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RUSSLAND/126: Rußland im 21. Jahrhundert - Modell einer wünschenswerten Zukunft (IPG)


Internationale Politik und Gesellschaft 2/2010

Russland im 21. Jahrhundert: Modell einer wünschenswerten Zukunft

Von Igor Jurgens und Ewgenij Gontmacher


Aus dem Editorial:

"Im Februar dieses Jahres hat [...] das dem russischen Präsidenten nahestehende Institut für moderne Entwicklung (INSOR) eine Studie veröffentlicht, die eine Vision für Russland im 21. Jahrhundert entwickelt und die in Russland kontrovers diskutiert wird. Die Autoren unter Leitung von Igor Jurgens und Ewgenij Gontmacher plädieren darin für weitreichende Reformen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, darunter die Zulassung politischer Konkurrenz, die Stärkung partizipativer Strukturen und der Umbau des Sicherheitsapparats.
Außenpolitisch wird sogar der russische Beitritt zur NATO und EU als ernsthaft zu diskutierende Option thematisiert. Dass die INSOR-Vorschläge auch außerhalb Russlands auf großes Interesse stoßen, zeigte sich nicht zuletzt auf einer Veranstaltung der Friedrich-Ebert-Stiftung im März 2010, auf der INSOR-Vertreter ihr Reformprojekt erstmals außerhalb Russlands zur Diskussion stellten. INTERNATIONALE POLITIK UND GESELLSCHAFT präsentiert in dieser Ausgabe exklusiv eine deutsche Version der Reformvorschläge des russischen Instituts."
(Auszug aus dem Editorial S. 6-7)


Russland im 21. Jahrhundert: Modell einer wünschenswerten Zukunft

Von Igor Jurgens und Ewgenij Gontmacher(*)


Einleitung

Im Mittelpunkt der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit steht die Zukunft Russlands. Darüber reden und schreiben Experten, Politiker und führende Repräsentanten des Landes. Das Interesse für Prognosen und Zukunftsszenarien ist ein deutliches Zeichen dafür, dass das Land Wandlungen braucht. Was und wie soll sich wandeln? Hier hängt vieles von der politischen Führung, in erster Linie aber von der Gesellschaft selbst ab. Zwanzig Jahre nach dem Beginn der gesellschaftlichen Transformation müssen wir feststellen: Die Entwicklung ging schwer voran. Zahlreiche Krisen stellten jedes Mal in Frage, ob der gewählte Kurs richtig war. Die positiven Entwicklungsziele waren entweder nur spekulativ oder rein technokratisch. Wir bewegten uns fort, ohne bestimmt zu haben, wo wir hinwollen und wie unser Leitbild lautet.

Nun müssen die Gesellschaft und ihre führenden Vertreter ihre Wahl treffen: Wie sehen wir uns selbst, unser Land und unseren Staat in der Zukunft? Worauf wollen wir hinarbeiten, damit die sich uns bietende einmalige historische Chance nicht vertan wird?

Wir alle sind uns darüber im Klaren, dass Russland am Scheideweg steht, dass es klar seine Ziele definieren und bewusst, mit Beteiligung der gesamten Gesellschaft, seine Wahl treffen muss, um diese Weggabelung richtig und ohne irreversible Verluste zu passieren. Von der heutigen Wahl hängt es ab, ob es Russland endlich gelingen wird, ein in jeder Hinsicht modernes Land zu werden. Uns droht jetzt wieder die Gefahr, dass wir hilflos einem Niedergang der Großmacht zuschauen würden. Russland kann sich noch eine Stagnationsperiode, nach der es endgültig im Hinterhof der Zivilisation zur Ruhe kommen würde, nicht leisten.

In solchen Situationen erlangen Leitbilder - normative Modelle, die zeigen, wie wir unser Land in absehbarer Zukunft sehen wollen - besondere Bedeutung. Das ist kein Traum, sondern ein rationaler Versuch zu begreifen, wie wir schon gewohnte Erschütterungen, zu denen Stagnation und Rückstand führen, vermeiden und ein Entwicklungsniveau erreichen können, das unserer Geschichte und unseres Potenzials würdig wäre. Damit wir die Gefahren bannen und die Herausforderungen unserer Zeit beantworten können, muss die Modernisierung Russlands folgende Eigenschaften besitzen:

a) Tiefgreifend: Aus dem Gleis der ressourcenorientierten Entwicklung kommen heißt, eine jahrhundertealte Tradition überwinden. Das wäre eine Aufgabe von gleicher Dimension wie die Errichtung der Planwirtschaft bzw. der Wiederaufbau eines zivilisierten Marktes auf ihren Ruinen, also ein "Formationswechsel".

b) Systematisch: Wirtschaftlicher und technologischer Fortschritt lässt sich nicht durch eine Archaisierung der Politik und des sozialen Lebens herbeiführen. Solche Ansätze verdammen die Modernisierung dazu, fragmentarisch und instabil zu sein, wo zeitweilige Vorstöße von historischen Talfahrten abgelöst werden.

c) Entschlossen: Unter den Verhältnissen der immer schneller laufenden Innovationsprozesse wird ein Rückstand irreversibel. Einen solchen Prozess durchläuft Russland zum Teil schon heute.

Da die jetzige Konjunktur eher Trägheit fördert, muss die Modernisierung vorausgreifend gestaltet werden, wobei man in vielerlei Hinsicht auf Intuition und politischen Willen setzt. Dies verstärkt die Notwendigkeit, auf technokratische Illusionen, die die Modernisierung auf Wirtschaft, Technologien und "manuelle Steuerung" reduzieren, zu verzichten. Die Modernisierung beginnt mit der richtigen Gemütsverfassung. Besondere Bedeutung erlangen solche geistigen Komponenten wie Werte und Grundsätze, Moral und Motivation, Zielsetzungen und Tabus.

Zu Beginn des neuen Jahrhunderts muss Russland einen fundamentalen Wertekonflikt bewältigen. Die Ressourcengesellschaft, die sich auf die Rohstoffwirtschaft stützt, ist traditionell dazu geneigt, die Macht und den Staat als höchsten Güterverteiler und Wohltäter zu glorifizieren. Der Staat betrachtet seinerseits die Bevölkerung teils als Last, teils als erneuerbares Material für historische Leistungen, gigantische Produktionen, mitunter aber auch als Objekt für polittechnologische Manipulationen. Es entsteht eine ganze Zivilisation von niedrigen Veredelungsstufen, eine Art Halbfabrikatkultur. Das Land selbst wird aufgefasst als ein ewiges Halbfabrikat für eine "richtige" Existenz irgendwann in der Zukunft.

Jedoch zum Unterschied zu den Etappen der Industrialisierung und Urbanisierung usw. lässt sich eine vollwertige Modernisierung in der postindustriellen Epoche unter den Verhältnissen der Unfreiheit im Grundsatz nicht durchführen. In der modernen Welt liegt das wichtigste Entwicklungspotenzial in den kreativen Fähigkeiten des Menschen, in seiner Energie und Initiative. In der modernen Welt kann eine Überbetonung der Rolle des Staates, der Zentralgewalt und der kommunitaristischen Werte a priori nicht produktiv sein. Die Entwicklung vollzieht sich auf der Basis von Recht und Freiheit. Nur auf dieser Grundlage können auch geopolitische, Einfluss-, Großmacht- und andere Ambitionen befriedigt werden. Die Unfreiheit und Rechtlosigkeit der Bürger verdammen das Land im Gegenteil zum ewigen Zurückbleiben und zu geostrategischen Niederlagen - unabhängig davon, wie patriotisch und innovativ sich die politische Führung auch zeigen mag.

Es gibt mehrere Gründe, die eine Erneuerung des politischen Systems zu einem obligaten Element der Modernisierung machen.

Erstens reduziert die Demokratie als Diskussions-, Abstimmungs- und Rückkopplungsmechanismus zwischen dem Staat und der Gesellschaft das Risiko strategischer Fehler. Aus internationalen Erfahrungen ist bekannt, dass unter den zehn besten und zehn schlechtesten wirtschaftlichen Transformationsmodellen sich je acht Nichtdemokratien befinden: Dank autoritär beschlossener Strategien können Staaten also entweder viel gewinnen oder alles verlieren. Für Russland ist das Risiko, die Modernisierung zu verlieren, unzulässig.

Zweitens wird die Modernisierung in großem Maße auf dem Humankapital aufgebaut. Hochqualifizierte Arbeitskräfte sind ihr wichtigstes Erfolgsgeheimnis. Sie benötigt also auch Instrumente für eine Reproduktion des Humankapitals (Bildungssystem) und für seine Pflege (ein Gesundheitssystem und ein Altersvorsorgesystem). Die Einführung solcher Instrumente erfordert auch Offenheit, einen Dialog mit den Verbrauchern, sowohl die Berücksichtigung ihrer objektiven Interessen als auch subjektive Einschätzungen dessen, ob die zu ergreifenden Maßnahmen sozial gerecht sind.

Drittens (als Fortsetzung des ersten und des zweiten Arguments) wollen die unternehmerischen und gesellschaftlichen Aktivitäten der Bürger vom bürokratischen Druck befreit werden, sonst würde eine rein technologische Modernisierung einfach wirkungslos bleiben. So würden die Erfolge bei der Entwicklung der Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) nur ein Spielzeug bleiben und keinen Multiplikatoreffekt bringen, würde man nicht auch zugleich die administrativen Barrieren abbauen und die Korruption zügeln. Der Vorteil, den die IKT geben, besteht in einer schnelleren Datenverarbeitung und Beschlussfassung. Diesen Effekt würde aber ein korrupter Beamter, der Schmiergelder erwartet, oder ein Bürokrat, der auf langen Abstimmungen besteht, leicht zunichtemachen. Das Gleiche trifft auch in Bezug auf die Steigerung der Energieeffizienz zu: Eine Senkung der Produzentenkosten würde ein korrupter Beamter als Chance deuten, den Unternehmer mit einer höheren Korruptionsrente zu belegen. Hinzugefügt seien noch die verbreiteten Praktiken illegaler Unternehmensübernahmen und die unklaren Eigentumsverhältnisse. Es ist klar, dass solch ein Modus der Beziehungen zum Staat keinen günstigen Rahmen für eine Modernisierung bieten kann.

Eine Liberalisierung, die in der Politik beginnen und sich auf die Alltagspraktiken ausbreiten würde, würde den aktivsten und produktivsten Bürgergruppen Möglichkeiten für eine freie Selbstverwirklichung bieten und eine Grundlage für massive Investitionen - sowohl in Form von Finanzmitteln als auch in Form von Händen und Köpfen - schaffen.

Es geht darum, eine Wirtschaft zu schaffen, die Innovationen generiert, nicht aber darum, Innovationen zu generieren, um sie dann mühevoll in die Wirtschaft einzuführen. Der neue globale Wettbewerb hat zwei Hauptschwerpunkte:

Menschen, ihre Qualifikationen, Kenntnisse und Fertigkeiten, ihre Aktivität, ihr Innovations- und Unternehmungsgeist, ihre Fähigkeit, im Team und nicht nur für Geld, sondern auch für die Erreichung gesamtnationaler Ziele zu arbeiten;
Institutionen und Praktiken, Einrichtungen, Gesetzgebung, Rechtsanwendung usw. bis hin zur ideologischen und politischen Lage, die die Entfaltung des Innovationsgeistes entweder fördert oder blockiert.

Auf der Ebene der offiziellen Rhetorik wird bereits anerkannt, dass das sogenannte Humankapital, sein Bestand, seine Dynamik und Qualität, den größten Wert und das wichtigste Potenzial der zukünftigen - eigentlich aber auch schon jetzigen - Entwicklung darstellt.

Sollten diese Worte greifbar werden, würde die Pflege und Mehrung des Humankapitals zwei Schwerpunkte haben.

Erstens ist die Aufgabe einer erweiterten Reproduktion des Humankapitals zu meistern. Unser Bildungssystem muss umgestaltet werden, und zwar mit Orientierung nicht nur an neuem Wissen und Innovationspragmatik, sondern auch an Werten und Moralvorstellungen, die die Innovationsgesellschaft von der Rohstoff- und Ressourcengesellschaft unterscheiden. Die Formierung einer neuen Generation ist ein Prozess, der einen bestimmten Zeitraum in Anspruch nimmt, deshalb bleibt praktisch keine Zeit mehr übrig für eine Reform der Bildungs- und Erziehungseinrichtungen.

Zweitens: Obwohl das Brain-Drain-Thema für die Entwicklung der Wissenschaft als solcher von ambivalenter Bedeutung ist, ist dieses Problem für das Land wesentlich, ja schon kritisch geworden. Um einem Exodus der Intelligenz vorzubeugen und deren Rückkehr zu fördern, müssen wenigstens normale, wettbewerbsfähige Bedingungen für deren Selbstverwirklichung geschaffen werden. Nicht minder wichtig wäre es, ein günstiges politisches und soziales Klima zu schaffen, das jeden vernünftig denkenden Menschen mit Selbstachtung weder deprimieren noch beleidigen würde. Heute ist das wichtiger als Geld.

Zugleich gibt es eine ganze Reihe äußerer (in Bezug auf das eigentliche Innovationssystem) Voraussetzungen, ohne welche beliebige Versuche, Innovationen systemisch einzuführen und voranzubringen, zum Scheitern verurteilt sind. Diese Voraussetzungen sind längst beschrieben worden, bleiben aber nach wie vor aktuell. Es sind insbesondere:

- ökonomische Freiheit,
- Fehlen von Korruption,
- Fehlen bürokratischer Schranken,
- Voraussetzung für die Entwicklung kleiner und mittlerer Unternehmen,
- Wettbewerbsfähigkeit,
- Zugänglichkeit des Risikokapitals,
- Loyalität der Gesellschaft gegenüber dem Geschäftserfolg,
- Schutz gegen Kriminalität und Beamtenwillkür,
- Vertragserfüllungsinstrumente.

Deshalb müssen beliebige strategische Entwicklungen, Pläne und Berichte im Innovationsbereich mit einer Auswertung dieser Voraussetzungen beginnen und enden.

Das Leitbild, das nachfolgend geboten wird, ist weder eine Idealvorstellung noch ein Traum. Jeder normale Mensch will, dass das Land, in dem er lebt, das beste ist: das gerechteste, sicherste und wohlhabendste, das in der Welt am meisten respektierte und schönste. Diesem Bild wäre auch nichts mehr hinzuzufügen. Deshalb haben wir uns etwas anderes zur Aufgabe gemacht: Wir möchten Russland beschreiben, wie es nach einer erfolgreichen Modernisierung aussehen müsste. Eine Modernisierung ist ein komplexer Prozess von Wandlungen in allen Bereichen des sozialen Lebens, der Jahrzehnte dauern kann. Deshalb möchten wir, von dieser allgemeinen Bemerkung abgesehen, keinen Zeitrahmen setzen. Wichtiger wäre eine inhaltliche Charakteristik dieses Zeitpunktes: Den Abschluss der Modernisierung markiert der gesellschaftliche Konsens darüber, dass die Hauptziele des Modernisierungsvorstoßes im Großen und Ganzen erreicht worden sind und dass das Land im weiteren alle Lebensbereiche kontinuierlich vervollkommnen kann, oder mit anderen Worten, dass die Modernisierung zu einem Selbstläufer geworden ist und man keine grundlegenden Umgestaltungen mehr braucht.

Solch ein Russland wäre nicht ideal. Es kann sein, dass das Land am Ende des Modernisierungsvorstoßes nicht die zeitgemäß besten Kennziffern in der Lebensqualität, der Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft und der Qualität der politischen Institutionen erzielt. Nicht diese Kennziffern wären aber das Hauptkriterium für den Erfolg der Modernisierung, sondern die Fähigkeit des Landes, den Herausforderungen der Zeit würdig zu begegnen:

Eine Lebensqualität, die in allen Hauptaspekten mit der der führenden Länder der Welt vergleichbar ist.
Eine wettbewerbsfähige Wirtschaft, die einen hohen Lebensstandard sichert, alle Vorteile der Naturreichtümer und des Humankapitals des Landes umsetzt, in die internationale Arbeitsteilung als eine der führenden Industriewirtschaften integriert ist und die eine nachhaltige Fähigkeit zu Innovationen zeigt.
Ein gerechtes Sozialsystem, das die Erhaltung und Reproduktion des Humankapitals, gleiche Startchancen für alle Bürger und einen zuverlässigen Schutz der sozial schwachen Bevölkerungsgruppen gewährleistet.
Eine Wissenschaft, die führende Positionen einnimmt und sich dynamisch weiterentwickelt, sowie eine nationale Kultur, die ihre Leistungen pflegt und mehrt.
Ein effektiver, bürgernaher Staat und eine gerechte Gesellschaftsordnung, die jedem Bürger persönliche Freiheit und Interessenschutz, die Wahrung der Grundrechte und -freiheiten sowie die Herrschaft des Rechts gewährleistet.
Eine Herrschaft von Gesetz und Ordnung im Land und Sicherheit in der internationalen Arena dank aktiver Beteiligung an den allumfassenden internationalen Sicherheitssystemen und konstruktiver Zusammenarbeit mit allen Nachbarn und führenden Weltmächten; moderne und effektive Streitkräfte, die beliebige mögliche feindliche Aktionen gegen das Land abwenden bzw. unterbinden können.
Eine gesunde Umwelt sowie die Erhaltung und Reproduktion des natürlichen Potenzials des Landes.

Wollen wir uns also in einen lichten Tag irgendwann im 21. Jahrhundert versetzen. Was für ein Russland wird sich unseren Blicken bieten?


Russische Demokratie

Russland ist eine föderative Republik mit starker Präsidialgewalt und einem starken Parlament aus zwei Kammern. Die Amtszeit des Präsidenten wurde auf fünf Jahre verkürzt. Die Duma kehrte zum vierjährigen Wahlzyklus zurück. Im Lande besteht ein Mehrparteiensystem. Es gibt rund 20 registrierte Parteien mit unterschiedlichster politischer Ausrichtung. Die Wahlregistrierung, das Sponsoring der Parteien durch die russische Wirtschaft und die Wahlagitation unterscheiden sich wenig von der Situation in den Ländern Europas. Es kommt mitunter auch zu Miniskandalen, es gibt Fälle einer Schattenfinanzierung, insgesamt aber wird das System dadurch nicht destabilisiert. Im Nordkaukasus und in einigen anderen Teilrepubliken stimmen manchmal 70 Prozent der Wähler für einen der Kandidaten, solche Fälle werden aber immer seltener.

Das Wahlsystem ist gebunden-gemischt: Die Hälfte der Sitze wird nach den Ergebnissen der Abstimmung für Parteilisten und die andere Hälfte an die siegreichen Wahlkreiskandidaten vergeben. Rund 50 Sitze in jeder Duma erkämpfen unabhängige Wahlkreiskandidaten, die im Parlament die Abgeordnetengruppe "Regionalpolitik" bilden. Die meisten Direktkandidaten werden jedoch mit Unterstützung politischer Parteien in die Duma gewählt. Eine weit verbreitete Praxis ist die Bildung von Wahlblöcken. Die Wahlbeteiligung liegt bei den Präsidentschaftswahlen bei 60 Prozent, bei den Dumawahlen knapp über 50 Prozent. Bei den Regionalwahlen gehen 40 bis 60 Prozent der Bürger wählen.

Den Kern des Parteiensystems bilden die rechtszentristische und die linkszentristische Partei. Die erste stützt sich auf die Hilfe der Unternehmerschaft, sowohl der großen als auch der mittleren, die durch die Modernisierung hervorgebracht wurde. Die soziale Basis dieser Partei bildet ein bedeutender Teil des Mittelstandes, der überwiegend in der Privatwirtschaft tätig ist, sowie die Kleinunternehmer. Die linkszentristische Partei unterstützen die traditionellen Wirtschaftsbranchen, in erster Linie die Energie- und Landwirtschaft, Beschäftigte im öffentlichen Sektor, die ländliche Bevölkerung und ältere Wähler. Jede der beiden Parteien vereinigt bei den Wahlen zwischen 30 und 35 Prozent der Stimmen auf sich. Die Programme dieser Parteien unterscheiden sich wesentlich, sie führen einen realen Wahlkampf. Die Rechtszentristen siegen häufiger in den Regionen, die größere Modernisierungsfortschritte erzielt haben, und in Großstädten. Die Linkszentristen regieren in vielen ethnischen Republiken, auch in Kleinstädten haben sie eine größere Unterstützung. Es gibt jedoch auch Ausnahmen von dieser allgemeinen Regel.

Die Vier-Prozent-Hürde bei den Duma-Wahlen überspringen regelmäßig Rechtspopulisten aus der Patriotischen Partei mit einem gemäßigt nationalistischen Programm. Nach dem Ausstieg Wladimir Schirinowskis aus der aktiven politischen Tätigkeit gelingt es ihnen jedoch nicht, mehr als fünf bis sechs Prozent der Stimmen zu bekommen. Auch die Vereinigte Bürgerpartei, eine sozialliberale Koalition von Menschenrechts- und Umweltschutzbewegungen, die einen Apfel als Emblem führt, zieht ins Parlament ein. An der Vier-Prozent-Hürde schwankt die Neue Linkspartei, die Nachfolgerin der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation. Die übrigen Parteien bekommen ein bis zwei Prozent der Stimmen.

Im Oberhaus der Föderalversammlung tagen die vom ganzen Volk gewählten Senatoren.

Die Gouverneure werden direkt von der regionalen Bevölkerung gewählt. Die regionalen Behörden üben nach wie vor einen starken Einfluss auf die kommunale Selbstverwaltung aus. Konflikte zwischen dem Gouverneur und dem Bürgermeister der regionalen Hauptstadt, der mitunter eine andere Partei vertritt, sind keine Seltenheit. Diese Widersprüche werden jedoch im Rahmen der legitimen Institutionen und Verfahren geregelt. Insgesamt hat sich die kommunale Verwaltungsebene wesentlich gefestigt.

Die Judikative erstarkte bedeutend und wurde nach allgemeiner Meinung unabhängig. Das war ein langwieriger Prozess, in dessen Verlauf entscheidend war, dass die Landesführung im Zuge der Modernisierung aktiv die Unabhängigkeit der Gerichte als Institution der Konfliktregelung unterstützt hatte. Der Richter und der Staatsanwalt werden nun von den regionalen Politikern und Beamten als Vertreter des Bundes wahrgenommen, die die Einhaltung der föderalen Gesetze und der Rechtsordnung in jeder russischen Stadt und Ortschaft überwachen.

Was das Niveau der Korruption betrifft, gehört Russland immer noch zum schlechten Dutzend in Europa, hat aber die europäischen Schlusslichter schon überholt und erinnert in keiner Weise an die korrupten Länder der Dritten Welt.

Die Zivilgesellschaft hat sich bedeutend gefestigt. Die Eintragung gemeinnütziger Vereine ist vereinfacht worden, man braucht die Behörden darüber nur in Kenntnis zu setzen. Berichte über ihre Aktivitäten müssen in Massenmedien veröffentlicht werden bzw. werden auf speziellen Webseiten untergebracht. Im Zuge der Modernisierung erstarkten die Verbraucherschutzverbände, sozial orientierte gesellschaftliche Organisationen, spontan entstehende neue Gewerkschaften und Freiberufler verbände. Alle politischen Parteien kämpfen aktiv um die Unterstützung und die Aktivistennetze der gesellschaftlichen Verbände.


Der russische Sozialstaat

Der russische Staat wurde in vollem Maße sozial, was seinem verfassungsmäßigen Hauptmerkmal entspricht. Der Weg der russischen Gesellschaft zu einer eigenen Version des Sozialstaates war weder schnell noch leicht.

Die erfolgreiche Modernisierung der Wirtschaft erzeugte eine Nachfrage nach intelligenter und hochqualifizierter Arbeit: Immer mehr Menschen erkannten einen Zusammenhang zwischen den eigenen Anstrengungen in Bildung und Beruf und ihrem Wohlstand. Dies bedingte seinerseits eine Nachfrage nach niveauvoller Bildung, Gesundheitsschutz und Altersvorsorge, die nicht auf Gleichmacherei, sondern auf das Prinzip der Chancengleichheit gründen. Diese Verschiebung im Wertesystem der Gesellschaft begann schon in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts, rund zehn Jahre nach dem Start der marktwirtschaftlichen Reformen, die Form einer imperativen gesellschaftlichen Nachfrage erlangte sie jedoch erst mit dem Erfolg der Modernisierung. Die Effizienz des Sozialstaates wurde nunmehr vor allem daran gemessen, ob er imstande ist, ein größtmögliches Volumen an Sozialleistungen gerade jenen Bevölkerungsgruppen zu erbringen, die sie benötigen. Es ging also darum, dass die Sozialpolitik des Staates ganz konkrete Adressaten erreicht und einen maximalen sozialen und zugleich finanziellen Effekt erzielt.

Als Ergebnis fällt keine relevante soziale Gruppe, seien es nun Schwerbehinderte oder ältere Leute, aus dem sozialen Gefüge heraus. Dabei leisten sie ihren Beitrag zur Sozialentwicklung und bereichern dadurch auch ihr eigenes Leben, das Leben vollwertiger Mitglieder der Gesellschaft.

Die größte soziale Gruppe der russischen Gesellschaft ist der Mittelstand, zu dem mindestens 50 Prozent der Bevölkerung zählen.

In Lebensstandard und Lebensqualität gibt es - wie in jeder entwickelten Gesellschaft - regionale Unterschiede. Sie sind aber nicht so groß, wie es für das 20. Jahrhundert typisch war. Dies ist auf eine relativ gleichmäßige Verteilung von Zentren intensiver Wirtschaftsaktivitäten über die bevölkerten Landesregionen zurückzuführen. Dies schafft objektive Voraussetzungen für eine hohe territoriale Mobilität der Arbeitskräfte, die dahin gehen, wo es hochbezahlte Jobs gibt.

Dank der Entwicklung der Transport- und Kommunikationsinfrastruktur sowie der massiven Verfügbarkeit von Heimarbeitsplätzen, die keine tägliche kollektive Präsenz am Arbeitsort erfordern, ziehen Einwohner von Großstädten allmählich in suburbane Räume. Dieser Prozess trägt zugleich dazu bei, der hochtechnologischen suburbanen Landwirtschaft sowie der Freizeit- und Tourismusbranche mehr Arbeitskräfte zur Verfügung zu stellen.

Die Verbesserung der Lebensqualität machte die Gesundheitsfürsorge zu einem der höchsten Werte der Gesellschaft. Das Gesundheitssystem besteht aus zwei Segmenten:

Der öffentliche (aus dem Staatshaushalt finanzierte) kostenlose und allgemein zugängliche Gesundheitsschutz, der unabhängig von Wohnort, materieller und sozialer Lage gewährt wird.
Die zusätzliche versicherungsfinanzierte medizinische Betreuung, deren Kosten von Mitteln der Haushalte und Beiträgen der Arbeitgeber gedeckt werden.

Die öffentliche Gesundheitsfürsorge beruht auf einem System verbindlicher medizinisch-ökonomischer Behandlungsstandards, die sowohl die notwendigen Anwendungen, Arzneimittel und Präparate als auch deren Wert, einschließlich der Ausgaben für die Bezahlung des medizinischen Personals, die Abschreibung der Ausrüstungen und die kommunalen Dienstleistungen, umfassen.

Sowohl in der staatlichen Bildungspolitik als auch in den diesbezüglichen gesellschaftlichen Erwartungen traten die Qualität der Bildung und die Übereinstimmung der erworbenen Kenntnisse mit der Nachfrage von Seiten der Wirtschaft und des Arbeitsmarktes in den Vordergrund.

Die Staatspolitik ist vor allem darauf ausgerichtet, Jugendlichen möglichst breite Möglichkeiten für den kostenlosen Erwerb ihrer ersten Berufsausbildung zu geben.

Die Bildung wird kontinuierlich: In der modernisierten Gesellschaft steht die Fähigkeit zum lebenslangen Lernen im Vordergrund. Dafür werden die Möglichkeiten der beruflichen Grund- und Fachausbildung ausgebaut, mit Beteiligung des Staates und der Arbeitgeber wird ein System der Erwachsenenbildung geschaffen.

Die von der Modernisierung hervorgebrachte Nachfrage nach qualifizierter "Blue-Collar-Arbeit" veränderte das System der Facharbeiterausbildung grundlegend: Es bleibt unentgeltlich (ausgenommen die Umschulungen, die von Arbeitgebern bezahlt werden) und erfreut sich großer Nachfrage.

Im akademischen Bereich bestehen nur solche staatlichen und nichtstaatlichen Hochschulen, denen strenge gesellschaftlich-staatliche Attestierungen globale Wettbewerbsfähigkeit der vermittelten Kenntnisse bescheinigen. Dies betrifft nicht nur die für Russland traditionellen naturwissenschaftlichen, technischen und medizinischen Fachrichtungen, sondern auch die Geisteswissenschaften Recht, Wirtschaft und Management. Das Ansehen russischer Diplome auf den internationalen Arbeitsmärkten ist stark gewachsen.

Hochschulen, sowohl staatliche als auch private, werden in einem immer größeren Maße auch zu Forschungszentren, wobei sie den fähigsten Teil der eigenen Abgänger bei sich konzentrieren.

Die Lohnersatzquote der Altersrente erreicht 60 bis 65 Prozent dank dreierQuellen:

Teilnahme am System der gesetzlichen Rentenversicherung,
Teilnahme (zusammen mit dem Arbeitgeber) am System der zusätzlichen nichtstaatlichen Rentenversicherung,
individuelle zusätzliche Teilnahme am System der nichtstaatlichen Rentenversicherung.

Das russische Wirtschaftswunder

Schon zu Beginn der 2010er Jahren ist die globale Wirtschaft zur Hauptgrundlage der nationalen Wirtschafts- und Finanzsysteme geworden.

Russland hat adäquat auf diese Herausforderung reagiert: Es stützte sich auf die Vorteile der Globalisierung, versicherte sich gegen deren Risiken und nahm unter den führenden Wirtschaftsmächten der Welt eine stabile Position ein.

Am Anfang des Modernisierungsweges folgte unser Land solchen Prioritäten wie die Entwicklung der Nukleartechnologien, der Erhöhung der Energieeffizienz und Energieeinsparung, eines Vorstoßes in Pharmazie, Medizin und Weltraumforschung, Nano-, Bio- und Info-Technologien. Es ging jedoch nicht den traditionellen Weg von der Überindustrialisierung zur postindustriellen Gesellschaft. Die Nutzung der Wettbewerbsvorteile bei der Gewinnung von Rohstoffen und Energie und bei der Herstellung von Zwischenprodukten erlaubte Russland, die wachsenden Einnahmen in die Entwicklung von Hochtechnologien zu investieren. Dadurch erzielte das Land eine Position in der Weltwirtschaft, die die innovativen Sektoren organisch mit den alten international wettbewerbsfähigen Bereichen, die sich auf der Grundlage der frontalen Diversifizierung entwickeln, verbindet. Diese Diversifizierung stützt sich auf eine erneuerte Rechtsbasis im Bereich der Extraktion von Bodenschätzen, der Ressourceneinsparung und des Umweltschutzes und sichert einen effektiven Technologietransfer. Dabei bleibt die hohe Qualität des Humankapitals, dessen Akkumulierung der nachhaltige Motor der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung ist, der wichtigste Wettbewerbsvorteil Russlands.

Indem Russland das Innovationspotenzial des Energie- und Rohstoffsektors entfaltete, investierte es für diese Zwecke jährlich vier bis fünf Prozent des bip. Der Effekt von der Reduzierung des Energieverbrauchs auf weniger als die Hälfte wurde ausgenutzt, um sowohl neue Prioritätssektoren zu erschließen als auch um die Agrarproduktion beschleunigt zu entwickeln. Russland wurde zu einem der führenden Exporteure von Agrarerzeugnissen und Garanten der globalen Lebensmittelsicherheit.

Auf die führende Position in der weltweiten Energiewirtschaft gestützt, zeigte sich das Land auch als globaler Neuerer im Umwelt- und Klimaschutzbereich. Der rationale, effektive und innovative Ansatz wurde hier zum Grundsatz, zur Ressource und zum Objekt der Staatspolitik. Große internationale Projekte zur Schaffung von Naturschutz- und Erholungsgebieten von Weltbedeutung wurden auf dem Territorium Russlands verwirklicht.

Russland überwand auch die "russische - besser bekannt als holländische - Krankheit": den Fluch der Rohstoffabhängigkeit sowie die Schwäche und Starre der Staats- und Marktinstitutionen. Der Staat reduzierte seine unmittelbare Präsenz in der Wirtschaft mindestens um die Hälfte, sein Anteil am bip übersteigt nicht 30 Prozent. Dabei verstärkte er wesentlich seine Rolle bei der Flexibilisierung der Regulierungsinstrumente, die sich schnell und zuverlässig den neuen Herausforderungen anpassen können. Die Hauptziele dieses Neuanfangs sind die Stimulierung des Wettbewerbs, der Schutz und die Festigung des Privateigentums der Unternehmen und Bürger, die Förderung des Unternehmertums und der Privatinvestitionen. In der Regulierungspraxis werden aktiv international anerkannte Normen und Zielwerte angewandt, die Instrument der zwischenstaatlichen Überwachung der makroökonomischen Stabilität und des Zustandes der Finanzen sind.

Das Wettbewerbsmilieu wurde zur wichtigsten institutionellen Voraussetzung für ein gesundes und organisches Wachstum. Die Situation, in der bis zu 40 Prozent der Industriebetriebe außerhalb jeder Konkurrenz arbeiten durften, gehört der Vergangenheit an. Dazu trug wesentlich eine strenge, jedoch vorhersagbare Antimonopolpolitik bei, die sich nicht an der Größe der Unternehmen, sondern an der Kontrolle über ihr Marktverhalten orientiert. Wie auch in der Steuerpolitik erlaubte gerade die reale Praxis der Kartellregulierung die Schaffung normaler Arbeitsbedingungen für die Unternehmer.


Innere und äußere Sicherheit

Russland ist ein Land, in dem die Armee und die Rechtsschutzorgane effektiv funktionieren und ein hohes Ansehen in der Gesellschaft genießen, weil sie ihre Mission, die Verteidigung des Landes gegen äußere Bedrohungen und die Aufrechterhaltung der Rechtsordnung im Land, würdig erfüllen.

Die Streitkräfte werden ausschließlich auf freiwilliger Basis formiert. Das Parlament analysiert sorgfältig den Militärhaushalt: Die Verteidigungsausschüsse der Staatsduma und des Föderationsrates verfügen über die notwendigen finanziellen und politischen Instrumente, um die militärische Politik des Staates entscheidend zu beeinflussen. Sie bekommen alle notwendigen Informationen, um die Entwicklung der russischen Streitkräfte auszuwerten und zu lenken. Dadurch ist eine wahre zivile Kontrolle über den militärischen Sektor gewährleistet. Die russische Armee ist eine Berufsarmee sowohl hinsichtlich ihres Formierungsverfahrens als auch hinsichtlich der Ausrüstung und des Kompetenzniveaus ihres Personals. Ihre Bewaffnung entspricht den Anforderungen im Militärbereich, die weltweit zu beobachten sind. Dank weitgehender Anwendung von Informationstechnologien bekommen die Streitkräfte ausreichende Daten über das Vorgehen des Gegners, was ihnen erlaubt, aus einer Entfernung von Hunderten und Tausenden Kilometern von der Konfliktzone Schläge mit Präzisionswaffen durchzuführen. Robotisierte Kampfhandlungsmittel werden intensiv entwickelt.

Die zahlenmäßige Stärke der Streitkräfte in der Friedenszeit wurde auf 500.000 bis 600.000 Militärangehörige reduziert. Bis auf 700.000 sank auch die Stärke der ausgebildeten Reserve; dafür erlauben ihre Qualität und regelmäßige Weiterbildung (die Reservisten erhalten auch einen Sold) dem Heer, jederzeit auf einen beliebigen potenziellen Konflikt zu reagieren.

Die Reform der Ordnungskräfte ist eines der wichtigsten Modernisierungsprojekte, das die Organisation der inneren Sicherheit Russlands grundlegend geprägt hat: Es vollzog sich ein Übergang von einem polizeilich repressiven Ansatz zu einem Ansatz zum Schutz der Bürger und ihrer legitimen Freiheitsrechte.

Das Innenministerium als zentrale Polizeibehörde des Landes wurde aufgelöst. Die verschiedenen Ordnungsschutzfunktionen wurden exakt über verschiedene Ebenen der öffentlichen Macht verteilt. Somit verschwand die Polizeivertikale, die die Bekämpfung der Kriminalität mit dem Schutz der öffentlichen Ordnung verknüpft hatte.

Die Funktionen des Ordnungsschutzes wurden adäquat dezentralisiert und mehreren Behörden und Ämtern übertragen. Die kommunale Polizei als untere Systemebene wird von den kommunalen Selbstverwaltungsorganen verwaltet.

Rechtsnachfolger des Innenministeriums ist die Föderale Kriminalpolizeibehörde (fskp). Ihr Hauptanliegen ist die Bekämpfung schwerer Gewaltverbrechen und Delikte aus Eigennutz, das heißt der klassischen, darunter auch organisierten Kriminalität.

Auf der Ebene der Stadt- und Dorfgemeinden agiert die kommunale Polizei, die nur den Gemeinden unterstellt ist. Sie wird auch aus den kommunalen Haushalten finanziert: Nur so lässt sich gewährleisten, dass die Rechtsschutzorgane unter ziviler Kontrolle die Bürgerrechte schützen. Die Kommunen, die nicht genügend eigene Einnahmen haben, erhalten Subventionen aus dem regionalen Haushalt, die ihre Finanzierung bis zum gesetzlich festgelegten Niveau aufbessern.

Die Funktionen der längst aufgelösten staatlichen Verkehrspolizei wurden zwischen der regionalen Polizei (auf den Straßen außerhalb der Ortschaften), der kommunalen Polizei und dem zivilen Verkehrsordnungsdienst, der den technischen Zustand der Autos überwacht, die Führerscheine ausstellt und die Organisation des Straßenverkehrs unterstützt, aufgeteilt.

Die Truppen des Innenministeriums wurden zur Nationalgarde reorganisiert, sie sind unmittelbar dem Präsidenten der Russischen Föderation unterstellt.

Um eine zivile Kontrolle über die Tätigkeit der Polizei und der Sonderdienste zu gewährleisten, wurde eine unabhängige Behörde - das Komitee für zivile Untersuchungen - gegründet, das auf Ersuchen von Bürgern das Vorgehen der Rechtsschutzorgane untersucht, die einer Rechtsverletzung bezichtigt werden.


Großmacht des 21. Jahrhunderts

Russland ist einer der führenden Architekten der Weltordnung des 21. Jahrhunderts und ein vollberechtigter Teilnehmer an allen wichtigen globalen Organisationen. Als eine der führenden Volkswirtschaften der Welt hat es eine angesehene Stellung in der WTO und der OECD. Russlands Status als strategischer Verbündeter der Europäischen Union kann sich in absehbarer Zeit in eine Mitgliedschaft umwandeln. Und mit der NATO, die sich wesentlich verändert hat, verhandelt Russland erfolgreich über einen Beitritt, der die weitere positive Transformation der Allianz stimulieren würde. Die bereits geschaffene qualitativ neue Vertragsbasis für die Partnerschaftsbeziehungen zwischen Russland und der NATO bedingte auch eine bedeutende Reformierung der OSZE.

Die wichtigsten außenpolitischen Ziele Russlands korrespondieren mit der Gestaltung eines Umfeldes, das die innere Entwicklung des Landes begünstigen soll. Als entscheidende Voraussetzung für die Erreichung dieses Ziels betrachtet Russland die Sicherung des Friedens und die friedliche Regelung der zwischenstaatlichen Probleme und Widersprüche, wobei weder Konfrontationen mit größeren internationalen Spielern noch einseitige Abhängigkeiten von ihnen zugelassen werden dürfen.

Die rasche und massive innere Modernisierung hat es Russland gestattet, den Rückstand hinter den führenden Weltmächten im Bereich der Institutionen, des Entwicklungstempos und der Diversifizierung der Wirtschaft radikal zu reduzieren. Die realen Erfolge bei der Überwindung der Krise ohne soziale Erschütterungen, der Übergang auf ein neues Niveau der sozioökonomischen Entwicklung auf der Grundlage von Innovationen und Hochtechnologien, die erfolgreiche Bekämpfung der Korruption, der Ausbau der echten Institutionen der Demokratie und Zivilgesellschaft, Fortschritte bei der Lösung der demographischen und ökologischen Probleme, bei der Entwicklung Sibiriens, des russischen Fernen Ostens und des Hohen Nordens, die effektive militärische Reform und anderes mehr - dies alles wurde im Ausland als artikulierter politischer Modernisierungswille Russlands verstanden und brachte dem Land nicht nur Respekt in der Welt, sondern auch die Wahrnehmung ein, dass Russland den Raum der gemeinsamen Werte betrete. Unter diesen Bedingungen haben die politischen Klassen der westlichen Länder ihre eigenen "Falken" zurechtgewiesen und ihren Teil des Weges zur Gestaltung neuer Beziehungen mit Russland zurückgelegt. Besonders schwierig war die Auseinandersetzung zwischen den "Tauben" und "Falken" sowohl in Russland als auch im Westen, als es darum ging, eine effektive Allianz Russland-NATO zu bilden. Der Durchbruch wurde als Folge einer erfolgreichen gemeinsamen Friedensmission in einem bedeutenden Land der "Dritten Welt" erzielt.

Als Ergebnis wird Russland im Westen als ein Land betrachtet, das respektiert werden muss, und zwar für seine militärische und wirtschaftliche Stärke, für die erfolgreiche Modernisierung und die konstruktive Einstellung zu einer kooperativen Bewältigung globaler Probleme. Dadurch ist es gelungen, Russlands Wahrnehmung in der Welt kardinal zu verbessern, denn dieses Problem hatte eher einen moralisch-politischen als einen konkret-politischen Charakter.

Russland ist mit der Europäischen Union durch den Status eines strategischen Verbündeten auf einer qualitativ neuen rechtlichen Basis, des "Großen Vertrages", verbunden. Man erörtert die Perspektive seiner Vollmitgliedschaft in der eu, dabei werden jedoch sowohl die multilaterale GUS-Freihandelszone als auch die Haltung der Europäischen Union zur Erfüllung ihrer Standards durch die anderen Mitglieder der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten, mit denen Russland im Rahmen eines gemeinsamen Marktes kooperiert, in Betracht gezogen.

Neben dem "Großen Vertrag" trat mit "Helsinki II" ein neues Abkommen über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa in Kraft.

Schon seit langem besteht ein einheitlicher humanitärer Raum, einschließlich des visafreien Verkehrs für alle Europäer. Russische Bürger beteiligen sich neben Bürgern der EU-Staaten an allen Studenten-, Forschungs- und Kulturaustauschprogrammen.

Russland und die EU schreiten sicher voran zu einem gemeinsamen Markt, einem freien Verkehr von Waren, Kapital, Dienstleistungen und Arbeitskräften, technische Schranken und andere normative Hindernisse wurden abgeschafft. Es besteht ein gemeinsamer Markt von Transportleistungen, der in das globale Transportsystem integriert ist. Russland und die EU entwickeln und verkaufen gemeinsam auf dem Weltmarkt Technologien, Produkte und Dienstleistungen in innovativen Wirtschaftsbereichen wie Luft- und Raumfahrt, Atomenergie, IT, Kommunikations- und Nanotechnologien.

Russland und die USA sind durch strategische Partnerschaft miteinander verbunden. Diese Beziehungen wurden allmählich aufgebaut, und zwar durch eine Verbesserung des Dialogs, durch Abschluss von Vereinbarungen über globale militärstrategische Stabilität, durch die Gestaltung eines neuen europäischen Sicherheitssystems und durch die Bekämpfung des globalen Terrorismus und Extremismus. Die russische Seite wurde dabei auch motiviert durch die Bedürfnisse im Zusammenhang mit der Aufgabe, die russische Wirtschaft auf der Grundlage von Hochtechnologien zu modernisieren.

Im Verlaufe von langwierigen Verhandlungen gelang es, eine Verständigung über die Regeln des gegenseitigen Verhaltens im postsowjetischen Raum herbeizuführen. Diese Verständigung wurde möglich durch den Verzicht der USA und ihrer NATO-Partner auf eine forcierte Osterweiterung der Allianz und dank der Wiederaufnahme des normalen Dialogs zum Thema Demokratie und Menschenrechte im Paket mit dem Anschluss Russlands an die Bemühungen der westlichen Koalition in Afghanistan - jedoch ohne die Entsendung russischer Soldaten in dieses Land.

Der Begriff "postsowjetischer Raum" gehört längst der Vergangenheit an, der Ausdruck "nahes Ausland" aber wird nach wie vor oft verwendet. Die gus bleibt erhalten, die Gemeinschaft ist jedoch kein "Klub von Staatschefs" mehr, sondern eine qualitativ neue, effektive Netzstruktur zur Koordinierung der Beziehungen, deren Pflege alle GUS-Mitglieder für vorteilhaft und nützlich halten.

Russland nimmt das "nahe Ausland" als ein für alle dort lebenden Völker gemeinsames Zivilisationsareal wahr, ohne die historisch gewachsenen gegenseitig vorteilhaften und privilegierten Beziehungen mit diesen Ländern als Einflusssphären zu betrachten. Es formuliert unmissverständlich Garantien für die territoriale Integrität, die Respektierung von Unabhängigkeit und Souveränität sowie die friedliche Beilegung ethnischer Konflikte im GUS-Raum. Es wendet dabei jedoch überwiegend "soft power" an, denn die Modernisierungserfolge geben Grund genug dafür.

Die Organisation des Vertrages über kollektive Sicherheit (OVKS) ist nach wie vor lebensfähig, ihre Mission aber hat sich verändert. Ihr Anliegen ist in erster Linie die Bekämpfung des Terrorismus, des religiösen Extremismus (in Zentralasien) und des Drogenverkehrs, sie dient auch als Instrument des Schutzes gegen neue Gefahren und der Entwicklung der militärtechnischen Zusammenarbeit.

Die Verlagerung des Schwerpunktes der globalen Wirtschaftsentwicklung in den asiatisch-pazifischen Raum und der steile Aufstieg Chinas veränderten das gewohnte internationale Sicherheitssystem, das früher transatlantisch geprägt war. Der Stille Ozean verwandelt sich nach und nach in das "Mittelmeer des 21. Jahrhunderts". Im asiatisch-pazifischen Raum entsteht ein neues Modell der Beziehungen mit Elementen von Zusammenarbeit und Rivalität, zunächst im Viereck USA - Japan - Russland - China. Gerade der Dialog zwischen diesen vier Ländern über Probleme der pazifischen und globalen Sicherheit bestimmt die Zusammenarbeit in der Region und ergänzt die gesamteuropäische Sicherheitsarchitektur.

Aus dem oben Beschriebenen ergeben sich einige Fragen: Wann soll denn dieses Zukunftspanorama in Russland Wirklichkeit werden? Und wer soll sich damit befassen?

Was die erste Frage betrifft, so möchten wir uns nicht damit beeilen, den äußerlich attraktiven Weg einer konkreten Terminsetzung (2020, 2030, 2100) zu betreten. Wir sind der Ansicht, dass sich die Geschichte nicht deshalb weiterentwickelt, weil man ihr konkrete Orientierungspunkte in Form von runden Daten vorgibt. Der Ereignisgang hat eine innere Logik und Reihenfolge, und es ist viel wichtiger, sie zu erkennen, wenn man konkrete, nachhaltige Erfolge erzielen will. Nachfolgend möchten wir versuchen, die Reihenfolge der notwendigen Schritte - zumindest der vordringlich notwendigen - zu beschreiben.

Nun zur zweiten Frage: Wir halten es für falsch, wenn man die Gesellschaft in Befürworter und Gegner der Modernisierung aufteilt. Unter bestimmten Voraussetzungen (diese müssen von der politischen Landesführung geschaffen werden, wenn sie die Bewegung an Hand der unten vorgelegten "Straßenkarte" startet) kann man den größten Teil der aktiven Bevölkerung in den Modernisierungsprozess einbeziehen, indem man insbesondere dem Koalitions- und Kompensationsgrundsatz folgt.

Was die erstrangigen Schritte angeht, muss betont werden: In den oben von uns beschriebenen verschiedenen Bereichen des sozialen Lebens ist der Grad der Modernisierungsbereitschaft ebenfalls verschieden. Das bedeutet jedoch nicht, dass man beispielsweise mit der wirtschaftlichen Modernisierung beginnen kann, wobei man die politischen Reformen aufschiebt. Vergleicht man die Situation mit der Vorbereitung zum Start eines Raumschiffes, so muss das Countdown in allen genannten Bereichen - im politischen System, im Sozialbereich, in Wirtschaft, Verteidigung und Sicherheit, in der außenpolitischen Positionierung - gleichzeitig losgehen.


Tabelle 1:

Voraussetzungen für den Start der Modernisierung in einzelnen Bereichen des sozialen und politischen Lebens in Russland

Schwerpunkte der
Modernisierung
Voraussetzungen für den Start der notwendigen
Umgestaltungen
Politisches System



Sozialer Bereich


Wirtschaft


Streitkräfte und
Rechtsschutzorgane

Außenpolitik

Erarbeitung und Inkraftsetzung einer neuen
rechtlichen Basis, Gestaltung der Rechts-
anwendungspraxis streng auf dieser Basis

Vorbereitung von Änderungen der rechtlichen
Basis

Rechtliche und politische Positionierung von
Staat und Privatbusiness in der Wirtschaft

Fortsetzung der laufenden Reform der Streit-
kräfte, Reorganisation der Rechtsschutzorgane

Erarbeitung und Verabschiedung einer neuen
außenpolitischen Doktrin Russlands

Aus Tabelle 1 ist ersichtlich, dass man eigentlich schon morgen - falls politischer Wille vorhanden ist - folgende Schritte unternehmen kann (Maßnahmenkomplex Nr. 1):

Vorbereitung einer Reorganisation der Rechtsschutzorgane,
konsequente Weiterführung der bereits laufenden Reform der Streitkräfte,
Erarbeitung eines Entwurfs einer neuen außenpolitischen Doktrin Russlands,
Anerkennung der Notwendigkeit, das politische System, die Wirtschaft und den Sozialbereich zu reformieren.

Der Maßnahmenkomplex Nr. 2 gilt dem Anlauf der Reformen im politischen, wirtschaftlichen und sozialen Bereich. Es sei noch einmal betont, dass es darum geht, diese Reformen praktisch gleichzeitig und zusammenhängend einzuleiten, insbesondere weil das Investitionsklima direkt vom Zustand der politischen Institutionen im Lande abhängt und der Zustand des Sozialbereichs in vielem durch die Situation in der Wirtschaft bestimmt wird.

Der zeitliche Abstand zwischen den Maßnahmenkomplexen Nr. 1 und 2 darf nicht sehr lang sein: Es handelt sich nicht um Jahre, sondern um Monate, die der politischen Vorbereitung der bevorstehenden Reformen gelten sollen. In diesen Monaten müssen beispielsweise formelle und informelle Strukturen gebildet werden, die für die rechtliche, organisatorische und personelle Sicherung der Reformen zuständig wären. Zu ändern wäre auch die Informationspolitik der Medien, die direkt oder indirekt vom Staat abhängen. Alle registrierten und nicht registrierten politischen und gesellschaftlichen Organisationen müssen zur Teilnahme an einer gesamtnationalen Diskussion über den Inhalt der Modernisierung eingeladen werden, denn diese Diskussion kann zu einem der wichtigsten Faktoren der politischen Reformen werden.


Igor Jurgens, geboren 1952; Vorstandsvorsitzender des Instituts für moderne Entwicklung; Vizepräsident der Investmentbank Renaissance Capital; Vicepräsident des Russischen Industriellen- und Unternehmerverbandes; Professor an der Moskauer Higher School of Economics.

Ewgenij Gontmacher, geboren 1953; Vorstandsmitglied des Instituts für moderne Entwicklung; stellvertretender Direktor des Instituts für Weltwirtschaft und Internationale Beziehungen (IMEMO), Moskau;
egont@mail.ru


Anmerkung:
(*) Co-Autoren des Artikels sind: Alexander Golz, Leonid Grigorjev, Sergej Kulik, Boris Makarenko, Nikita Maslennikov, Sergej Plaskin, Alexander Rubzov und Jelena Schatalova.


Copyright 2010 Friedrich-Ebert-Stiftung


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Quelle:
Zeitschrift "Internationale Politik und Gesellschaft" /
journal "International Politics and Society", Ausgabe 2/2010, S. 111-130
Herausgeber: Friedrich-Ebert-Stiftung
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Mai 2010