Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → AUSLAND

RUSSLAND/122: Russische Zwischenbilanz (IPG)


Internationale Politik und Gesellschaft 1/2009

KOMMENTAR/COMMENT
Russische Zwischenbilanz

Von Fjodor Lukjanow


Zwei Krisen der letzten Monate haben die Außenpolitik Russlands wesentlich beeinflusst. Zwischen dem russisch-georgischen Krieg im August 2008 und den Turbulenzen auf den Weltfinanzmärkten im September und Oktober gibt es zwar keinen Zusammenhang. Doch trugen beide Ereignisse auf jeweils eigene Art zur deutlicheren Ausformulierung der russischen Nationalinteressen bei. Die beiden Krisen steckten einen konzeptuellen Interessenrahmen ab, indem sie die Richtung des Notwendigen (als Folge des russisch-georgischen Konflikts) aufzeigten und die Grenzen des Möglichen (als Ergebnis der wirtschaftlichen Rezession) markierten.


Wahrnehmungskonflikt und Interessenbestimmung

Viele russische Beobachter vergleichen den Krieg zwischen Georgien und Russland mit den Ereignissen des 11. September 2001; in beiden Fällen war der Einfluss auf die internationalen Beziehungen gravierend. Der Terroristenangriff auf das World Trade Center und das Pentagon und die Antwort der USA darauf haben die Weltpolitik zwar nicht revolutioniert. Er wirkte jedoch als mächtiger Katalysator von Tendenzen, die sich vorher unterschwellig herausgebildet und akkumuliert hatten. Durch den Angriff Georgiens auf Südossetien und die Gegenhandlungen Russlands wurde das Schachbrett ebenfalls nicht umgeworfen. Doch hat dieser Konflikt alle Widersprüche, Unzufriedenheiten und Spannungen offengelegt, die sich im Verlauf der gesamten postsowjetischen Phase im Verhältnis zwischen dem Westen und Russland angesammelt hatten. Dabei offenbarte sich auch erstmalig ein dramatischer Wahrnehmungskonflikt, der in seiner Tiefe all die Widersprüche, die es früher zwischen Moskau und den Metropolen des Westens gegeben hat, qualitativ übertrifft.

Früher handelte es sich um konkrete politische Streitigkeiten, die sich mitunter erheblich zuspitzten. Dann aber änderte sich die Situation, und Russische Zwischenbilanz nach zwei Krisen die Gegensätze nivellierten sich schnell. Sie betrafen ohnehin mehr das Establishment als die öffentliche Meinung. Mehr noch: Die Öffentlichkeit betrachtete das Vorgehen der Regierung oft mit Skepsis. Bei der Bewertung der Augustereignisse gibt es in Russland - zum ersten Mal seit langer Zeit - einen fast durchgehenden Konsens. Nicht nur die politische Führung, sondern auch eine große Mehrheit der Bürger betrachtet das Vorgehen der Armee und der Führung Russlands als erzwungen, weil es gar keine andere Wahl gegeben habe, und als politisch, moralisch und auch juristisch gerechtfertigt.

Deshalb war die Öffentlichkeit von der Reaktion des Auslands regelrecht schockiert. Insbesondere die uneingeschränkte Unterstützung von Michail Saakaschwili durch den Westen, der eben jene humanitären Normen zivilisierten Verhaltens verletzt hatte, deren Einhaltung westliche Politiker und Menschenrechtler unaufhörlich fordern, rief großes Befremden hervor. Die politische Elite und die Bürger Russlands - es sei unterstrichen, dass diesmal zwischen beiden Gruppen kaum Differenzen bestehen - bewerten dies nicht als den in der Politik üblichen Doppelstandard, sondern als offenen Zynismus, der den Rahmen des politisch Üblichen sprengt. Dies trifft insbesondere auf die Bush-Administration zu. Erst drei Wochen nach Beginn der Kampfhandlungen erwähnte Washington erstmalig, dass Russlands Handlungen eine Antwort gewesen seien. Vorher hatte die Position des Weißen Hauses und des State Departement eine volle und uneingeschränkte Unterstützung von Tiflis beinhaltet.

Zum ersten Mal seit dem Zerfall der Sowjetunion sah sich Moskau gezwungen zu handeln, ohne auf Reaktionen des Auslands Rücksicht zu nehmen. Bei früheren Streitigkeiten waren die eventuellen Auswirkungen von Entscheidungen auf das Verhältnis mit »strategischen Partnern« ein wesentlicher Faktor bei der Beschlussfassung. Das unbestreitbare Interesse Russlands an guten Beziehungen mit den führenden Mächten des Westens setzte seinen Reaktionen und seiner Auslegung der nationalen Interessen Grenzen. Diesmal kam der Kreml jedoch zu dem Schluss, dass eine Beschränkung auf Handlungen, die für die ausländischen Partner akzeptabel gewesen wären, mit Blick auf vitale Interessen zu hohe Kosten verursacht hätten. Mehr noch: Die Verteidigung der russischen Interessen führe notwendig zu Konflikten mit großen internationalen Partnern, und es habe keinen Sinn, auf deren Verständnis zu hoffen.

Mit dieser Einschätzung hängt auch die umstrittenste Entscheidung der Krisenzeit zusammen, die Entscheidung, Abchasien und Südossetien anzuerkennen. Dies war nicht von Anfang an geplant, und Moskau war, soweit man nach offiziellen Verlautbarungen urteilen kann, durchaus bereit, das Kosovo-Modell umzusetzen: Nach einer internationalen Diskussion über den Status der beiden Gebiete sollte früher oder später einvernehmlich festgestellt werden, dass es nicht mehr möglich sei, die Abchasen und Osseten unter die Jurisdiktion von Tiflis zu zwingen. Die Reaktion des Westens auf den Fünftagekrieg und die offene Weigerung, die russische Darstellung des Verlaufs der Ereignisse zur Kenntnis zu nehmen, ließen bei Russland den Eindruck entstehen, dass kein Kompromiss möglich sei. Die USA und die meisten europäischen Staaten würden sich in jedem Fall auf die Seite des angeblichen »Opfers«, also Georgiens stellen. Im Fall der USA war die aggressive Rhetorik der ersten Wochen auch darauf zurückzuführen, dass Washington Michail Saakaschwili seit längerer Zeit ermutigt hatte, ihm im entscheidenden Augenblick aber nicht helfen konnte. Einer Macht, die die Rolle der einzigen Supermacht beansprucht, dürfte es äußerst unangenehm sein, dass sie ihren Verbündeten nicht schützen konnte.

In Russland machte sich nach dem Georgien-Krieg eine tiefe Enttäuschung über den Westen breit und es reifte der Entschluss heran, vitale Interessen unabhängig davon zu verteidigen, wie ausländische Partner dazu stehen und wie breit die Unterstützung ist, auf die man bauen kann. Dies mag eine notwendige Etappe in der Entwicklung des Landes sein, doch benötigt man klare Kriterien, welche Interessen als lebenswichtig einzustufen sind und um jeden Preis verteidigt werden müssen. Der russische Staat befindet sich in einem Prozess der Konsolidierung und verfügt vor der Hand nicht über solche Kriterien. Dass sich solche Kriterien mittlerweile herauszubilden begonnen haben, dabei spielt die Finanzkrise eine überaus wichtige Rolle.

Die Instabilität des Finanzsystems, die sich schnell über die ganze Welt ausgebreitet hat, hat sowohl den Grad der allgemeinen Interdependenz als auch die Grenzen des Möglichen vor Augen geführt - im ökonomischen und folglich auch im geopolitischen Bereich. Es stellte sich heraus, dass die beträchtlichen Reserven, die Russland in den Jahren des wirtschaftlichen Aufschwungs akkumuliert hat, vielleicht ausreichen würden, um die Folgen der nationalen Krise abzufedern, nicht aber, um die großen geopolitischen Projekte umzusetzen, über die man sich in den letzten Jahren Gedanken macht. Die Krise wird uns zwingen, klare Prioritäten zu setzen, die Absichten deutlich zu machen und auf Überflüssiges zu Gunsten des Wichtigeren zu verzichten. So mag es verführerisch sein, in der westlichen Hemisphäre, im Hinterhof der Vereinigten Staaten, politische Spiele zu veranstalten, jedoch wird Russland nicht umhinkönnen, seine Kräfte und Ressourcen auf die viel wichtigere Politik in Eurasien und Europa zu konzentrieren. Die nunmehr härteren Bedingungen helfen Russland dabei, Kriterien für seine vitalen Interessen zu entwickeln. Diese werden meiner Meinung nach in absehbarer Zeit vorliegen.


Antiamerikanismus als Konzept

Die neu entstandene Situation kann weitreichende Folgen haben. In Russland bildet sich eine Art antiamerikanischer Konsens heraus. Dieser ist nicht die Folge von Hysterie, und es handelt sich auch nicht um ein vorübergehendes Phänomen, sondern um die Entstehung und Verdichtung eines Weltbildes, in dem eine enge Zusammenarbeit mit den USA unmöglich erscheint. Dies bedeutet nicht, dass Russland eine Konfrontation suchen wird. Wir haben es eher mit einer systematischen Ablehnung der Politik der Vereinigten Staaten zu tun. Zwar kann man mit den USA Kontakt haben, doch strategische Projekte kann man mit den Vereinigten Staaten nicht ernsthaft besprechen. Der Moskauer Politologe Iwan Safrantschuk kleidete dies in das Bild, Russland und die USA säßen nicht mehr in einem Boot sondern die Parteien säßen nun jede in ihrem Boot und ruderten so, wie sie es für nötig hielten.

Das konzeptuelle Problem der russisch-amerikanischen Beziehungen, das sich abzeichnet, kann als Nichtübereinstimmung der strategischen Horizonte beschrieben werden. Russland versteht sich als Weltmacht mit regionalen Ambitionen. Somit wäre es bereit, seine Möglichkeiten in entfernten Regionen wie Lateinamerika, Afrika, Naher und Ferner Osten gegen seine Interessen im grenznahen Bereich - in Europa und Eurasien - einzutauschen. Es gibt, anders gesagt, ein Verständnis der Prioritäten. Die USA dagegen sind eine Supermacht mit globalen Ambitionen. Für die Weltordnungsmacht ist nichts von zweitrangigem Interesse. Sie kann nichts opfern, auch ein Tausch lohnt sich für sie nicht, denn würde sie an einem Ort ein Fiasko erleiden, könnte es zu einem Dominoeffekt kommen. Es gilt deshalb, alle anderen so weit wie möglich in Schach zu halten. Die Folge ist, es kommt kein konstruktiver Dialog zu Stande. Der Versuch der USA, ihre Führungsposition durch Muskelspiel und Entschlossenheit zu stärken und alle nur möglichen Einflussbereiche in der ganzen Welt zu schützen, könnte eine jähe Eskalation von Spannungen bewirken.

Betrachtet man die Situation aus einem breiteren Blickwinkel, gibt es Grund für die Annahme, dass Russland nicht nur von einer Orientierung an den westlichen Werten abrückt, sondern deren Geltung insgesamt in Frage stellt. In einem längeren historischen Prozess entsteht in Russland eine eigene soziale und politische Identität, die nach einer Übergangszeit das obsolet gewordene sowjetische Modell des Selbstverständnisses ersetzen könnte.

Das antiamerikanische Pathos der russischen Elite könnte nach dem Machtwechsel im Weißen Haus im Januar 2009 aber die Weiterführung der russischen Außenpolitik erschweren. Die Kritik der Administration George Bush, an der die russische Elite Geschmack gefunden hat, hat dann keinen Sinn mehr. Unter dem neuen Präsidenten wird sich das Image der US-Regierung wesentlich verändern. In der Anfangszeit sind ihm schon deshalb Dividenden sicher, weil er nicht George Bush ist. Weltweit häufen sich Appelle an die USA, ihre Außenpolitik zu erneuern, ein respektvolles Verhältnis mit den Verbündeten wiederherzustellen, in einen Dialog mit Opponenten zu treten und sich nicht auf einseitige Konzepte zu stützen.

Kollektive Vorgehensweisen (oder wenigstens Konsultationen) scheinen in der Welt wieder »in« zu sein. Deshalb könnte das russische Streben nach »freier Hand«, das den USA abgeschaut wurde und in den letzten zwei Jahren immer deutlicher in Erscheinung tritt, dem allgemeinen Trend zuwiderlaufen. Würde sich das Image der Vereinigten Staaten verändern, hätte Russland keinen »Gegenpol« mehr. Und wenn Russland sein Verhalten und die Sprache, in der es mit der übrigen Welt spricht, nicht korrigiert, könnte ihm bald selbst ein negatives Image anhaften. Es könnte dazu kommen, dass Moskau Washingtons Praxis nach dem Motto »Jeder tut das, wofür seine Kräfte reichen« ausgerechnet zu dem Zeitpunkt übernimmt, wo die Amerikaner selbst unter Beifall der übrigen Welt davon Abstand zu nehmen versuchen.


Integration in Frage gestellt

Trotz zunehmender Schwierigkeiten im Verhältnis zum Westen verfolgte Präsident Wladimir Putin das strategische Ziel, Russland ökonomisch wie politisch in das internationale System zu integrieren. Die Voraussetzungen für eine solche Integration veränderten sich, Russlands Ansprüche wuchsen, das Ziel wurde jedoch von niemandem aufgegeben. Putin versuchte auf seine sehr spezielle Manier, die westlichen Partner von der Richtigkeit des russischen Ansatzes zu überzeugen. Ein typisches Beispiel war seine inzwischen berühmte Münchener Rede im Jahr 2007: In aggressiver und provokanter Manier wollte Wladimir Putin die westlichen Politiker zu einer offenen Diskussion über brisante Sicherheitsfragen animieren und ihre Aufmerksamkeit auf die russischen Argumente lenken. Sein Versuch blieb aber erfolglos.

Nach Äußerungen Dmitrij Medwedews zu urteilen, ist Moskau nicht mehr gewillt, etwas zu erläutern und jemanden von der Richtigkeit seiner Schritte zu überzeugen. Medwedew will lediglich über Russlands Standpunkt informieren, ohne sich auf eine Polemik einzulassen. Dies, weil die russischen Politiker zu der Schlussfolgerung gelangt sind, dass es keinen Sinn mehr habe, etwas zu erläutern, wenn der Westen sich nicht einmal Mühe gebe, die russische Logik zur Kenntnis zu nehmen. Diese psychologische Disposition erklärt auch die unerwartete und nicht geplante Anerkennung der Unabhängigkeit von Abchasien und Südossetien. In den ersten Tagen versuchte Moskau gewissenhaft, das Kosovo-Szenario zu kopieren. Die Argumente für den Einmarsch der Truppen, die Beschreibung der Situation und die angebotenen Schritte wiederholten Punkt für Punkt die Ereignisse von 1999 und das Vorgehen des Westens zur Abtrennung eines Teils des serbischen Territoriums. Der Kreml hegte noch die Hoffnung, dass die USA und Europa ihre eigene Logik akzeptieren würden, auch wenn sie zu ihnen in russischer Ausführung zurückkehrt.

Doch diese Hoffnung trog. Niemand wollte Russland glauben, und es wurde klar, dass der Kosovo-Weg (Resolution des UN-Sicherheitsrates - faktische Souveränität der umstrittenen Gebiete - weiterer Verhandlungen aussichtslos - Anerkennung der Unabhängigkeit) diesmal versperrt blieb - trotz der frappierenden Ähnlichkeit mit dem Jugoslawien-Fall und der aus Moskauer Sicht offenkundigen Tatsache, dass die Führung in Tiflis gegen westliche Grundwerte verstoßen hat. Der Wunsch, etwas zu beweisen und mit diplomatischen Mitteln durchzusetzen, wurde aufgegeben, und Moskau begann auf eigene Faust zu handeln, ohne auf Abstimmungen zu warten. In gewissem Sinne betritt Russland den Weg, den die Neokonservativen aus der Bush-Administration Anfang dieses Jahrhunderts gebahnt hatten.

Nach Aussagen von Dmitrij Medwedew war dies keine einmalige Ad-hoc-Entscheidung, sondern ein neues Verhaltensmuster. Statt »strategischer Partnerschaften«, die sich in den letzten 15 Jahren stark vermehrt haben, wird die strategische Selbständigkeit, die man auch als Alleingang bezeichnen könnte, zur Priorität. Man setzt sich keine Integrationsziele mehr. Klarer und exakter denn je wird dafür das Ziel formuliert, die eigenen Einflusssphären zu konsolidieren und die Positionen Russlands als »unabhängiger Pol« in der multipolaren Welt zu festigen. Der fünfte von den Grundsätzen der Außenpolitik, die Medwedew nach dem Krieg proklamiert hat, begründet das Anrecht Russlands auf Regionen mit »vorrangigen Interessen«. Die Einflusszone ist ein untrennbarer Teil des selbständigen »Machtzentrums«.

Die Finanzkrise liefert für diese Logik weitere Argumente. Im Rahmen der Diskussion, die derzeit in Russland geführt wird, sprechen viele vom Ende einer ganzen Entwicklungsetappe des Weltkapitalismus, ja sogar vom Niedergang der Globalisierung. Davon ausgehend wird über unterschiedliche Modernisierungsmodelle diskutiert und die Frage aufgeworfen, ob eine Modernisierung auf der Grundlage eigener Kapazitäten möglich sei. Es sei hier unterstrichen, dass es sich nicht um einen Isolationismus, sondern viel eher um eine selektive Kooperation mit dem Ausland handelt. Dies ist nicht gegen den Westen gerichtet, die russische Politik büßt aber ihren Westzentrismus ein. Russland wird seine Schritte nicht mehr daran ausrichten, wie sie sich auf das Verhältnis mit Europa und den USA auswirken.

Das Fehlen zuverlässiger Verbündeter, worüber schon lange gesprochen wird, tritt nun in aller Schärfe als Problem zutage. Es ist überzogen, die Lage Russlands als internationale Isolation zu bezeichnen, und nur wenige Länder zeigten die klare Absicht, Moskau zu bestrafen, während die meistens nicht wussten, wie sie reagieren sollten. Russland sah sich jedoch in einem Vakuum. Sein Vorgehen wurde von niemandem unterstützt, obwohl die Motive dafür unterschiedlich waren.

Moskau wird für die Beziehungen mit den Ländern, auf deren Unterstützung es rechnen möchte, neue Prinzipien formulieren müssen. Der Aufbau dauerhafter Allianzen wird durch objektive Probleme erschwert: Praktisch jeder Staat hat in der globalen Welt seine eigenen spezifischen Interessen. Ein Versuch in dieser Richtung kann zwar unternommen werden, viel aussichtsreicher ist jedoch die Bildung von Ad-hoc-Koalitionen, die die Lösung konkreter Aufgaben zum Ziel haben, denn das trägt der Eigenart der multipolaren Welt besser Rechnung. Sollte es Russland nicht gelingen, die Haltung der führenden Länder zu seinen Gunsten zu verändern, besteht das Risiko, dass es sich Ländern annähert, denen gegenüber sich Russland sonst vorsichtiger verhalten hätte. Eine andere Gefahr besteht darin, dass solche Partner den »Alleingang« Moskaus ausnutzen könnten, um für ihre Unterstützung bestimmte Privilegien zu erwirken.

Es ist nicht zu übersehen, dass sich die Balance der Kräfte und Einflussmöglichkeiten in der Welt ändert. Der Aufschwung Asiens, die größere politische Aktivität der Dritten Welt und die zunehmende Bedeutung der mineralischen Rohstoffe als politisches Hauptkapital lassen in der mittel- und langfristigen Perspektive beachtliche Verschiebungen erwarten. In diesem Zusammenhang darf die Finanzkrise nicht unerwähnt bleiben. Sie wird eine Überprüfung der russischen außenpolitischen Ambitionen und deren Anpassung an die begrenzten Möglichkeiten des Landes erzwingen.


Das postsowjetische Minenfeld

Russland hat zum ersten Mal nach dem Zerfall der Sowjetunion gezeigt, dass es fähig und bereit ist, außerhalb des eigenen Territoriums Gewalt anzuwenden, um eigene Interessen zu verfolgen. Nachbarstaaten sehen sich nun mit der Frage konfrontiert, wie sie ihre Sicherheit gewährleisten können. Das Dilemma ist klar. Eine Möglichkeit ist, Schutz bei Großmächten außerhalb der eigenen Region zu suchen, wobei es sich nicht um allgemeinpolitische Unterstützung, sondern um verbindliche Sicherheitsgarantien handelt. Eigentlich kann nur von den Vereinigten Staaten die Rede sein, denn die Bereitschaft Europas, an einem militärpolitischen Tauziehen teilzunehmen, ist äußerst zweifelhaft. Eine andere Möglichkeit wären Verträge mit Russland, um Sicherheitsgarantien zu bekommen. Dadurch könnte man nicht nur einen Schutz gegen äußere Gefahren erhalten, sondern sich auch gegen Spannungen im Verhältnis mit dem mächtigen Nachbarn absichern. Georgien und die Ukraine haben sich für die NATO und die USA entschieden. Den anderen Nachbarstaaten stehen schwierige Entscheidungsprozesse bevor.

Russland wird eine nicht minder wichtige Frage beantworten müssen. Welches sind die Kriterien für jene wirklich lebenswichtigen Interessen, deren Schutz die Gewaltanwendung rechtfertigt? Und wie weit will Moskau gehen, um die Dominanz des Westens in der Zone seiner vorrangigen Interessen zu verhindern? Der georgisch-russische Krieg führte vor Augen, dass das Territorium der ehemaligen Sowjetunion auch fast zwei Jahrzehnte nach deren Zerfall explosiv bleibt. Die Staatlichkeit aller Länder (einschließlich der Russischen Föderation), die an die Stelle der UdSSR traten, ist spröde und instabil. Erstens hat keines von ihnen früher in den jetzigen Grenzen existiert und in vielen Fällen lassen sich diese Grenzen schwer als »natürlich« bezeichnen: weder historisch, noch ethnisch, noch psychologisch. Warum gehören zum Beispiel Gebiete mit überwiegend nichtrussischer Bevölkerung wie der Nordkaukasus oder Gebiete, die vor relativ kurzer Zeit der UdSSR angeschlossen wurden (Kaliningrad), zu Russland, während Kiew, die Wiege der russischen Staatlichkeit, nicht dazugehört? Für diese Tatsachen gibt es keine vernünftige Erklärung; es waren eben Launen der Geschichte.

Das Potential territorialer Konflikte ist immens, und zwar nicht nur mit Beteiligung Russlands. Als Wladimir Putin beispielsweise auf dem NATO-Gipfel in Bukarest George Bush erläuterte, die Ukraine sei ein »künstlicher Staat«, wobei er ihre Gebietserweiterung in der Sowjetzeit meinte, horchte der Präsident Rumäniens Traian Basescu auf. Einige Tage später erinnerte er öffentlich daran, dass die Bukowina nach dem Molotow-Ribbentropp-Pakt an die Ukraine gefallen war. Durchaus vorstellbar wären auch schwere Streitigkeiten in Zentralasien, wo das Überleben ganzer Völker von der Kontrolle über die Wasserressourcen abhängt.

Zweitens hat sich in keinem postsowjetischen Land eine nationale Identität herausgebildet. Wenn man vom monoethnischen Armenien absieht, ist die Bevölkerung der übrigen ehemaligen Sowjetrepubliken multinational. Beim Aufbau einer modernen Bürgernation, deren Grundlage nicht der Faktor Blut, sondern die Zugehörigkeit zu einem gemeinsamen Staat ist, sind jedoch nirgendwo Erfolge zu verzeichnen. Im Gegenteil: Der Staatsaufbau kränkelt überall an seiner ethnischer Ausrichtung. (Als Ausnahme könnte Weißrussland angesehen werden, aber auch dort dürfte die nationalistische Renaissance eher aufgeschoben als aufgehoben sein.) Hier wirkt sich auch der internationale Kontext aus: Im Falle des Kosovo hat die Weltgemeinschaft bewusst den Versuchen, ein multinationales Gebilde zu erhalten, das ethnische Prinzip der Staatsabgrenzung vorgezogen.

Je mehr eine Regierung die Dominanz einer Sprache oder einer Geschichtsversion zu Gunsten der Titularnation in den Vordergrund stellt, umso mehr wächst das gesellschaftliche Spannungspotential. Die Vergangenheit wird als Vehikel für eine nationalistisch gefärbte Selbstidentifikation benutzt. So hat die Forderung des offiziellen Kiew, die Hungersnot von Anfang der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts als Genozid des ukrainischen Volkes einzustufen, einen offensichtlichen, wenn auch nicht ausgesprochenen politischen Sinn: Auf Moskaus Weisung seien Ukrainer umgebracht worden.

Auch die Besatzungsmuseen in Tiflis und Kiew, das Kolonisationsmuseum in Taschkent und die Aufrufe, den Kommunismus dem Faschismus gleichzustellen, werden instrumentalisiert, um politische Ziele zu legitimieren. Die Polemik über die Auslegung der Geschichte wird immer schärfer, die Spannungen sowohl innerhalb der Länder als auch zwischen den ehemaligen Randgebieten und der Metropole nehmen zu. Aber auch Russland will seine Vergangenheit nicht ordentlich bewältigen und versucht, seine Identität aus Elementen nationalistisch gefärbter Geschichtsmythen zu konstruieren.

Drittens ist in keinem der postsowjetischen Länder die gesellschaftliche und politische Ordnung bereits gefestigt. Als Kriterium für den demokratischen Charakter eines Regimes dient nicht der Zustand seiner Institutionen, sondern seine geopolitische Orientierung. Das Beispiel Georgiens führt klar vor Augen: Eine aktive proamerikanische Position ist wichtiger als die Treue zu den Grundsätzen der Demokratie. Generell gilt, dass geostrategische Interessen die innere Entwicklung der postsowjetischen Staaten eher behindern. Die Instrumentalisierung der Demokratie bringt diesen Begriff in Verruf und verhindert, dass die Voraussetzungen für eine demokratische Entwicklung auf natürliche Art und Weise heranreifen.

In einer Situation, in der die Zugehörigkeit der Transformationsstaaten zum »Klub« von vornherein feststeht, wie es in Mittel- und Osteuropa der Fall war, fördert die äußere Obhut den Reformprozess. Wird jedoch ein Land Objekt der globalen Konkurrenz, erschwert das die Transformation ungemein. Die Einmischung von außen kann die internen Prozesse unterschiedlich beeinflussen, sie kann den Regimewechsel beschleunigen, aber auch das alte Regime konservieren und Wandel verhindern. In beiden Fällen hat das für die Modernisierung verheerende Folgen. Die Tragödie vom August 2008 wurde zu einem wichtigen Markstein in der Geschichte des postsowjetischen Raums. Die strategische Konkurrenz nimmt offene Formen an; niemand - weder Russland, die USA, noch Europa - versucht sie noch zu verbergen.


Stabilität und Institutionen

Durch das schroffe Vorgehen Russlands ist die Strategie des Westens zur planmäßigen Erschließung des geopolitischen Erbes der Sowjetunion an ihre Grenzen gestoßen. Die Vereinigten Staaten und ihre europäischen Verbündeten sehen sich nun dem Dilemma gegenüber, entweder hart zu bleiben und zu einer umfassenden Eindämmung der neuen Ambitionen Moskaus überzugehen, oder mit Russland einen Interessenausgleich zu suchen und sein Anrecht auf eine Sonderstellung im eigenen Einflussbereich anzuerkennen. Die Antworten auf diese Frage gehen in Europa und in Übersee stark auseinander.

In den wichtigsten Institutionen des Westens, vor allem in der NATO, zeichnet sich eine Spaltung ab. Die USA sind mit militärpolitischen Verpflichtungen überbürdet. Europa zerfällt in zwei Lager: das der Entschlossenen und das der Gemäßigten. Dies erschwert die Entscheidungsfindung in der NATO und besonders in der EU. Der Konflikt um Georgien kann als ein weiterer Anstoß zur Umgestaltung der Sicherheitsstrukturen dienen. Denkbar ist eine Entwicklung hin zu bilateralen (USA plus willige Länder) oder regionalen (zum Beispiel Länder Mittel- und Osteuropas plus USA) Allianzen parallel zur NATO, wobei sich diese immer mehr in einen politischen Klub verwandeln wird.

Eine positive Folge der Finanzkrise besteht darin, dass die internationale Diskussion über die Notwendigkeit, die Institutionen des Global Government zu erneuern, neuen Auftrieb bekommen hat. Russland hat schon seit langem auf den desolaten Zustand dieser Institutionen hingewiesen, doch wurde Moskaus Meinung nicht zur Kenntnis genommen.

Dies auch, als Russland vor eineinhalb Jahren nachdrücklich eine Reform des iwf forderte und eine alternative Kandidatur für den Posten des IWF-Direktors vorschlug. Damals hieß es im Westen, Moskau mache dies, um die eigene Rolle in der Weltarena aufzuwerten. Heute ist offensichtlich, dass weder der iwf noch sein jetziger Direktor im Stande sind, die ihnen zugedachten Aufgaben zu meistern.

Ein weiterer Vorschlag Russlands besteht darin, einen breiten internationalen Dialog über die euroatlantische Sicherheit in Gang zu setzen. Doch findet diese Idee kaum Widerhall im Westen. Dabei ist das Problem, auf das Dmitrij Medwedew im Juni 2008 während seines Besuches in Berlin hingewiesen hat, durchaus ernst zu nehmen. Alle Institutionen, die sich mit der euroatlantischen Sicherheit befassen, stammen noch aus der Epoche des Kalten Krieges und sind für eine ganz andere Wirklichkeit entwickelt worden. Statt nach der Beendigung des Kalten Krieges neue Institutionen aufzubauen, auf die sich die »neue Weltordnung« hätte stützen können, wählte man einen anderen Weg: Man stärkte die westlichen Institutionen, die angeblich im Kalten Krieg »gesiegt« haben. Das Resultat können wir heute beobachten: Sie sind außer Stande mit der neuen Realität fertig zu werden, gleichgültig ob es darum geht, globale politische Entscheidungen zu treffen, oder ob es sich um Sicherheits- oder Wirtschaftsfragen handelt. Einige Organisationen festigen nicht nur nicht die Stabilität, sondern untergraben sie: Die NATO-Erweiterung beispielsweise, einst ein Instrument des Sicherheitsexportes, wird immer mehr zu einem konfliktverschärfenden Faktor.

Die Ereignisse der letzten Monate führten deutlich vor Augen, dass die europäische Politik ein zusammengehörendes Ganzes ist. Die wirtschaftliche Zusammenarbeit lässt sich nicht von Sicherheitsfragen trennen. Deshalb kommt die von Moskau vorgebrachte Idee eines »Helsinki II« zur rechten Zeit. Europa braucht eine neue Grundlagenvereinbarung, die wie die Schlussakte 1975 diverse »Körbe« enthalten könnte. Das Spektrum der Themen reicht von militärpolitischen Garantien und Grenzfragen - wir haben erlebt, dass sie heute wieder überaus aktuell sind - bis zu Wirtschaftsregeln und Grundsätzen der humanitären Zusammenarbeit.

Darüber hinaus wurde eine Krise des Begriffsapparates der Weltpolitik sichtbar. Er stammt aus den 1990er Jahren des 20. Jahrhunderts. Zentrale Konzepte sind: Fehlen einer Systemkonfrontation, strategische Partnerschaft, Herausbildung einer einheitlichen, auf gemeinsamen Vorstellungen beruhenden Welt, Dominanz der Soft Power über die Hard Power. Die Eigenart der gegenwärtigen internationalen Situation besteht hingegen darin, dass das offensichtliche Erstarken der unterschiedlichsten Formen des Wettbewerbs mit einer Vertiefung der ökonomischen Interdependenz zwischen den Wettbewerbern einhergeht. Und das nimmt den so beliebten Parallelen mit dem »Großen Spiel« des 19. Jahrhunderts, dem Vorabend des Ersten Weltkrieges oder der Epoche des Kalten Krieges ihren Sinn.

Das ideologisch-politische Durcheinander verschlimmert nur die Ungleichgewichte, die sich in der Welt schnell mehren. Die Regeln und Normen der internationalen Beziehungen, die in der Epoche des Kalten Krieges galten, wurden in den letzten zehn Jahren erfolgreich zerstört, neue wurden aber nicht entwickelt. Die Welt tritt in die abschließende Etappe des Zerfalls des bisherigen Ordnungssystems ein. Die Finanzkrise dürfte alle Akteure, auch Russland, dazu bewegen, sich wieder auf gemeinsame Interessen zu besinnen und die Notwendigkeit eines multilateralen Vorgehens einzusehen. Die Überwindung des Egoismus, der heute ausnahmslos allen internationalen Subjekten eigen ist, tut Not. Gelingt dies nicht, könnten zunehmendes Chaos und steigender Konkurrenzdruck angesichts der vielfältigen gegenseitigen Abhängigkeiten sehr gefährliche Folgen haben.


Fjodor Lukjanow
*1967; Chefredakteur der Zeitschrift »Russia in Global Affairs«, Moskau;
editor@globalaffairs.ru


Copyright 2009 Friedrich-Ebert-Stiftung


*


Quelle:
Zeitschrift "Internationale Politik und Gesellschaft" /
journal "International Politics and Society", Ausgabe 1/2009, S. 144-153
Herausgeber: Friedrich-Ebert-Stiftung
Hiroshimastr. 17, 10785 Berlin
Telefon: 030/269 35-77 14, Fax: 030/269 35-92 48
E-Mail: ipg@fes.de
Internet: www.fes.de/ipg

Erscheinungsweise: vierteljährlich
Preise (frei Haus): Einzelheft: 11,00 Euro
Abonnement: 37,00 Euro jährlich


veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Februar 2009