass ihr diese Fakten auch anderen mitteilt. Wir wollen, dass ihr euch gegen die Isolation in den F-Typen und die CIK stellt.

Wenn es euer Wunsch ist, überprüft zuerst die von uns benannten Fakten, fragt nach; wir können jeden Satz, den wir hier aufgeführt haben, dokumentieren und mit Zeugen beweisen. Es reicht, wenn ihr uns schreibt und fragt. Wenn ihr aber den von uns aufgeführten Wahrheiten glaubt, habt ihr euch auch eine Verantwortung aufgebürgt. Vor allem ist das eine Verantwortung eurem Gewissen und eurem Gerechtigkeitssinn gegenüber. Ihr müsst diese Verantwortung übernehmen, damit ihr den Respekt, den ihr vor euch selbst habt, oder von dem ihr wünscht, dass man ihn vor euch hat, nicht verliert.

Wenn ihr "ist mir doch egal" sagt, müsst ihr wissen, dass ihr zuerst eure Menschlichkeit verliert. Wir wissen, dass das vielleicht eine harte Verurteilung ist, aber leider ist das die Wahrheit. Denkt nach und vergesst nicht, seit dem 20. Oktober 2000 sind 123 Menschen gestorben, weil sie in den Hungerstreik gegen die F-Typen und die Isolation gegangen sind. Mehr als 600 Menschen sind behindert. Vielleicht habt ihr zum ersten Mal durch diese Zeilen von dieser Situation erfahren, vielleicht wurdet ihr durch sie daran erinnert und wolltet diese Wahrheit vorher nicht sehen.

Zuletzt handelt es sich, ob wir wollen oder nicht, um eine Art Widerstand, und ob ihr das als richtig oder falsch empfindet, um eine Wahrheit.

Ihr wisst sicher auch, dass keiner einfach so in den Gefängnissen stirbt. Mit diesen Zeilen wollten wir euch zeigen, was uns hier widerfährt.

WIR WOLLEN MIT DIESEM BRIEF EINE KETTE BILDEN

Es soll eine Kette sein, die erweitert wird, um das Ertrinken in dem schwarzen Loch der Isolation zu verhindern. Ihr könnt Kopien unseres Briefes an eure Bekannten und Verwandten senden, ihr könnt unseren Brief im Internet weitersenden. Wenn ihr Mitglied einer Gewerkschaft oder in einem Verein seid, könnt ihr ihn an die Wand hängen, wenn sie Journalist sind, können sie einen Bericht veröffentlichen.

Wenn sie Hausfrau sind, können sie es ihren Gästen vorlesen, wenn sie Händler sind, können sie es im Geschäft aufhängen. wenn sie Abgeordneter sind, können sie es im Parlament vorlesen. Wenn sie diesen Brief in einer Zeitschrift oder einer Zeitung gelesen haben, können sie ihn ausschneiden, in ihren Geldbeutel legen und ihren Nächsten vorlesen. Kurzum diese WAHRHEITEN müssen mündlich oder schriftlich in einer Kette überall ankommen.

Wenn ihr dagegen seit, dass der menschliche Gedanke von jemand anderem mit Druck vernichtet wird, wenn sie gegen Folter, Ungerechtigkeit und Unrecht sind, wenn sie daran glauben, dass der Mensch nur im Grab allein sein kann und wenn Sie nicht möchten, dass die ISOLATION eines Tages gegen Sie gerichtet wird, dann tragen auch Sie dazu bei, dass sich diese Kette bildet.

In der Hoffnung, dass wir uns eines Tages treffen. Aber einem Tag, an dem die Isolation in den F-Typen aufgehoben ist. Lebt wohl.

Aus dem Tekirdag F TYP Gefängnis
'Die Revolutionären Gefangenen'


*


Quelle:
Cenî - Kurdisches Frauenbüro für Frieden e. V., Nr. 23, September
2009, S. 16 - 17
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Oktober 2009