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NAHOST/873: Libyen - Scharia und Kalaschnikows, Zukunft nach Sturz Gaddafis ungewiss (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 31. Oktober 2011

Libyen: Scharia und Kalaschnikows - Zukunft nach Sturz Gaddafis ungewiss

von Karlos Zurutuza

Kind in Libyen lässt sich mit Kalaschnikow fotografieren - Bild: © Karlos Zurutuza/IPS

Kind in Libyen lässt sich mit Kalaschnikow fotografieren
Bild: © Karlos Zurutuza/IPS

Tripolis, 31. Oktober (IPS) - "Der Krieg ist vorbei und Gaddafi ist schon begraben. Was wollen wir sonst noch?" fragt sich Adnan Abdulrafiq, der ein gut besuchtes Straßenlokal im Zentrum der libyschen Hauptstadt Tripolis betreibt. Doch mit dem Kriegsende sind in dem nordafrikanischen Land noch längst nicht alle Probleme gelöst.

Abdulrafiqs Restaurant liegt nur etwa 50 Meter vom Märtyrerplatz entfernt, auf dem Gaddafi einst seine Macht zur Schau stellte. Jetzt wimmelt es dort von Menschen, die stolz die bis vor kurzem verbotene dreifarbige Nationalflagge schwenken. Das Rot-Schwarz-Grün der Rebellen ist allgegenwärtig - auf Plakatwänden ebenso wie auf Halstüchern, Taschen und Schlüsselanhängern.

"Irgendjemand macht damit sicherlich viel Geld, vielleicht Leute aus Katar", meint ein Jugendlicher namens Hafiz, der sich damit auf die frühzeitige Unterstützung des Emirats für die Revolte in Libyen bezieht.

'Lernt gemeinsam' und 'Umarmt euch' ist auf zwei Postern zu lesen, die an vielen Mauern in der Stadt kleben. Und Abdul Halil, der Vorsitzende des Nationalen Übergangsrats (NTC) sprach mehrmals das Wort "Versöhnung" aus, als er in einer Rede am 23. Oktober in Bengasi offiziell das Ende des Krieges gegen das Gaddafi-Regime verkündete.

Nicht alle Botschaften lassen jedoch darauf hoffen, dass die Gewalt bald vergessen sein wird. "Haben Sie diese Person gesehen?" lautet die bange Frage auf Plakaten, auf denen Hunderte Vermisste abgebildet sind. Neben den Daten ihres Verschwindens stehen die Telefonnummern, unter der Angehörige erreicht werden können.


"Tot oder lebendig" - Jagd nach flüchtigem Gaddafi-Sohn

Der meistgesuchte Mann in Libyen ist sicherlich Gaddafis Sohn Saif al-Islam, der noch auf der Flucht ist. 'Gesucht - tot oder lebendig' steht auf einem Plakat mit seinem Bild, das am Eingang zur Nationalbank befestigt ist. Irgendjemand hat bereits das Wort 'lebendig' ausgestrichen.

"Mehr als 50.000 Libyer sind im Krieg getötet worden. Wir sollten vergeben, jedoch niemals vergessen, was der Preis für die Freiheit war", sagt Rahul Tarhuni, der auf Seiten der Rebellen kämpfte und gerade aus deren Hochburg Misrata im Westen in die Hauptstadt gekommen ist. Misrata war lange von Anhängern Gaddafis belagert worden.

Zahlreiche Kämpfer trafen in den vergangenen zwei Monaten aus Misrata und Nafusa in Tripolis ein. Obwohl sie entscheidend zur Befreiung der Hauptstadt beigetragen haben, sind sie für viele Einwohner von Tripolis inzwischen unerwünschte Gäste.

"Sie schießen jeden Abend in die Luft und feuern sogar Flugabwehrraketen von den Ladeflächen ihrer Laster ab", beschwert sich die ehemalige Arabisch-Lehrerin Nawja Shakh. "Wussten Sie, dass 60 unbeteiligte Menschen ums Leben kamen, als sie Gaddafi töteten?" fragt die 35-Jährige. Etwa 50 Meter von ihr entfernt macht ein Mann ein Foto von seinen Kindern, die stolz eine Kalaschnikow halten.

Auch der 30-jährige Selan Rahman ist empört über die 'gesetzlosen' Milizionäre. "Gestern grüßte mich einer von ihnen mit 'Allah-u-Akbar' (Gott ist groß). Als ich ihm nicht auf die gleiche Weise antwortete, beschuldigte er mich, ein Anhänger von Gaddafi zu sein und drohte mir, mich festzunehmen." Rahman fühlt sich brüskiert, weil er die Revolution von Anfang an unterstützt hat.


Viele Libyer wollen keinen Gottesstaat

"Ich wünsche mir einen modernen und weltlichen Staat, kein ölreiches, mittelalterliches Emirat", erklärt er. Die Ankündigung des Übergangsrats, dass die künftigen Gesetze auf dem islamischen Recht, der Scharia, basieren würden, hat zahlreiche Bürger von Tripolis in Aufruhr versetzt. Sie fürchten, dass die Religion in dem Land eine zu große Rolle spielen könnte.

Momentan scheint es so, als sei in der Hauptstadt wieder Normalität eingekehrt. Noch mischen sich die Gebetsrufe von den Minaretten der Moscheen mit der Musik, die aus Autos dröhnt, die im dichten Verkehr stecken geblieben sind.

Der Ölpreis ist drastisch gesunken, nachdem für Nachschub gesorgt wurde. Die meisten Autobesitzer können es sich leisten, einen Liter Sprit für umgerechnet sieben Euro-Cent zu tanken.

An der Straße zum Flughafen sieht man die Trümmer von Bab al Aziziya, der ehemaligen Bunkerresidenz Gaddafis. Das Grundstück, auf dem sich auch ein Netzwerk unterirdischer Tunnel befindet, beginnt sich vom Symbol eines Unterdrückerregimes in ein Ausflugziel von Familien zu verwandeln.

Weiter südlich liegen Dutzende verlassene Wohnblocks. Ausländische Baufirmen waren dabei, neue Wohnviertel anzulegen, als die Unruhen sie zum Verlassen des Landes zwangen. In den Asbest-Baracken, in denen vor einiger Zeit noch Arbeiter eines türkischen Unternehmens untergebracht waren, leben jetzt Flüchtlinge. Hier haben 80 Familien aus Beni Walid, einem der letzten Rückzugsorte der Gaddafi-Treuen etwa 100 Kilometer östlich von Tripolis, seit einem Monat einen provisorischen Unterschlupf.


"Alles geraubt - jetzt habe ich gar nichts mehr"

"Ich fuhr nach Beni Walid zurück, um nachzuschauen, was von meinem Haus übrig geblieben ist", sagt Khalifa Mohamed Khalifa. "Alles war geraubt worden. Zwei Rebellen zwangen mich dazu, ihnen die Schlüssel meines Wagens zu geben. "All mein Geld und meine Papiere waren in dem Auto. Jetzt habe ich gar nichts mehr", klagt der 50-Jährige.

Khalifas Geschichte ist kein Einzelfall. Abdul Hadi zeigt auf seinem Handy ein Foto seines ausgeplünderten Hauses. "Meine Familie hat 500 Jahre lang dort gelebt. Schauen Sie, wo wir jetzt sind", meint der Mann und deutet auf die schäbigen Baracken.

"Sicherlich sind nicht alle Revolutionäre Lügner", sagt Adnan, auf dessen T-Shirt die Rebellenflagge aufgedruckt ist. "Ihr könnt jetzt frei sprechen und solltet die Wahrheit erzählen", fordert er die Flüchtlinge um ihn herum auf. Doch für viele ist die Erinnerung an die Diktatur noch frisch: "Ich weiß, dass Gaddafi tot ist", meint ein Taxifahrer. "Aber ich erkenne ihn noch in der Haltung vieler Leute wieder." (Ende/IPS/ck/2011)


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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. November 2011