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OSTEUROPA/369: Balkan - Gulag-Überlebende brechen ihr Schweigen (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 6. Februar 2014

Balkan: Opfer von Titos Willkür - Gulag-Überlebende brechen ihr Schweigen

von Vesna Peric Zimonjic


Bild: © Pokrajac CC BY-SA 3.0

Das verlassene Gefangenenlager Goli Otok
Bild: © Pokrajac CC BY-SA 3.0

Belgrad, 6. Februar (IPS) - Goli Otok ist eine winzige, unbewohnte und öde Insel, die sechs Kilometer vor der kroatischen Küste liegt. Im Juli 1949 wurde sie zum Gulag für Gegner der damaligen jugoslawischen Führung, die im Juni 1948 beschlossen hatte, aus der Sowjetunion auszuscheren. Doch wer sich gegen den jugoslawischen Staatsgründer Josip Broz Tito stellte, landete auf der 'nackten Insel'. 65 Jahre nach der Einrichtung des Gefangenenlagers können die Opferfamilien und die wenigen Überlebenden nun darauf hoffen, das düstere Kapitel abzuschließen.

Eines der bestgehüteten Geheimnisse im ehemaligen Jugoslawien wurde kürzlich durch die Veröffentlichung der Namen von 16.101 Häftlingen des Arbeitslagers auf der kroatischen Adria-Insel im Internet gelüftet. Die lange Liste, die auf der kroatischen Website http://noviplamen.net/ einsehbar ist, löste bei den wenigen Überlebenden und Opferfamilien beispiellose Reaktionen aus und offenbarte die seelischen Nöte vieler Bosnier, Kroaten, Montenegriner. Mazedonier, Slowenen und Serben, die im Lager einsaßen.

"Ich wollte immer wissen, was im Leben meines Opas mütterlicherseits schiefgegangen war", sagt Smiljana Stojkovic, eine 45-jährige Lehrerin aus Belgrad. Ihr Großvater Stanko, ein Kommunist, hatte nur erzählt, vor dem Zweiten Weltkrieg das Schusterhandwerk gelernt und dann gegen die Deutschen gekämpft zu haben. "Seine Geschichte endete in einem Vakuum. Uns Enkelkindern wurde verboten, ihn nach den Ereignissen ab den 1960er Jahren zu fragen."

Inzwischen weiß Stojkovic, dass ihr im Jahr 2000 verstorbener Großvater sieben Jahre lang im Gulag einsaß. Sie könne sich gut vorstellen, dass er als loyaler Kommunist Josef Stalin die Treue gehalten habe, der Tito nach dem Ausscheren aus der Sowjetunion als "Diener des Imperialismus" schmähte und die jugoslawischen Kommunisten zu dessen Sturz aufrief.

"Für viele Kommunisten war es undenkbar, an Stalin zu zweifeln", sagt Zoran Asanin, Leiter der Belgrader 'Vereinigung Goli Otok'. Asanin und viele Überlebende wissen, dass auf Parteiversammlungen 1948 die Frage gestellt wurde, wer für Stalin und wer für Tito sei. Die 'Stalinisten' wurden ohne Gerichtsverhandlung und Urteil nach Goli Otok geschickt. Nicht einmal die engsten Familienmitglieder wussten, wo sie waren.


Unerträgliche Lebensbedingungen

Die politischen Gefangenen wurden in Booten vom Adria-Hafen Bakar in die insgesamt vier Lager von jeweils 4,7 Quadratkilometern Größe gebracht, in denen es keine sanitären Anlagen gab. Die Insel ist außerdem für ihr extremes Klima mit heißen Sommern und eisigen Wintern bekannt. Die Häftlinge, die Zwangsarbeit im Steinbruch leisten mussten, wurden oft von den Wärtern verprügelt und gefoltert und als "Verräter" der jugoslawischen Sache beschimpft.

Hunger und Durst waren an der Tagesordnung. Pro Person gab es täglich nur 200 Deziliter Wasser und einfaches Brot. Aus der kürzlich veröffentlichten Namensliste geht hervor, dass 413 Menschen zwischen 1949 und 1956 im Gulag starben, entweder an Krankheiten wie Typhus und unbehandelten Herzleiden oder durch Selbstmord. 1956 wurden die letzten politischen Häftlinge in normale Gefängnisse auf dem Festland gebracht.

Jahrelang wurden diesen Menschen alle politischen Rechte verwehrt. Sie fanden keine Arbeit, und viele wurden von den eigenen Familien verstoßen, nachdem ihnen Geheimpolizei, Nachbarn oder Freunde zusetzten. Den Kindern habe man gesagt, ihre Väter befänden sich für mehrere Jahre "auf Geschäftsreise", ist in Kommentaren unter der Namensliste nachzulesen. Die Frauen der Gefangenen wurden sofort geschieden.

Doch manchmal war sogar dies noch nicht genug. "Ich musste mich auf einer Parteiversammlung öffentlich von meinem Mann lossagen, um weiterhin als Universitätsprofessorin arbeiten zu können", berichtet die 88-jährige Rada B. "Ich musste versprechen, dass er unsere Tochter niemals wiedersehen würde. Daran habe ich mich gehalten, und sie hat es mir nie verziehen."

Die Wahrheit über Goli Otok begann erst in den 1990er Jahren allmählich durchzusickern - nach dem Auseinanderfallen des damaligen Jugoslawiens. Die blutigen Balkan-Kriege in jenen Jahren hinderten die Überlebenden und die Familien der Opfer an der Bewältigung der Vergangenheit.


Serbien zahlt Entschädigungen

Erst in jüngster Zeit haben Kroatien, Serbien und Slowenien damit begonnen, Opfer von Goli Otok zu entschädigen. Viele von ihnen waren nicht einmal Kommunisten gewesen. Nach Angaben von Asanin finden sich in Serbien noch etwa 300 Überlebende des Gulags, die ihre politische Rehabilitierung und Entschädigungen verlangen. Der Staat hat sich bereiterklärt, ehemaligen Häftlingen umgerechnet 8,5 Dollar für jeden Tag in Goli Otok zu zahlen. Bis jetzt hat Serbien mehr als 640.000 Dollar an Opfer oder deren direkte Nachfahren ausgezahlt.

Über die meist anonymen Kommentare unter der Namensliste erfährt man mehr als aus den Geschichten der Gefangenen selbst. "Ich habe meinen Onkel (auf der Liste) gefunden. Ich wusste, dass er dort war, weil er Witze über die Politik gemacht hat" schreibt eine Frau namens Beba. "Mein Großvater war da, weil er gefordert hatte, dass die Läden für Diplomaten (in denen seit dem Zweiten Weltkrieg privilegierte Kommunistenführer einkaufen konnten) allen Bürgern offenstehen sollten", berichtet ein Mann, der sich Bane nennt.

Menschen aus allen Teilen des früheren Jugoslawien schicken sich inzwischen Emails, um mehr über das Leben oder die Umstände des Todes ihrer Angehörigen in Goli Otok zu erfahren. Seit der Schließung des Gefangenenlagers ist der Ort verlassen. Nur Touristen kommen ab und zu, um die Überreste des ehemaligen Lagers zu besichtigen. (Ende/IPS/ck/2014)


Link:

http://www.ipsnews.net/2014/02/living-ways-tito-stalin/

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 6. Februar 2014
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Februar 2014