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NAHOST/853: Marokko - Monarchie am Scheideweg, Verfassungsreform reicht Opposition nicht aus (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 5. August 2011

Marokko: Monarchie am Scheideweg - Verfassungsreform reicht Opposition nicht aus

Von Abderrahim El Ouali


Casablanca, 5. August (IPS) - Mit wirtschaftlichen und sozialen Reformen will das Königreich Marokko der Protestbewegung den Wind aus den Segeln nehmen. Für Oktober sind außerdem vorgezogene Neuwahlen angesetzt. Oppositionelle fragen sich allerdings, wie lange Staatsoberhaupt Mohammed VI. die Folgen des 'arabischen Frühlings' politisch überleben wird.

Dabei ist am 1. Juli eine Verfassungsänderung in Kraft getreten, die die Macht des Königs über Legislative und Exekutive beschneidet. Nach den nächsten Wahlen wird ein von der größten Parlamentsfraktion gewählter Präsident an der Spitze der Regierung stehen, der alle hochrangigen Regierungsbeamten ernennen und absetzen kann. Über die Oberkommandierenden des Militärs entscheidet dagegen weiterhin der König. Die Gesetzgebung liegt künftig allein in der Befugnis des Parlaments.

Bislang haben die Unruhen in der arabischen Welt in Marokko ein eher bescheidenes Echo gehabt. Die meisten Regierungskritiker fordern statt der bisherigen konstitutionellen eine Form der parlamentarischen Monarchie, in der der König weiterhin eine dominante Stellung, aber keine Regierungsgewalt mehr hätte.

Einigen Oppositionellen genügt das aber nicht. "Unsere Revolution geht weiter. Das Volk wird über das Schicksal des Regimes entscheiden", sagte Hamza Mahfoud, einer der Anführer der Bewegung des 20. Februar, im Gespräch mit IPS.


Macht des Königs soll weiter beschnitten werden

Die Anhänger der von unabhängigen Aktivisten gegründeten Bewegung versammeln sich weiterhin jeden Sonntag, um durchzusetzen, dass der König nur noch eine repräsentative Funktion innehält. "Die neue Verfassung ist nur ein Trick, um die vom Volk formulierten Forderungen nach Demokratie, Freiheit und Würde zu umgehen", meinte Mahfoud.

Anderer Meinung ist der Politologe Driss Lagrini von der Al Kadi Iyad-Universität in Marrakesch. In der geänderten Verfassung seien die Freiheitsrechte gestärkt worden, erklärte er. Die neue Verfassung wurde Anfang März von einem Ausschuss entworfen, dessen 19 Mitglieder alle vom König ernannt wurden.

Am 20. Februar hatten in dem nordafrikanischen Land nach offiziellen Angaben rund 50.000 Menschen auf den Straßen demonstriert, um die Einführung einer parlamentarischen Monarchie zu fordern. Den Organisatoren zufolge waren es sogar mehrere Hundertausende.

Nach marokkanischem Recht steht auf ungenehmigte Demonstrationen eine Haftstrafe von bis zu fünf Jahren. Doch anstatt die Polizei einzusetzen, wies die Regierung das staatliche Fernsehen dazu an, über die Forderungen zu berichten. Viele sahen darin eine Kompromissbereitschaft der politischen Führung und sprachen von einer "marokkanischen Ausnahme".

Mahfoud glaubt daran jedoch nicht. "Alle arabischen Regime begehen Verbrechen an ihren Bürgern", erklärte er. Die einzige Ausnahme in Marokko bestehe darin, dass die Regierung scheinheilig sei. Die Protestbewegung werde diese Verlogenheit aufdecken.

Die Toleranz, die die Regierung am 20. Februar gegenüber den Demonstranten zeigte, hielt nicht lange an. Am 13. März ging die Polizei gewaltsam gegen die Protestierenden vor. Dabei wurden Hunderte Menschen verletzt. Ähnliche Zusammenstöße ereigneten sich am 22. und 29. Mai, als ein Demonstrant getötet und Hunderte weitere Menschen Knochenbrüche, Gehirnerschütterungen und Brustkorbquetschungen erlitten.


Opposition bleibt moderat

Die Forderungen der Opposition blieben allerdings gemäßigt. "In einigen wenigen Fällen haben Demonstranten nach den gewaltsamen Zwischenfällen zu einem Sturz des Regimes aufgerufen", sagte der Journalist Soulaiman Raissouni.

Der Aktivist Abdelhadi Dahraoui von der Bewegung des 20. Februar konnte seitens der Regierung keine Exzesse erkennen. "Mit den Gräueltaten in Libyen oder Tunesien ist das hier nicht vergleichbar." Nach Ansicht von Lagrini haben in Marokko Proteste immer zum Alltag gehört. Deswegen seien die Regierungen an Reformforderungen gewöhnt. "Das Land hat sich seit den sechziger Jahren für politischen Pluralismus entschieden", sagte er. "In den neunziger Jahren wurden dann die ersten rechtlichen und politischen Reformen umgesetzt."

Dahraoui geht indes nicht davon aus, dass Marokko über eine parlamentarische Monarchie hinausgehen wird. In der neuen Verfassung habe der König immerhin einige "interessante Regierungsbefugnisse" behalten. Demnach kann Mohammed VI. das Parlament auflösen und Minister entlassen, nachdem er den Präsidenten der Regierung darüber informiert hat. Diesen kann er jedoch nicht abberufen.

Nicht alle lassen sich jedoch von den Versprechen des Königs, den Bürgern Freiheit und menschliche Würde zu garantieren, überzeugen. Mahfoud berichtete, dass er Mitte März brutal niedergeschlagen wurde - nur fünf Tage nach einer versöhnlichen Rede von Mohammed VI. (Ende/IPS/ck/2011)


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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. August 2011