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OSTEUROPA/274: Die NATO-Angriffe gegen Jugoslawien - Zehn Jahre nach der Schandtat - Teil 1 (jW)


junge Welt - Die Tageszeitung - Ausgabe vom 24. März 2009

Mit Lügen in den Krieg
Die NATO-Angriffe gegen Jugoslawien. Zehn Jahre nach der Schandtat
(Teil I)

Von Ralph Hartmann


Heute jährt sich zum zehnten Mal der Tag, an dem eine hochmoderne Luftarmada der NATO von ihren Flugbasen in den USA, in Deutschland, Italien, Bosnien, Mazedonien, Ungarn und von den im Mittelmeer kreuzenden Flugzeugträgern startete, um pünktlich um 20 Uhr MEZ ihre High-Tech-Raketen und Bomben in jugoslawische Ziele zu bringen. 54 Jahre nach der bedingungslosen Kapitulation des faschistischen Deutschlands wurde in Europa wieder Krieg geführt. Und die Bundeswehr war dabei. Deutsche ECR- und Recce-Tornados flogen in der ersten Staffel. Sie trugen am Rumpf das gleiche Balkenkreuz wie einst die Stukas, die im April 1941 auf Befehl Hitlers über Jugoslawien herfielen und Belgrad in Schutt und Asche legten. Dieses Mal währte der Krieg gegen das Balkanland nicht vier Jahre, sondern nur 78 Tage, an denen jedoch mehr Sprengstoff eingesetzt wurde als während des ganzen Zweiten Weltkrieges gegen das damalige, wesentlich größere jugoslawische Königreich.

Die deutschen Piloten, stationiert in Landsberg am Lech in Oberbayern und in Jagel/Schleswig Holstein, schossen den Weg für die Terrorangriffe frei und vollbrachten wahre Heldentaten: »Ein deutscher Tornado-Einsatz (...) startete beispielsweise in Piacenza (Italien) und dauerte dann zwischen fünf und sieben Stunden. An der Spitze eines Verbandes zu fliegen, gegnerische Luftabwehr auszumachen, zu unterdrücken und zu bekämpfen, war enorm gefährlich. Diese Flüge waren für die Piloten eine ganz erhebliche körperliche und seelische Belastung (...) Gespräche mit den Piloten zeigten (...), daß sie ihren Auftrag mit großem Selbstbewußtsein und höchster Professionalität erfüllten.«(1) Natürlich, nicht immer verliefen die Einsätze gegen das feindliche Jugoslawien reibungslos, doch deutsche Militärflieger verlieren auch in größter Gefahr nicht die Übersicht: »Man darf sich (...) keine Illusionen darüber machen: Man kann keinen Krieg ohne Schäden für die Zivilbevölkerung führen. Mit welchen Belastungen die Piloten dabei zurechtkommen müssen, wurde mir bei einer anderen Besprechung im Führungszentrum auf der Hardthöhe wieder deutlich. Ich sah einen Videofilm, aufgenommen aus dem Cockpit eines eingesetzten ECR-Tornados, der bei seinem Einsatz vom gegnerischen Radar erfaßt und dann beschossen wurde. Man hört lautes Schreien, sieht ein blitzschnell eingeleitetes Ausweichmanöver, ein Absturz aus einer Flughöhe von über 22.000 Fuß auf weniger als 8.000 Fuß, eine Beschleunigung auf das 1,3fache der Schallgeschwindigkeit. Unter höchster nervlicher und körperlicher Anspannung rettet sich die Flugzeugbesatzung.«(2)

Wahrhafte deutsche Helden! Sie wurden hoch dekoriert, aber ihre Namen und jeweiligen Kriegsverdienste wurden - wie ungewöhnlich doch für die deutsche Kriegsgeschichte - der Öffentlichkeit verschwiegen. Warum wohl? Der Name des Kriegsberichterstatters dagegen ist bekannt. Es ist der damalige Kriegsminister und Ex-SPD-Vorsitzende Rudolf Scharping höchstselbst. Er preist deutschen Heldenmut in einem Krieg, den Deutschland angeblich gar nicht geführt hat. Gut erinnerlich sind schließlich die Worte, die Bundeskanzler Gerhard Schröder am Abend des Überfalls über Funk und Fernsehen an die »lieben Mitbürgerinnen und Mitbürgern« richtete: »Wir führen keinen Krieg, aber wir sind aufgerufen, eine friedliche Lösung im Kosovo auch mit militärischen Mitteln durchzusetzen.«(3)


Zerstörtes Land

Die Folgen des »Nichtkrieges« sind bekannt: In Kosovo begann ein Massenexodus von nahezu biblischen Ausmaßen. Während zwischen dem März 1998 und dem März 1999 170000 Bewohner vor den Auseinandersetzungen zwischen der UCK und den jugoslawischen Sicherheitskräften aus dem Gebiet geflohen waren, flüchteten allein im ersten Kriegsmonat 600.000 Menschen. Zum Kriegsende waren es 800.000, darunter 70.000 Serben und Roma, zum größten Teil aber albanische Bewohner des Gebietes. Sie verließen das Gebiet, flüchtend vor den NATO-Bomben, die Serben und Albaner töteten - allein Pristina wird 280mal von der NATO angegriffen -, vertrieben von serbischen Paramilitärs, den Aufrufen der kosovo-albanischen »Befreiungsarmee« UCK folgend und ihren Terror gegen »Kollaborateure« fürchtend, Schutz suchend vor den Kämpfen zwischen der UCK und dem jugoslawischen Militär.

Ganz Jugoslawien blutete aus unzähligen Wunden. Zertrümmert oder demoliert wurden 60 Brücken, 19 Bahnhöfe, 13 Flughäfen, 480 Schulobjekte, 365 Klöster, Kirchen, Kultur- und historische Gedenkstätten, darunter der Park des Gedenkens an die im Zweiten Weltkrieg von der deutschen Wehrmacht erschossenen 7.000 jugoslawischen Bürger. Mit herkömmlichen und Graphitbomben wurden die Hauptelektrizitätswerke angegriffen und über längere Zeiträume bis zu 70 Prozent der Bevölkerung von der Stromversorgung abgeschnitten. Die Auswirkungen für die Grundversorgung der Zivilbevölkerung, für Krankenhäuser, Geburtskliniken, Inkubatoren, Wasserpumpen und viele andere Bereiche waren katastrophal, zeitweilig konnte die Bevölkerung durch den Ausfall der Alarmsirenen nicht einmal mehr vor den Angriffen der Terrorpiloten gewarnt werden. Zerschlagen wurden die Relaisstationen für Rundfunk und Fernsehen, darunter die in der unmittelbaren Nähe der nationalen Gedenkstätten auf dem Avala-Berg bei Belgrad und dem Lovcen in Montenegro.

Zerstört oder beschädigt wurden 110 Krankenhäuser, lebensnotwendige medizinische Geräte, Hilfs- und Arzneimittel. Infolge der Bombardierung von Straßen, Brücken und Bahngleisen sowie des Kraftstoffmangels nach der Zertrümmerung der Raffinerien mußte die Behandlung von Patienten mit chronischen Herz- und Nierenerkrankungen, von Diabetes- und Krebspatienten unterbrochen oder verspätet durchgeführt werden. Der wochenlange Aufenthalt in Schutzkellern führte bei vielen zum Ausbruch von schweren Darmerkrankungen.

In Schutt und Asche gelegt wurden 121 Industriebetriebe, in denen 600.000 Jugoslawen in Arbeit standen. Rund 2,5 Millionen Menschen verloren damit ihre Existenzgrundlage. Über 2.500 Menschen wurden getötet, mehr als 10.000 schwer oder leicht verletzt. Dreißig Prozent aller Getöteten und vierzig Prozent der Verstümmelten und Verletzten waren Kinder.(4)


Raub des Kosovo

Nach diesem »glorreichen Sieg« wurde das südserbische Gebiet Kosovo von der NATO okkupiert. Unter den Augen der Besatzungstruppen wurden 250.000 Serben, Roma und andere Nichtalbaner vertrieben, die Gebietshauptstadt Pristina wurde »judenfrei«. Die im Kerngebiet Kosovos verbliebenen wenigen Serben leben seither wie in Ghettos, ständig mörderischen Überfällen und anderen Gewalttaten ausgesetzt. Alles, was an die fast tausendjährige serbische Geschichte des Gebietes erinnert, wurde und wird systematisch ausgelöscht. Weit mehr als 100 Klöster und Kirchen sind inzwischen zerstört. Der seit sieben Jahrhunderten bestehende, seit Juni 1999 dreifach bewehrte Sitz des Patriarchen der Serbischen Orthodoxen Kirche in Pec wurde wiederholt angegriffen. In der Stadt Pec und Umgebung lebten vor dem Krieg 32.000 Serben, heute ist ihre Zahl an den Fingern abzuzählen.

Kosovo ist ein armes, aber an Ressourcen reiches Gebiet. Es verfügt über beträchtliche Vorkommen an Blei, Zink, Chrom, Nickel, Silber, Gold und mit 17 Milliarden Tonnen über die zweitgrößten Braunkohlelagerstätten Europas. Begierig greift das deutsche und internationale Kapital nach diesen Reichtümern. Es begann mit dem Bergbaukombinat Trepca im Norden des Amselfeldes, das einst, in den Zeiten der sozialistischen Selbstverwaltung, 29.000 Beschäftigte zählte und in der Blei- und Zinkproduktion an zweiter Stelle in Europa lag. Im August 2000, ein Jahr nach der Eroberung Kosovos durch die NATO, wurde es von schwerbewaffneten KFOR-Truppen gestürmt und gegen den erbitterten Widerstand der Arbeiter der UN-Verwaltung unterstellt. Der serbische Direktor wurde davongejagt und durch einen Vertreter der »internationalen Gemeinschaft« ersetzt. Die Übernahme war laut Kofi Annan, seinerzeit UN-Generalsekretär, ein erster Schritt in Richtung Privatisierung. Diese ist in Trepca aufgrund der Zerstörungen durch NATO-Raketen und ungeklärter Eigentumsverhältnisse noch nicht abgeschlossen, aber in anderen Teilen Kosovos kommt sie, wenn auch schwerfällig, voran. Zuständig dafür ist die Kosovo-Treuhandagentur (KTA), die im Mai 2003 mit der Privatisierung von 540 Unternehmen begann. Ungeachtet der Proteste Belgrads gegen die rechtswidrigen Enteignungen »des privaten und staatlichen Eigentums des serbischen Volkes«, wurde bisher ein beträchtlicher Teil für den üblichen Apfel und ein Ei verkauft. Höher liegt der Preis der Bodenschätze. Sie wurden für internationale Investoren ausgeschrieben und sollen mehr als zehn Milliarden Euro bringen. Laut EU-Gremien wurde die Privatisierung der ehemals volkseigenen Betriebe in letzter Zeit erheblich beschleunigt, doch immer noch bestehe hier großer Handlungsbedarf. Unterstellt ist die Privatisierungsagentur dem 4. Büro der UN-Verwaltung in Pristina, und an dessen Spitze stand bis Juni 2008 ein Vertreter aus dem treuhanderfahrenen Deutschland: Joachim Rücker, ehemaliger Oberbürgermeister von Sindelfingen, der über enge Verbindungen zum Auswärtigen Amt verfügt und in Anerkennung seiner Leistungen nun zum Botschafter in Schweden ernannt wurde.


Die Zerschlagung Jugoslawiens

Unter der Leitung des bundesdeutschen Außenministers Frank-Walter Steinmeier (SPD) hat dieses Amt entscheidend dazu beigetragen, Kosovo aus dem serbischen Staatsgebiet herauszureißen. Unter Mißachtung der nach der NATO-Aggression verabschiedeten UN-Resolution 1244, in der die territoriale Integrität der Bundesrepublik Jugoslawien und die Zugehörigkeit Kosovos zu Serbien festgeschrieben ist, wurde das Gebiet nach absurden Scheinverhandlungen gegen den erbitterten Widerstand Belgrads zu einem unabhängigen Staat ausgerufen und von der Mehrheit der NATO-Staaten anerkannt. An der Spitze dieses Staatsgebildes stehen die ehemaligen Führer der UCK, die einst selbst von den USA als »terroristische Organisation« gekennzeichnet worden war. Noch einmal bestätigte sich die Einschätzung des damaligen serbischen Regierungschefs Vojislav Kostunica: »All das zeugt leider davon, daß die USA und die NATO Serbien grausam und rechtswidrig bombardiert und ihre Streitkräfte in das Gebiet geführt haben, um 15 Prozent des Territoriums unseres Landes zu rauben.« Seit Ende 2008 hat die Europäische Union unter der Oberaufsicht der UN-Verwaltung für Kosovo (UNMIK) die »Überwachung« des geraubten Territoriums übernommen. EULEX, eine sogenannte Rechtsstaatsmission, bestehend aus rund 2.000 Polizisten, Juristen, Verwaltungsexperten und anderen Fachleuten aus EU-Staaten, soll den Aufbau »rechtsstaatlicher« Verhältnisse voranbringen und die Abspaltung der südserbischen Provinz zementieren.

Mit der völkerrechtswidrigen Abtrennung Kosovos von Serbien fand der Prozeß der gewaltsamen Zerschlagung der einst vom slowenischen Alpengipfel Triglav bis zum mazedonischen Ufer des Ohridsees, von der Adria bis zum serbischen Kapaonikgebirge reichenden jugoslawischen Föderation seinen Abschluß. Die Bundesrepublik Deutschland hat maßgeblich dazu beigetragen, und Politiker vom Schlage eines Rupert Scholz (CDU) können sich die Hände reiben. Auf dem im September 1991 stattgefundenen »Fürstenfeldbrucker Symposium für Führungskräfte aus Bundeswehr und Wirtschaft« hatte der ehemalige bundesdeutsche Verteidigungsminister und Verfassungsrichter, der noch heute in erzkonservativen Kreisen als Demokrat von echtem Schrot und Korn gilt, festgestellt, »daß der Jugoslawien-Konflikt unbestreitbar fundamentale gesamteuropäische Bedeutung hat«, um fortzufahren: »Wir glauben, daß wir die wichtigsten Folgen des Zweiten Weltkrieges überwunden und bewältigt hätten, aber in anderen Bereichen sind wir damit befaßt, noch die Folgen des Ersten Weltkrieges zu bewältigen (...). Jugoslawien ist als eine Folge des Ersten Weltkrieges eine sehr künstliche (...) Konstruktion.«(5) Der NATO, allen voran der Bundesrepublik Deutschland, ist es gelungen, diese einst weltweit geachtete multinationale »Konstruktion« zu zerschlagen.


Rechtsnihilismus

Der Überfall der NATO auf Jugoslawien unter Teilnahme der Bundesrepublik Deutschland liegen zehn Jahre zurück. Doch auch heute vermitteln sie Erkenntnisse, die weit über die jugoslawische Tragödie hinausgehen und nichts an Aktualität verloren haben. Ohne den Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben, seien einige genannt:

Die im bürgerlichen Rechtsstaat Herrschenden werden nicht müde, die Bedeutung des internationalen Rechts zu unterstreichen und seine strikte Einhaltung zu fordern. Wenn dieses jedoch außenpolitischen Zielen und ihrer Machtgier im Wege steht, dann verhalten sie sich wie eingedrungene Wildschweine in einem Ziergarten und trampeln alles nieder. Die deutsche Jugoslawien-Politik bietet viele Beispiele:

Im »Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland«, eingegangen in die Geschichte als »Zwei-plus-Vier-Vertrag«, verpflichtete sich der zukünftige deutsche Einheitsstaat in völkerrechtlich verbindlicher Weise, daß vom deutschen Boden nur Frieden ausgehen wird und daß nach der Verfassung des vereinigten Deutschlands Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht unternommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, verfassungswidrig und strafbar sind.(6)

Ganz in diesem Sinne erklärte der bundesdeutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) bei der Unterzeichnung: »Unsere Botschaft an die Völker dieser Welt ist: Wir wollen nichts anderes, als in Freiheit und Demokratie und in Frieden mit allen anderen Völkern leben.«(7) Wenige Wochen später, am 3. Oktober 1990, dem Tag, in dessen erster Minute vor dem Reichstagsgebäude in Berlin die überdimensional große schwarz-rot-goldene Einheitsflagge gehißt wurde, richtete Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) an alle Regierungen der Welt, mit denen das nun vereinigte Deutschland diplomatische Beziehungen unterhielt, eine Botschaft. Zu den Adressaten zählte auch Ante Markovic, Ministerpräsident der jugoslawischen Föderation. Auch versicherte der Kanzler: »Unser Land will mit seiner wiedergewonnenen nationalen Einheit dem Frieden in der Welt dienen (...). Von deutschem Boden wird in Zukunft nur Frieden ausgehen. sind uns bewußt, daß die Unverletzlichkeit der Grenzen und die Achtung der territorialen Integrität und der Souveränität aller Staaten in Europa eine grundlegende Bedingung für den Frieden ist.«(8)

Eingefügt in seine Botschaft hatte der Kanzler einen Satz, der gerade für Jugoslawien von besonderem Gewicht war. Er pries den Friedensauftrag des Grundgesetzes und schrieb: »Zugleich stehen wir zu den moralischen und rechtlichen Verpflichtungen, die sich aus der deutschen Geschichte ergeben.«(9)

Worte, Worte, Worte - ein Jahr später waren sie nur noch Schall und Rauch. Ungeachtet aller feierlichen Erklärungen über Friedensverantwortung und Verzicht auf Machtstreben, mischte sich die Bundesrepublik massiv in die inneren Angelegenheiten Jugoslawiens, eines der Staaten der Antihitlerkoalition, der zugleich zu den Gründungsmitgliedern der Organisation der Vereinten Nationen und der Bewegung der Nichtpaktgebundenen Staaten gehörte, ein und betrieb erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg wieder offen Großmachtpolitik. Sie begann mit der überstürzten Anerkennung Sloweniens und Kroatiens 1991, erreichte ihren Höhepunkt in der Teilnahme am verbrecherischen Krieg gegen Jugoslawien und fand ihren vorläufigen Schlußpunkt in der aktiven Mitwirkung an der völkerrechtswidrigen Abtrennung Kosovos von Serbien.

In ihrem aggressiven Vorgehen gegen Jugoslawien scherten sich die Bundesregierungen, die schwarz-gelbe, die rot-grüne und die schwarz-rote, weder um das sonst soviel beschworene Grundgesetz noch um die Charta der Vereinten Nationen.


Propagandaoffensive

Kriege, wie amoralisch sie auch sind, werden stets unter erhabenen moralischen Vorwänden geführt. Kaiser Wilhelm II. und seine Generäle befahlen Millionen deutschen Soldaten, »ins Feld zu ziehen« gegen die »drohenden feindlichen Invasionen« und für »Deutschlands Ehre«. Hitlers »Drittes Reich« überfiel die Sowjetunion, um das deutsche Volk vor den »Hunnen des 20. Jahrhunderts« und der »bolschewistischen Gefahr« zu schützen. Höchst moralisch auch die Motive, mit denen die Regierung der SPD und der Grünen, unterstützt von der CDU/CSU-FDP-Opposition, die Teilnahme der Bundesrepublik am Aggressionskrieg gegen Jugoslawien begründeten. Sie verfolgten das hehre Ziel, auf dem Balkan »eine humanitäre Katastrophe zu verhindern«. Und weil dieses Anliegen so selbstlos und edel, so überzeugend und einleuchtend war, wurde es der Öffentlichkeit immer aufs neue und nahezu immer in der gleichen Variante nahegebracht.

Vor dem Überfall, am 23. März, erklärte Scharping in den ARD-Tagesthemen, »das politische Ziel sei unverändert, die Spirale der Gewalt zu durchbrechen und eine humanitäre Katastrophe zu verhindern«. Unmittelbar nach dem ersten Angriff wandte sich Bundeskanzler Schröder persönlich an die Öffentlichkeit und erläuterte, daß die NATO mit den Luftschlägen »(...) eine humanitäre Katastrophe verhindern (will)«.(10) Da ihm diese Zielbeschreibung des Krieges so gut gefiel, wiederholte er sie zwei Tage später vor den Abgeordneten des Deutschen Bundestages: »Das Bündnis war zu diesem Schritt gezwungen, um weitere schwere und systematische Verletzungen der Menschenrechte in Kosovo zu unterbinden und um eine humanitäre Katastrophe dort zu verhindern.«(11)

Mit den Kanzleransprachen war der Anstoß gegeben; im ganzen Land erläuterten Regierungsmitglieder, Abgeordnete der Koalitions- und der CDU/CSU-FDP-Oppositionsparteien auf allen Ebenen, Kriegsbefürworter in den Ländern und Kommunen das humanitäre Kriegsziel.

An dieser Zielbeschreibung hielt die SPD-Grünen-Regierung eisern fest, auch dann, als für alle Welt längst sichtbar geworden war, daß eine schreckliche humanitäre Katastrophe nicht verhindert, sondern herbeigebombt worden war. Noch Monate nach dem Krieg behauptete sie in einer Antwort auf eine Kleine Anfrage der PDS-Fraktion im Bundestag: »79 Tage lang führte die NATO mit dem strategischen Ziel, eine humanitäre Katastrophezu verhindern (...), Luftschläge gegen die BRJ durch (...).«(12)

Heute beschränkt sich die Bundeswehr nicht auf Luftschläge, sie kämpft auch am Boden, am fernen Hindukusch. Wieder geht es um ein höchst moralisches Ziel, um den Schutz unseres Landes und der ganzen westlichen Welt vor dem Terrorismus. »Entweder bekämpfen wir den Terrorismus in Afghanistan oder der Terrorismus kommt zu uns«(13), postulierte Verteidigungsminister Franz Josef Jung (CDU) bei der Beisetzung von zwei in diesem Kampf geopferten deutschen Soldaten. An solchen pharisäischen Bekundungen hat es deutschen Kriegskommandeuren noch nie gemangelt, und auch zukünftig werden sie sich nicht scheuen, amoralische Kriegsabenteuer in moralische und altruistische Missionen umzulügen.


Fußnoten
(1) Rudolf Scharping: Wir dürfen nicht wegsehen. Der Kosovo-Krieg und Europa, Berlin 1999, S.88
(2) Ebd., S. 144/145
(3) Erklärung von Bundeskanzler Gerhard Schröder, dpa, 24.3.1999
(4) Die Angaben über Kriegsopfer und -schäden basieren auf Beiträgen, die auf dem internationalen Hearing zum Europäischen Tribunal über den NATO-Krieg gegen Jugoslawien am 30. Oktober 2000 in Berlin vorgetragen wurden. Siehe: Die Wahrheit über den NATO-Krieg gegen Jugoslawien, Hrsg. von Wolfgang Richter, Elmar Schmähling, Eckart Spoo, Schkeuditz 2000
(5) zitiert nach Ulrich Sander: »Der dritte Feldzug gegen Serbien«, in: Ossietzky, Nr. 6/1999 (6) Vgl. Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland, Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Bonn, September 1990
(7) Ebd., S. 56
(8) Texte zur Deutschlandpolitik. Eine Information des Bundesministers für Innerdeutsche Beziehungen, Reihe III/Band 8b - 1990, Bonn 1990, S. 705
(9) Ebd.
(10) dpa, 24.3.1999
(11) Gerhard Schröder, Regierungserklärung vom 27.3.1999, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 5/1999, S. 635
(12) 14. Deutscher Bundestag, Drucksache 14/1788, S. 2
(13) Die Welt, 24.10.2008


Ralph Hartmann vertrat von 1982 bis 1988 die DDR als Botschafter in Belgrad und leitete bis 1990 den Sektor Sozialistische Länder beimZentralkomitee der SED. Von ihm erschienen u. a. »Die Liquidatoren. Der Reichskommissar und das wiedergewonnene Vaterland«, edition ost, Berlin 2008 sowie »Die DDR unterm Lügenberg«, Verlag Ossietzky, 3. Auflage Hannover 2009


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Quelle:
junge Welt vom 24.03.2009
mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Redaktion
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. April 2009