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NAHOST/840: Nahost-Konflikt im Zwischenraum (Agora - Uni Eichstätt-Ingolstadt)


Agora - Magazin der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, Ausgabe 1 - 2011

Nahost-Konflikt im Zwischenraum

Von Katharina Abdo


Vor neun Jahren begann Israel mit dem Bau einer Sperranlage zum Westjordanland. Die scheinbar deutliche Trennung erweist sich im Alltag jedoch als eine Gemengelage von vielschichtigen Wechselbeziehungen. Ein Linie, an der sich die Widersprüchlichkeit des Nahost-Konfliktes zeigt.


Der Nahostkonflikt ist in zahlreiche geopolitische Diskurse eingebunden. Dabei spielen territoriale Fragen sowie die Aufteilung von Land eine zentrale Rolle. Seit 2002 errichtet Israel eine Sperranlage zum Westjordanland. Durch den Bau dieser Grenzbefestigung, die teils als Mauer, teils als Zaun errichtet wird, werden Objekte und Identitäten neu verortet, wodurch eine neue (Raum-)Ordnung entsteht. Ziel der Anlage ist die Verhinderung weiterer terroristischer Attentate auf israelischem Staatsgebiet. Laut dem israelischen Verteidigungsministerium handelt es sich um eine temporäre Maßnahme zum Schutz der israelischen Bevölkerung. Andere Akteure sehen in der Konstruktion hingegen eine weitere de facto Annexion von Land sowie ein Symbol der Besatzung und Unterdrückung. In einem Rechtsgutachten entschied der Internationale Gerichtshof 2004, dass alle Abschnitte östlich der Grünen Linie internationalem Recht widersprechen. Die Sperranlage ist in einen konstanten gesellschaftlichen Aushandlungsprozess und in unterschiedliche Deutungsmuster eingebettet. Die Vielzahl der sich zum Teil widersprüchlich gegenüberstehenden Positionen wird bereits bei der Bezeichnung der Sperranlage deutlich: sie wird als Sicherheitszaun, Anti-Terrorist-Fence, Apartheidswall, Barrier oder Mauer bezeichnet. Die Benennung ist dabei Teil der diskursiven Auseinandersetzung und Bestandteil der Konstruktion von Wirklichkeit. Um auf diese Tatsache auch im Sprachbild aufmerksam zu machen, werde ich im Folgenden von "Mauer-Zaun" sprechen.

Weil der Verlauf des Mauer-Zauns größtenteils östlich der international anerkannten Grünen Linie liegt, werden sich nach Fertigstellung ca. zehn Prozent des Westjordanlandes zwischen Mauer-Zaun und Grüner Linie befinden. Diese sogenannte Nahtzone (Seam Zone) ist durch den Mauer-Zaun physisch vom restlichen Westjordanland getrennt, gehört gleichzeitig aber auch nicht zu Israel und kann damit als ein »Ort außerhalb aller Orte«, als ein Ort heterotopen Charakters im Sinne Foucaults (1967) gefasst werden. Im Folgenden möchte ich näher auf einen dieser Grenzräume eingehen und die sozial-räumlichen Alltagspraktiken der palästinensischen Bevölkerung darstellen.

Die Nahtzone "Gush Etzion" liegt ca. 20 Kilometer südlich von Jerusalem und zehn Kilometer südwestlich von Bethlehem, sie befindet sich östlich der Grünen Linie. Laut den Plänen der israelischen Regierung soll dieses Gebiet physisch komplett abgeschlossen werden (s. Abb.1). Innerhalb dieser Nahtzone befinden sich zwölf israelische Siedlungen mit ca. 43 000 Einwohnern sowie vier palästinensische Dörfer (Battir, Husan, Nahhalin, Wadi Fukin) mit etwa 18 000 Einwohnern. Aufgrund ihrer nahen Lage zu Jerusalem haben die Siedlungen des Gush Etzion Blocks eine große strategische Bedeutung für Israel. Während die Siedlungen kontinuierlich expandieren, ist eine Erweiterung in den palästinensischen Dörfern hingegen meist nicht möglich, viel eher wurde durch mehrere Militärbefehle bereits Land der palästinensischen Dörfer für den Straßen- und Siedlungsbau sowie für den Bau des Mauer-Zauns enteignet.

Sowohl ein- als auch ausgemauert ist die dort lebende palästinensische Bevölkerung: Auf der westlichen Seite des Mauer-Zauns wohnend, gehört sie dennoch nicht zu Israel. Sie ist von Bethlehem als Versorgungszentrum abhängig. Nach Fertigstellung des Mauer-Zauns soll ein Tunnel unter der Road 60 die Verbindung auf die "andere" Seite des Mauer-Zauns ermöglichen. Durch ihre bloße Existenz auf der »falschen«, der »anderen« Seite unterminieren die palästinensischen Bewohner der Nahtzone die israelischen Sicherheitsargumente und stellen das territorial verhaftete Nationalstaatendenken in Frage. Folglich wird das Gebiet kontinuierlich mittels Überwachungskameras entlang der Grünen Linie sowie durch Militärpatrouillen überwacht. Die palästinensischen Dörfer befinden sich dabei in unmittelbarer räumlicher Nachbarschaft zu der israelischen Siedlung Beitar Illit (s. Abb.2). Durch diese Raum-Anordnung bewegen sich die Alltagshandlungen der palästinensischen Bevölkerung zwischen einer Vielzahl von Grenzen und Machtrelationen. Dabei stehen die Alltagspraktiken, wie landwirtschaftliche Tätigkeiten, Arbeitsbeziehungen und ökonomische Verbindungen, oft in Widerspruch zur politischen (Grenzziehungs-)Praxis. Um dies zu veranschaulichen, möchte ich auf die Beziehungen zwischen dem palästinensischen Dorf Husan und der israelischen Siedlung Beitar Illit eingehen. Das Gebiet der Siedlung Beitar Illit stellt einen überwachten Raum dar, der von anderen Räumen durch Zugangsvoraussetzungen und einen zum Teil bereits errichteten, zum Teil geplanten Sicherheitszaun entlang der Road 375 abgegrenzt wird. Ein willkürlicher und freier Austausch ist nicht erwünscht und wird durch Kontrollen am Eingangstor unmöglich gemacht.

Zunächst scheint das Alltagsleben dieser zwei Bevölkerungsgruppen getrennt zu sein und von konfliktiven Zusammenstößen dominiert zu werden. Da die Hälfte des Landes von Husan für den Siedlungsbau enteignet wurde, kommt es gelegentlich zu feindseligen und provokativen Auseinandersetzungen. Bei genauerer Betrachtungsweise ergibt sich jedoch zumindest teilweise ein anderes Bild: So finden auch alltägliche Geschäftsbeziehungen zwischen Husan und Beitar Illit statt. In einer Ausfallstraße Husans befinden sich mehrere Autoreparaturwerkstätten, die mit hebräischen Hinweisschildern explizit israelische Kunden ansprechen. Auch wenn die Reparatur israelischer Fahrzeuge in Gebieten der Palästinensischen Autonomiebehörde seit 2008 gesetzlich verboten und mit Geld- und Gefängnisstrafen geahndet wird, verzeichnen die Besitzer der Werkstätten dennoch Kunden aus der benachbarten Siedlung. Die israelischen Kunden begehen damit eine gesetzliche Grenzüberschreitung. Ebenso gibt es aber auch alltägliche Verbindungen palästinensischer Bauern aus Husan nach Beitar Illit. Da sich innerhalb dieses Gebietes auch landwirtschaftlich genutzte Flächen befinden, die in Privatbesitz palästinensischer Bauern sind, kommt es auch hier zur Überlagerung von Alltagsräumen. Um zu ihren Feldern zu gelangen, müssen die palästinensischen Bauern die Kontrollstation am Eingang der Siedlung durchqueren. Da ihnen hier der Zugang auch untersagt werden kann, entstehen asymmetrische Machtbeziehungen. Darüber hinaus gibt es auch illegale Grenzüberschreitungen über die Grüne Linie; trotz der intensiven Überwachung gehen palästinensische Bewohner nachts über die Grenze, um in Israel zu arbeiten.

Die Bevölkerung der Nahtzone ist somit stets an der Grenzarbeit beteiligt: durch das Alltagshandeln werden (räumliche) Differenzierungen (re-)produziert, zum Teil aber auch aufgehoben oder in Frage gestellt. Folglich sind die Aktivitätsräume der palästinensischen Bevölkerung und der Bewohner der israelischen Siedlung in der Nahtzone nicht strikt voneinander getrennt, sondern vielfach durch grenzüberschreitende Verbindungen miteinander verwoben. Die Bewohner der Nahtzone werden zu "Grenzgängern", die die Notwendigkeit relationalen Denkens im Sinne einer "Gleichzeitigkeit von Verbindung und Abgrenzung" sichtbar machen. Sie stellen unser dichotomes Denken in Frage, indem sie scheinbar klare Grenzen und binäre Ordnungsmuster verwischen und aufheben. Der von mir interviewte palästinensische Werkstattbesitzer verortet den Siedler im Außen, indem er ihn als Aggressor beschreibt und inkludiert ihn gleichzeitig als Kunde. So befindet er sich im Innen und Außen, im sowohl-als-auch. Auch in der Erzählung über seine eigene Position verbindet der Werkstattbesitzer Kooperation und Provokation. Grenzüberschreitungen können somit auch als "Akt der Subversion binärer Codierungen" beschrieben werden, die "Orte der Heterogenität" erzeugen. Die heterogenen Orte der Nahtzone beinhalten jedoch ein Machtgefälle, durch das asymmetrische Beziehungen entstehen. So kann der Siedler zwar sowohl Kunde als auch Aggressor sein, umgekehrt ist es jedoch kaum möglich, dass Palästinenser als Kunde in die Siedlung können.

Der Mauer-Zaun kann zunächst als Versuch angesehen werden, Ordnung in das widersprüchliche Nebeneinander des Nahostkonflikts zu bringen, in dem er eine klare räumliche Trennung schafft. Bei einer genaueren Betrachtung zeigt sich allerdings, dass der Mauer-Zaun keine eindeutige binäre Trennung zwischen innen und außen, westlich und östlich, sicher und unsicher aufbauen kann. Vielmehr wird deutlich, dass sich die Räume, die er trennt, durch zahlreiche Wechselbeziehungen über lagern und ineinandergreifen. Durch die Nahtzone werden die Vervielfältigung von Raum sowie die Kontingenz jeglicher Grenzziehung besonders anschaulich. Die Nahtzone wird durch das Alltagshandeln der Bevölkerung gleichzeitig zu einem Ort des Austauschs und des Konflikts, zu einem Ort, an dem sich die Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit des Nahostkonflikts materialisiert.


Katharina Abdo schrieb ihre Diplomarbeit am Lehrstuhl für Kulturgeographie über Grenzziehungsprozesse und Raumkonstruktionen am Mauer-Zaun. Während einer Feldforschung hat sie in palästinensischen Dörfern episodische Interviews und ethnographische Beobachtungen durchgeführt. Für ihre Arbeit wurde sie beim vergangenen Dies academicus mit dem Preis der Eichstätter Universitätsgesellschaft ausgezeichnet. Sie ist nun wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Mainz.


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Quelle:
Agora - Magazin der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt
Ausgabe 1/2011, Seite 28-29
Herausgeber: Der Präsident der Katholischen Universität,
Prof. Dr. Andreas Lob-Hüdepohl
Redaktion: Presse- und Öffentlichkeitsreferat der KU,
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Juli 2011