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NAHOST/828: Auch im Irak wächst eine Protestbewegung (inamo)


inamo Heft 65 - Berichte & Analysen - Frühjahr 2011
Informationsprojekt Naher und Mittlerer Osten

Auch im Irak wächst eine Protestbewegung
Gewerkschaften sind eine wesentliche Säule

Von Joachim Guilliard


Berichte über Proteste und Aufstände in den arabischen Ländern machen nach wie vor Schlagzeilen. Auch westliche Politiker und Medien wurden mittlerweile der üblen Repression der verbündeten Regime von Tunesien bis Bahrain gewahr. Ein Land bleibt jedoch weitgehend ausgeblendet: der Irak. Nachdem im vergangenen Jahr nach neuem Urnengang schließlich auch eine neue Regierung zustande kam, scheint allen das Land auf dem besten Weg zu sein. Als neue Demokratie sei der Irak mit den unruhigen anderen Ländern der Region nicht zu vergleichen, meinen auch etliche Kommentatoren. Es sei naiv zu glauben, man müsse nur Wahlen abhalten, und schon bekomme man Demokratie, stellte hingegen der britische Premier David Cameron auf der diesjährigen Münchner "Sicherheitskonferenz" in einem Anflug von Weitsicht fest. Er sprach jedoch nicht über Irak oder Afghanistan, sondern über Ägypten, wo voreilige Wahlen die falschen Ergebnisse brächten.

Es sei naiv zu glauben, man müsse nur Wahlen abhalten, und schon bekomme man Demokratie, stellte hingegen der britische Premier David Cameron auf der diesjährigen Münchner "Sicherheitskonferenz" in einem Anflug von Weitsicht fest. Er sprach jedoch nicht über Irak oder Afghanistan, sondern über Ägypten, wo voreilige Wahlen die falschen Ergebnisse brächten.


Doch in der Tat sind im Irak die regelmäßigen Wahlen im Grunde das einzige, was an Demokratie erinnert. Auch im Irak herrscht ein brutales, autoritäres und korruptes Regime. Im Unterschied zu den anderen arabischen Ländern steht hinter diesem jedoch noch eine militärische Besatzungsmacht.

Die Besatzung, der anhaltende Krieg gegen den Widerstand, Terror sunnitischer Extremisten und die sektiererische Gewalt schiitischer, teils regierungsnaher Milizen haben kaum demokratische Spielräume entstehen lassen. Viele oppositionelle Persönlichkeiten mussten fliehen, wurden getötet oder verschwanden in den US-amerikanischen und irakischen Kerkern. Dennoch entwickelte sich eine immer stärker werdende zivile Opposition gegen die US-Besatzung und das von ihr geschaffene Regime. Auch deren, meist junge, Aktivisten gingen, befeuert von den Aufständen in Tunesien und Ägypten, in den letzten Wochen auf die Straße. Am 25. Februar, dem ersten irakischen "Tag des Zorns" gingen Zigtausende Irakerinnen und Iraker in Dutzenden Städten auf die Straße und erzwangen u. a. den Rücktritt mehrerer Gouverneure.

Eine der Säulen dieses zivilen Widerstands gegen die Besatzung und die US-amerikanischen Pläne für das Land sind die neu entstandenen unabhängigen Gewerkschaften. Obwohl sie auch nach Einführung einer neuen Verfassung und gewählter Regierungen keinen legalen Status erhielten, wurden sie doch weitgehend toleriert und oft auch als Verhandlungspartner anerkannt. Ein direktes Vorgehen gegen Gewerkschaften hätte nicht nur das Bild einer sich entwickelnden Demokratie getrübt. In Zeiten eines wachsenden militärischen Widerstands bestand die reale Gefahr, dass ein Teil selbst in den Untergrund gehen würde. Auch die ursprünglich angestrebte rasche Privatisierung der großen Staatsbetriebe, die den Kern der irakischen Wirtschaft bilden, wurde aus diesem Grunde vorerst aufgeschoben. Die starken unabhängigen Gewerkschaften trugen vor allem maßgeblich dazu bei, dass die Verabschiedung eines neuen Ölgesetzes, das Privatisierungen in der Ölproduktion ermöglichen würde, seit Jahren blockiert ist.

Nachdem der bewaffnete Widerstand eingedämmt und die konfessionell geprägte Gewalt abgeebbt war, starteten Regierung und Besatzer einen neuen Anlauf, ausländischen Konzernen breiten Zugang zur irakischen Wirtschaft zu verschaffen. So wurden in großen, öffentlichen Auktionen milliardenschwere Serviceaufträge für die riesigen irakischen Ölfelder an ausländische Ölkonzerne versteigert und die ersten zehn staatlichen Konzerne für ausländische Investoren geöffnet. Zur selben Zeit begann die Regierung auch verstärkt gegen die unabhängigen Gewerkschaften vorzugehen.


Schließung von Gewerkschaften

Am 21. Juli stürmte die Polizei die Büros der Irakischen Elektrizitätsgewerkschaft (General Union of Iraq Electricity Workers and Technicians - GUEWT) in Basra. Sie teilte Hashmeya Muhsin, der ersten Frau, die eine nationale Gewerkschaft im Irak leitet, mit, dass sie auf Anweisung des Elektrizitätsministers Hussain al Shahristani die Gewerkschaftsbüros schließen müssten. (1)

Shahristani, der das Amt kurz zuvor zusätzlich zu dem des Ölministers übernommen hatte, hatte per Erlass alle Gewerkschaftsaktivitäten in den Werken, die dem Elektrizitätsministerium unterstehen, verboten. [Diese zählen schon immer zu den Hochburgen der irakischen Gewerkschaftsbewegung.] Er verfügte die Schließung der Büros der Gewerkschaften und die Beschlagnahmung ihres gesamten Vermögens, von Bankkonten bis zu den Möbeln. Die Gewerkschafter wurden gleichzeitig gewarnt: "Drohungen mit Gewalt" oder "Sabotage" - worunter auch Blockaden und Betriebsbesetzungen gezählt werden - würden "wie Terrorismus geahndet" und auf Basis des Anti-Terror-Gesetzes von 2005 abgeurteilt werden. (2)

Zuvor war Shahristani bereits gegen die Gewerkschaften der Öl- und Hafenarbeiter vorgegangen. Diese waren Anfang des Jahres erneut für bessere Arbeitsbedingungen und Bezahlung, für die Modernisierung der Anlagen und die Legalisierung der Gewerkschaften auf die Straße gegangen und hatten u.a. auch die Raffinerie in Basra bestreikt.(3) Die Regierung setzte Militär gegen sie ein, ließ eine Reihe von Gewerkschaftsführern festnehmen und verbannte andere auf Arbeitsplätze, die Hunderte Kilometer entfernt sind.

Am 1. Juni wurden zwei der prominentesten irakischen Gewerkschafter, Hassan Juma'a Awad und Faleh Abood Umara verhaftet, die zusammen die Irakische Föderation der Ölgewerkschaften (Iraqi Federation of Oil Unions - IFOU) leiten. Sie wurden erst nach zwei Tagen gegen Kaution bis zum Prozess gegen sie freigelassen. Den beiden wurde vorgeworfen, sie würden die Arbeiter drängen, sich gegen die Führung der staatlichen Southern Oil Company zu stellen sowie auch die "Öffentlichkeit gegen die Pläne des Ölministeriums" aufbringen "und dessen Ambitionen, den Ölreichtum mit Hilfe ausländischer Firmen zu erschließen", so der Sprecher des Ölministeriums Assam Jihad. Außerdem hätten sie Drohungen an ausländische Konzerne gerichtet, die sich im Ölsektor engagieren wollen, und damit die wirtschaftlichen Interessen des Landes geschädigt. (4)

Parallel dazu ging die Regierung auch gegen die Docker vor, die in den Häfen im Süden Basras mit diversen Aktionen die Anerkennung ihrer Gewerkschaft einforderten. Die kampfstarke Hafenarbeitergewerkschaft hat sich seit 2003 ebenfalls sehr erfolgreich gegen Privatisierungsversuche in ihrem Bereich, den großen Häfen und Ölterminals, gewehrt. Auch gegen sie wurde die Armee eingesetzt und ihre Führer wurden ebenfalls an weit entfernte Arbeitsplätze transportiert.


Stärke Gewerkschaften trotz bleibendem Verbot

Offensichtlich soll die Arbeiterbewegung Iraks ausgeschaltet werden, um ein Umfeld zu schaffen, in dem die großen ausländischen Ölgesellschaften frei agieren und die irakische Regierung weitere marktbasierte Reformen einführen kann, vermutet der Journalist, Fotograf und internationale Gewerkschaftsaktivist David Bacon, der sich im August 2010 in einem Artikel ausführlich der massiven Repressionswelle widmete.(5)

Nach der US-Invasion hofften viele Iraker, dass sie von nun an wenigstens wieder unabhängige Gewerkschaften aufbauen könnten. Doch die massiven Einschränkungen ihrer Tätigkeit, die die Baath-Regierung während des Krieges gegen den Iran anordnete, blieben in Kraft. Das 1987 erlassene "Gesetz 150" verbietet gewerkschaftliche Aktivitäten in allen staatlichen Betrieben, d. h. dem größten Teil der irakischen Industrie. Der US-Statthalter der ersten Besatzungsphase, Paul Bremer, setzte zwar mit seinen Erlassen alle Gesetze außer Kraft, die die heimische Wirtschaft vor Ausverkauf und Billigkonkurrenz schützten, ließ aber das "Gesetz 150" in Kraft, senkte die Löhne und strich staatliche Zuschüsse für Nahrung und Wohnung.

Im Widerstand gegen diese Zumutungen und gegen die ersten Privatisierungsversuche entwickelten sich dennoch rasch neue kampfstarke Gewerkschaften, die das fortbestehende Organisationsverbot ignorieren - allen voran die Gewerkschaften der Ölarbeiter. Ausgehend von der Gewerkschaft der Südlichen Ölgesellschaft entstand zunächst die Allgemeine Gewerkschaft der Beschäftigten im Ölsektor GUOE und durch Vereinigung mit weiteren Gewerkschaften aus der Öl-Branche die Irakische Föderation der Ölgewerkschaften IFOU. In dieser sind mittlerweile über 26.000 Beschäftigte aus allen zehn irakischen Konzernen organisiert, die im Südirak den Ölsektor bilden.(6) Die IFOU ist parteipolitisch und weltanschaulich neutral, zum Grundkonsens der Gewerkschaft gehört aber die prinzipielle Ablehnung der militärischen und wirtschaftlichen Besatzung des Landes sowie jegliche Form der Privatisierung von Ölförderung und großer Industriebetriebe.(7)

Der erste große Erfolg gelang den Ölarbeitern bereits im August 2003 als sie den Einstieg der Halliburton-Tochter Kellogg, Brown & Root (KBR) ins irakische Ölgeschäft verhinderte. Diese hatte von der Besatzungsbehörde einen Instandsetzungsvertrag für ein Ölfeld in der Nähe von Basra erhalten und wollte dazu trotz 70-prozentiger Arbeitslosigkeit im Irak 1200 asiatische Billiglohnarbeiter einsetzen. Die Gewerkschafter verwehrten KBR-Arbeitern den Zutritt und trotzten dabei auch Panzern, die die Besatzungsmacht auffahren ließ.(8) In einem dreitägigen Streik gelang es ihnen schließlich KBR zum Ausstieg aus dem Geschäft zu zwingen.(9) In ähnlicher Weise zwangen die Hafenarbeiter 2003 und 2004 die Unternehmen Maersk und Stevedoring Services of America durch Arbeitsniederlegungen in den Öl-Verlade-Häfen von Umm Qasr zum Rückzug aus der Hafenanlagenverwaltung, die die Besatzer privatisieren wollten.(10) Durch eine Serie von Streiks gelang es den Ölarbeitern schließlich auch die von US-Statthalter Bremer verfügten drastischen Lohnkürzungen rückgängig zu machen.

Im Mai 2005 organisierte die Gewerkschaft in Basra eine viel beachtete Konferenz gegen die Privatisierung des öffentlichen Sektors, auf der irakische Experten und Aktivisten und auch namhafte internationale Fachleute sprachen.(11) Im Juni folgte ein 24-stündiger Streik von 15.000 Ölarbeitern, mit der sie die Forderung des Gouverneurs von Basra an Bagdad unterstützten, einen höheren Anteil der Öleinnahmen in die Wiederherstellung der Infrastruktur der Region und die Gesundheitsversorgung zu investieren sowie für Arbeitsplätze und eine ausreichende Ernährung zu sorgen. Der Streik brachte den Ölexport praktisch zum Erliegen.(12)

Schlagzeilen machte auch ein längerer Streik 2007 für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen sowie gegen den Entwurf eines neuen Ölgesetzes, das den Einstieg ausländischer Öl-Multis in die Ölproduktion via Production Sharing Agreements des Landes ebnen sollte. Auch damals ließ Maliki bereits die Ölarbeiter von Armeeinheiten umzingeln und Haftbefehle gegen Gewerkschaftsführer ausstellen.(13)

Die IFOU arbeitet eng mit der Föderation der Arbeiterräte und Gewerkschaften im Irak (FWCUI) zusammen, zu der auch die sehr rührige Arbeitslosengewerkschaft gehört. Die FWCUI steht der Kommunistischen Arbeiterpartei nahe und ist wie die IFOU eine entschieden Gegnerin der US-Präsenz, des unter der Besatzung eingerichteten Regimes und aller Privatisierungsbestrebungen.

Auch die ihr angehörende Elektrizitätsarbeiter-Gewerkschaft war von den Verfügungen und Büro-Schließungen im Juli 2007 betroffen.

Die unabhängigen Gewerkschaften wurden auch ohne legalen Status zu einer der stärksten säkularen, nationalistischen, d. h. gegen Besatzung und Ausverkauf gerichteten Kräfte im Irak. Sie sind die größten, nicht ethnisch oder konfessionell orientierten Organisationen und zählen zu den führenden Kräften, die sich für allgemeine wirtschaftliche Verbesserungen, ausreichende Dienstleistungen etc. einsetzen.

Es gibt daneben auch Gewerkschaften, die Regierungsparteien nahestehen. Der von der irakischen Kommunisten Partei und Ijad Allawis Partei Wifaq dominierte Irakische Gewerkschaftsbund IFTU vereinigte sich mit den Resten der baathistischen Einheitsgewerkschaft GFTU zum Allgemeinen Bund irakischer Arbeiter (General Federation of Iraqi Workers GFIW). Als faktischer Nachfolger der alten Einheitsgewerkschaft ist er als einzige Gewerkschaftsorganisation offiziell anerkannt und auch in den internationalen Gewerkschaftsorganisationen gut vertreten.(14) Er spielt zuhause aber - mit Ausnahme einzelner Mitgliedsgewerkschaften, wie Muhsins Elektrizitätsgewerkschaft - eine untergeordnete Rolle bei den Auseinandersetzungen. Er ist durch den Einfluss der Parteien fest in den, von der Besatzungsmacht initiierten, "politischen Prozess" eingebunden. Auch wenn es heftige Differenzen bezüglich der Beteiligung an dem von den Besatzern initiierten "politischen Prozess" gibt, arbeiten die im GFIW zusammengeschlossenen Gewerkschaften mit der IFOU und anderen unabhängigen Gewerkschaften auf vielen konkreten Gebieten zusammen. Eine gemeinsame Erklärung zum 1. Mai hat bereits Tradition.(15)


Massenproteste gegen miserable Stromversorgung

Zugespitzt hatte sich der Konflikt zwischen Regierung und Gewerkschaften, als das Ölministerium 2009 begann, über große Auktionen Serviceaufträge in Milliardenhöhe an ausländische Konzerne zu vergeben und die Gewerkschaften entschiedenen Widerstand gegen deren Einstieg in die Ölförderung ankündigten.(16) Er verschärfte sich im Sommer 2010 im Zuge der massiven, von den Gewerkschaften mitorganisierten Protesten gegen die miserable Versorgung mit Strom und Trinkwasser, die zum Rücktritt des Elektrizitätsministers, Karim Waheed führten. Die kommissarische Regierung stoppte schließlich weitere Demonstrationen mit strengen Restriktionen, die einem faktischen Verbot gleichkamen, und der Androhung von Gewalt. Kurz darauf wurden auch die Gewerkschaften, die an den Demonstrationen beteiligt waren, verboten. Der Entwurf eines neuen Arbeitsgesetzes, der u. a. gewerkschaftliche Rechte vorsah, die den Richtlinien der Internationalen Arbeitsorganisation entsprechen, wurde vom Kabinett verworfen.(17)


Freie Bahn für ausländische Konzerne

Das Timing legt nahe, dass die unabhängigen Gewerkschaften im Irak ausgeschaltet werden sollen, um ein Umfeld zu schaffen, in der die ausländischen Ölkonzerne frei agieren und weitere Privatisierungsschritte durchgeführt werden können. Die ersten Verträge für die versteigerten Serviceaufträge waren mittlerweile unter Dach und Fach, ein von BP und der chinesischen CNPC geführtes Konsortium, hatte begonnen, konkrete Arbeitsaufträge für das riesige Rumaila-Ölfeld an Subunternehmen zu vergeben. Am 20. Oktober versteigerte die amtierende Regierung, trotz der massiven Proteste von Provinzregierungen, Abgeordneten und Gewerkschaften, auch noch Serviceverträge für drei Gasfelder an ausländische Unternehmen.(18) Das irakische Wirtschaftsministerium hat zudem begonnen, ausländischen Firmen den Einstieg in die ersten staatlichen Konzerne über die umstrittenen Production Sharing Agreements (PSA) anzubieten. Es ist der dritte Anlauf seit 2003, eine größere Zahl von Staatsbetrieben zu privatisieren.(19) Parallel dazu haben US-amerikanische Großkonzerne Gespräche mit der irakische Regierung und der Besatzungsmacht über Aufträge für den geplanten Ausbau von Häfen, Kraftwerken, Strom- und Telefonnetzen aufgenommen - Gesamtvolumen 80 Mrd. Dollar. Die US-Firmen dürften auch davon wieder den Löwenanteil einstecken.


Internationale Solidarität mit irakischen Gewerkschaften

Hashmeya Muhsin, die Führerin der Elektrizitätsgewerkschaft vermutet, dass der ständige Zusammenbruch der Stromversorgung und die Repression dazu bestimmt sind, eine Atmosphäre der Verzweiflung zu schaffen. "Die Regierung glaubt, dass wenn die Leute nur genügend verzweifelt sind, sie alles akzeptieren werden, um Strom zu bekommen, auch Privatisierung", so Muhsin. "Sie weiß, wir würden das nicht akzeptieren, daher will sie uns lähmen."(20)

Die Gewerkschafter haben sich vom Verbot und der Repression aber nicht einschüchtern lassen. Wenige Tage nachdem Hashmeya Muhsin aus ihrem Büro geworfen wurde, traf sie sich mit Vertretern der Ölarbeiter und anderer Gewerkschaften, um sich gemeinsam gegen die Regierungsmaßnahmen zu wehren. Sie gründeten ein "Vereinigtes Komitee zur Verteidigung der Gewerkschaftsrechte im Irak". Eine Reihe britischer und US-amerikanische Gewerkschaften sowie internationale Gewerkschaftsorganisationen, wie die International Federation of Chemical, Energy, Mine and General Workers' Unions (ICEM), solidarisierten sich mit den irakischen Kollegen und protestierten in Briefen an die irakische und ihre eigene Regierung gegen die Missachtung der Gewerkschaftsrechte. Der britische Gewerkschaftsbund TUC startete eine Kampagne auf dem Portal www.labourstart.org

Ende Dezember richteten Hashmeya Muhsin und Hassan Juma'a Awad an die Delegierten der Open World Conference in Algerien einen "Appell zur Unterstützung von Arbeiterrechten im Irak und den sofortigen Rückzug aller ausländischer Besatzungstruppen und Söldner aus dem Irak", der breite Unterstützung fand. (21)


Irakische "Tage des Zorns"

Obwohl der hohe Ölpreis die Öleinnahmen auf 40 bis 50 Milliarden Dollar klettern ließ,(22) hungern Millionen Iraker. Die Hälfte der knapp 30 Millionen Einwohner lebt nach offiziellen Angaben in äußerster Armut, sieben Millionen sogar unterhalb des Existenzminimums von zwei US-Dollar pro Tag.(23) Einem Bericht des Internationalen Roten Kreuzes zufolge haben 55 Prozent der Bevölkerung keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser und sind nur noch 20 Prozent der Wohnungen an ein funktionierendes Abwassersystem angeschlossen.(24) Auch Strom gibt es nach wie vor nur stundenweise, die einst vorbildlichen Gesundheits- und Bildungssysteme liegen am Boden.(25)

Angesichts der allgemeinen Misere ist es wenig verwunderlich, dass die Aufstände in Tunesien und Ägypten auch die Iraker zu erneuten Protestaktionen anfeuerten. In Bagdad, Basra, Mosul, Nadschaf, Kerbala, Kut, Ramadi, Amara wie auch in der kurdischen Provinzhauptstadt Sulaimaniyya und zahlreichen weiteren Städten im ganzen Land gingen seither Zigtausende für eine bessere Versorgung, Wiederherstellung staatlicher Dienstleistungen, mehr Arbeitsplätze etc, auf die Straße und setzten Regierung und lokale Autoritäten erheblich unter Druck.

Das Regime reagiert entsprechend brutal. Bereits bei den ersten Demonstrationen Anfang Februar gab es Tote und Verletze. Wie in den anderen Ländern fachte die Repression die Proteste nur noch weiter an. Vielerorts stürmten wütende Demonstranten Regierungsgebäude und Polizeiwachen und forderten die Absetzung der lokalen Autoritäten oder der Provinzregierung. Proteste richteten sich auch gegen willkürliche Festnahmen und die Misshandlung von Inhaftierten, verbunden mit der Forderung nach Freilassung der politischen Gefangenen und Zugang zu den Geheimgefängnissen.

Ein erster Höhepunkt war der 25. Februar, der von einer breiten Bewegung zum "Tag des irakischen Zorns" ausgerufen worden war. Detailliert werden die Forderungen nach besseren Dienstleistungen, Arbeitsplätzen und einem Ende der Korruption beschrieben. Die ersten Forderungen zielen jedoch auf das Ende der Besatzung und des von ihr geschaffenen Systems. "Viele unserer Generation sind gestorben, um dieses Landes zu befreien, Hunderttausende unserer Generation wurden aggressiv und willkürlich festgenommen; Wir werden unseren Protest fortsetzen."(26)

Trotz Fahrverboten und Ausgangsperren protestierten Zehntausende Irakerinnen und Iraker in Dutzenden Städten. Allein im kurdischen Sulaimaniyya waren es rund 40.000. Die Polizei, Armee und regierungsnahe Milizen gingen vielerorts mit äußerster Härte gegen die Demonstranten vor. Mindestens 29 wurden erschossen und Hunderte verwundet.(27)

Immerhin zeigen die Proteste bereits Wirkung. Premierminister Nouri al-Maliki kündigte rasch an, keine dritte Amtszeit anzustreben und sein Salär, das auf bis zu 700.000 Dollar jährlich geschätzt wird, zu halbieren.(28) Die monatlichen Nahrungsmittelhilfen kamen für Februar pünktlich, zusätzlich erhält jeder Haushalt umgerechnet zwölf Dollar als Entschädigung für die massive Kürzung der Rationen im letzten Jahr. Die ersten 1.000 Kilowattstunden Strom in jedem Monat sollen künftig für alle Haushalte gratis sein.(29) Auch die Gewerkschaften beteiligten sich selbstverständlich an den Demonstrationen. Zudem gab es auch eine Reihe von Streiks und Protestaktionen in Fabriken. Gestreikt wurde z. B. in der Lederindustrie in Bagdad und in einer Textilfabrik in Kut. Die stärksten Arbeiterproteste gab es in der Nördlichen Ölgesellschaft in Kirkuk und den Elektrizitätswerken in Basra. Die ICEM solidarisierte sich sogleich auch mit diesen Protestaktionen, die, so ICEM, daran erinnern, dass im Irak "Demokratie - oder wenigstens eine funktionierende Regierung mit funktionierenden bürgerlichen Gesetzen und Institutionen - noch nicht Wirklichkeit wurde."(30)


Joachim Guilliard, Heidelberg, Publizist


Anmerkungen:

(1) Hashmeya Muhsin, Ministry of Electricity Decree Orders Destruction of Electricity Union in Iraq, USLAW, 22.7.2010

(2) Ben Lando, Shahristani clamps down on electricity unions, Iraq Oil Report, 26.7.2010

(3) Workers strike and demonstrate in Basra, Iraq Oil Report, 23.3.2010

(4) Union leaders taken to court for oil sector dissent, Iraq Oil Report, 2.7.2010

(5) "Is the US Pulling the Flug on Iraqi Workers?", truthout, 27.8.2010

(6) Benjamin Isakhan, The Streets of Iraq: Protests, the Public Sphere and Democracy, Australasian Political Studies Association (APSA) Conference, 2009.

(7) siehe auch Joachim Guilliard, "Gewerkschaften im Irak", im Reader für die geplante Tour irakischer Gewerkschaften 2005:
http://www.labournet.de/internationales/iq/2005tourreader_auswahl.pdf

(8) Greg Muttitt, Resisting the economic war in Iraq, Corporate Watch, Newsletter Issue 23 April/May 2005

(9) David Bacon, Iraqi Labor's Resistance,

(10) Simon Fuchs, Gewerkschaften: Die verbotene Macht, WPI, 14.04.2009

(11) Iraq oil workers fight privatisation, basraoilunion.org, 16.7.2005

(12) Iraqi Oil Workers Hold 24-Hour Strike - Oil Exports Shut Down, ZNet, 22.7.2005

(13) Ben Lando, Oil strikers met by Iraqi troops, UPI, 6.6.2007, Global Solidarity for Striking Iraqi Oil Workers, Solidarity Center, Juni 2007

(14) 2010 Annual Survey of violations of trade Union rights - Iraq, international Trade Union Confederation, 9.6.2010

(15) May Day 2008 Statement from the Iraqi Labour Movement, USLAX (US Labor Against War) 29.4.2008

(16) siehe meinen ausführlichen Artikel Irak: Im Clinch ums Öl, "IMI-Analyse 2009/035" im Magazin AUSDRUCK August 2009 der Informationsstelle Militarisierung IMI.

(17) A Brief Explanation of the new Labour Law, by Talal Sabih Shawqi, General Manager of the Law Department and member of the Planning Committee for the Constitution

(18) Iraq Successfully Auctions Off Three Gas Fields, Musings, 22.10.2010

(19) Iraq Attempting To Privatize Its State-Run Businesses Once Again, Musings, 22.10.2010

(20) David Bacon, Unionbusting, Iraqi-Style, The Nation, 6.10.2010

(21) Appeal in Support of Labor Rights in Iraq, for the immediate Withdrawal of all Foreign Occupation Troops and Military Contractors from Iraq, Open World Conference, 26.12.2010

(22) Iraq 2010 Oil Exports Down 0.8% On Year - Oil Minister, Investors Iraq Forum, 26.1.2011

(23) 7 million Iraqis exist below poverty line, Azzaman, 9.4.2010. siehe auch den detaillierten, allerdings überwiegend auf offiziellen irakischen Zahlen beruhenden Bericht des UN Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (OCHA) im "Consolidated Appeal for Iraq and the Region 2009" v. 19.11.2009

(24) Iraq: coping with violence and striving to earn a living, ICRC, 30.03.2010

(25) siehe z. B.: Iraq's once-envied health care System lost to war, corruption, McClatchy Newspapers, 18.5.2009

(26) Engl. Übersetzung, Ihab G. Taha (The Iraqi Revolution), "OUR DEMANDS", 27.2.2011

(27) At least 29 dead in Iraq protests, UPI, 27.2.2011

(28) Clamor for change now reaches Iraq, Los Angeles Times, 6.2.2011

(29) Iraq subsidises power after protests over services, Reuters, 12.2.2011

(30) Trade Union Protests in Iraq Signal Continued Political Instability, ICEM, 28.2.201


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Inhaltsverzeichnis - inamo Nr. 65, Frühjahr 2011

Gastkommentar
- Wie gefährdet ist die Revolution in Ägypten? Von Mamdouh Habashi

Ägypten
Die Institutionalisierung der Revolution: Regimewandel in Ägypten, von Holger Albrecht
Das jähe Ende von Mubaraks Corny Capitalists - Großunternehmer und die Revolution, von Torsten Matzke
Das Referendum, von Ivesa Lübben

Bahrain
- Abriss oder Renovierung? Opposition in Bahrain, von Sabine Damir-Geilsdorf

Irak
- Auch im Irak wächst eine Protestbewegung, von Joachim Guilliard

Jemen
- ... ein letzter Tanz auf den Köpfen der Schlangen, von Mareike Transfeld

Libyen
- Omar Mukhtar, von Jörg Tiedjen
- Libyen auf Messers Schneide, von Nicolas Pelham
- Über Prinzipien und Risiken, von MERIP
- Libysche Entwicklungen, von Gilbert Achcar
- Der NATO-Eunsatz in Libyen ist (Öl-)interessengeleitet, von Andreas Buro und Clemens Ronnefeldt
- "Odysee-Morgendämmerung" oder "Trojanisches Pferd", von Djamel Labidi
- Bomben für die Menschenrechte? Daniel Mermet im Gespräch mit Rony Brauman

Syrien
- Asads verpasste Gelegenheiten, von Carsten Wieland

Tunesien
- Die Demokratie nimmt Gestalt an, von Werner Ruf

Sudan
- Der neue Nordsudan - kommt nach der Landesspaltung der Volksaufstand? von Roman Deckert und Tobias Simon

Westsahara
- Die MINURSO wird 20 Jahre, von Axel Goldau

Kultur
- Cinema Jenin und kein Frieden, von Irit Neidhardt

Wirtschaftskommentar
- Irak: Mangelversorgung trotz Ölreichtum, von Joachim Guilliard

Zeitensprung:
- Besetzung des Golan 1967: "Wir träumen von Freiheit", von Taiseer Maray

ex mediis
Abdullah Öcalan: Verteidigungsschriften /
Holger Albrecht (Hg.): Contentious Politics in the Middle East /
Christopher A. Preble: The Power Problem /
David Hirst: Beware of Small States /
Race & Class: "Foreign Prisoners" in Europe /
Moshe Zuckermann: "Antisemit"
von Werner Ruf, Thomas Demmelhuber, Malcolm Sylvers, Dagmar Schatz, Tamar Amar-Dahl

Nachrichten/Ticker


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Quelle:
INAMO Nr. 65, Jahrgang 17, Frühjahr 2011, Seite 16-19
Berichte & Analysen zu Politik und Gesellschaft des Nahen und Mittleren Ostens
Herausgeber: Informationsprojekt Naher und Mittlerer Osten e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Juni 2011