Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → AUSLAND

RUSSLAND/135: "Bäumchen wechsle dich" im Kreml (UZ)


UZ - Unsere Zeit, Nr. 42 vom 21. Oktober 2011
Sozialistische Wochenzeitung - Zeitung der DKP

"Bäumchen wechsle dich" im Kreml
Wie in der "gelenkten Demokratie" ein Zar gekürt wird

von Willi Gerns


Am 24. September haben Dmitri Medwedjew und Wladimir Putin auf dem Parteitag der Partei "Einiges Russland" die Frage beantwortet, über die seit langem von den Kreml-Astrologen spekuliert wurde. Präsident Medwedjew schlug der Partei die Kandidatur von Ministerpräsident Putin für die Präsidentschaftswahlen am 4. März 2012 vor. Putin empfahl seinerseits, dass Medwedjew bei den Duma-Wahlen am 4. Dezember die Liste der Partei anführen und bei deren erfolgreichem Abschneiden Ministerpräsident werden solle.

Damit könnte jene Anekdote Realität werden, die seit Ende 2007 kursiert. Damals entschied sich Putin bekanntlich angesichts des bevorstehenden Ablaufs seiner zweiten Amtsperiode, auf die die russische Verfassung die Präsidentschaft begrenzt, Ministerpräsident zu werden und seinen Vertrauten Medwedjew ins Präsidentenamt zu hieven. Die Anekdote handelt im Jahr 2023. Putin und Medwedjew sitzen in der Küche, trinken Bier und schwatzen. Putin brummt: "Hör mal - ich steige erneut nicht durch. Wer von uns ist zurzeit Ministerpräsident und wer ist Präsident?" - "Ich denke, du bist gegenwärtig Präsident", antwortet Medwedjew. - "Nu", brummt Putin, "dann bist du an der Reihe, Bier zu holen." Wenn Putin gesund bleibt, könnte allerdings der Fall eintreten, dass es bis 2023 kein weiteres "Bäumchen wechsle dich" gibt, sodass er kaum den Durchblick verlieren dürfte. Schließlich wurde die Amtsperiode des Präsidenten inzwischen vorsorglich auf sechs Jahre verlängert, sodass Putin in Übereinstimmung mit der Verfassung zwölf Jahre das Amt ausüben könnte. Damit könnte er mit einer Amtszeit von insgesamt zwanzig Jahren an der Spitze des Landes selbst Breschnew übertreffen, der als Parteichef der KPdSU 18 Jahre diese Position eingenommen hatte.

Ganz unerwartet ist die erneute Präsidentschaftskandidatur Putins nicht. Waren doch schon Ende 2007, als Dmitri Medwedjew zum Präsidentschaftskandidaten der Machthabenden gekürt wurde, die meisten politischen Beobachter davon ausgegangen, dass diesem nur die Rolle des Platzhalters zugedacht war.

Im Grunde haben Putin und Medwedjew in ihren Reden auf dem Parteitag daraus auch keinen Hehl gemacht. Beide führten aus, dass die Entscheidung über eine erneute Präsidentschaftskandidatur Putins schon vor "einigen Jahren" gefallen und "tief durchdacht" sei. Medwedjew präzisierte in einem Fernsehinterview vom 30. September den Zeitpunkt der Absprache: "Wir haben diese Option in der Tat schon zu der Zeit besprochen, als sich unsere kollegiale Gemeinschaft herausgebildet hat." Das Verschweigen des Coups gegenüber Partei und Öffentlichkeit hatte er auf dem Parteitag damit zu erklären versucht, dass dies "eine Frage der politischen Gesetzmäßigkeit, eine Frage der Gesetze des politischen Genres gerade in unserem Land" sei. Offenbar muss er bei dieser hochgeschraubten Formulierung "geheime Gesetze" der sog. "gelenkten Demokratie" in Russland im Auge gehabt haben.


Wer regiert Russland wirklich?

Und zu diesen "Gesetzen" gehört offenbar auch, dass der engste Machtzirkel im gegenwärtigen Russland völlig im Dunkeln bleibt. In dieser Beziehung ist das eigentliche Zentrum der Macht heute weniger bekannt als unter Jelzin. Von seinem "Küchenkabinett", auch "Jelzinfamilie" genannt, wusste man immerhin, dass dazu neben Familienmitgliedern und Saufkumpanen auch Oligarchen wie Beresowski gehörten, die mit Hilfe Jelzins Milliardenvermögen aus dem Volkseigentum an sich gerissen hatten und ihm dafür verbunden waren.

Man kann vermuten, dass sich in Putins "Küchenkabinett" Spezis aus seiner Petersburger Zeit sowie vertraute Geheimdienstler finden. Näheres ist nicht bekannt. In einem Beitrag der KPRF-Zeitung "Sowjetskaja Rossija" wird deshalb nicht zu Unrecht die Frage gestellt, ob es sich um eine Art "allmächtigen geheimen Orden" handele, "dessen Protegé und zugleich Großmeister Putin ist"?

Jedenfalls dürften die Kandidatur-Entscheidungen nicht das Ergebnis einer einsamen Absprache zwischen dem amtierenden Ministerpräsidenten und dem derzeitigen Präsidenten gewesen sein. Die führenden Funktionäre von "Einheitliches Russland" waren allerdings nicht in die Absprachen einbezogen, wie deren Überraschung auf dem Parteitag deutlich machte. Ebenso wohl zumindest die meisten Minister. Schließlich ist Finanzminister Kudrin, als er bei einem Treffen der Finanzminister der G20-Staaten in Washington, von der Entscheidung erfuhr, aus allen Wolken gefallen. Postwendend verlautete er, unter einem Premier Medwedjew nicht als Minister zur Verfügung zu stehen.


Freiwilliger Verzicht?

In manchen Kommentaren zur erneuten Präsidentschafts-Kandidatur Putins klingen Zweifel an, ob Medwedjew freiwillig auf die Bewerbung um eine zweite Amtszeit verzichtet hat. Sie scheinen nicht unberechtigt zu sein. Konnte man doch in letzter Zeit durchaus den Eindruck gewinnen, dass der amtierende Präsident mehr und mehr aus seiner Rolle als bloßer Platzhalter heraustrat und Freude am Amt des ersten Mannes im Staat gewann. Das äußerte sich in einer relativ selbstständigen Position zu manchen internationalen, aber auch internen russischen Fragen. Dies hat auch zu der einen oder anderen Meinungsverschiedenheit zwischen Präsident und Ministerpräsident geführt. Bekannt geworden ist vor allem der Konflikt um die russische Enthaltung im UN-Sicherheitsrat bei der Abstimmung über jene Resolution, die von der NATO zur Begründung ihres Überfalls auf Libyen diente.

Insbesondere hatten hinter Medwedjew stehende Kräfte, namentlich das der Präsidenten-Administration zugeordnete Institut für moderne Entwicklung (INSOR), auf eine zweite Amtszeit Medwedjews gedrängt und dafür auch bereits Zukunftspläne ausgearbeitet. Dies dürfte kaum gegen den Willen Medwedjews geschehen sein, der dem Institut vorsteht. Diese Kräfte sind nunmehr tief enttäuscht. Der Präsidenten-Mitarbeiter Dworkowitsch machte dies nach dem Parteitag in seinem Mikroblog unmissverständlich mit den Worten deutlich: "Es gibt wirklich keinen Grund zur Freude." Davon, dass großer Druck auf den amtierenden Präsidenten ausgeübt wurde und er sich im Ergebnis in einem psychisch angespannten Zustand befindet, zeugt auch seine äußerst schroffe Reaktion auf die bereits genannte Ablehnung Finanzminister Kudrins, unter einem Regierungschef Medwedjew arbeiten zu wollen. Während der Sitzung der Kommission für Modernisierung und technologische Entwicklung Russlands am 28. September erklärte er laut "Sowjetskaja Rossija": "Es gibt keine neue Regierung und niemand hat irgendjemanden eingeladen daran teilzunehmen. Aber es gibt die alte Regierung, die von mir als Präsidenten formiert wurde, die mir rechenschaftspflichtig ist und im Rahmen meiner Instruktionen handeln wird. Die Regierung folgt dem Kurs des Präsidenten. Niemand hat die Subordination und Disziplin in der Regierung aufgehoben. Wenn Sie, Alexej Leonidowitsch (gemeint ist Kudrin - W. G.), nicht mit dem Kurs des Präsidenten einverstanden sind, gibt es für Sie nur eine Schlussfolgerung, und Sie wissen welche - den Rücktritt." Kudrin antwortete, dass er eine Entscheidung treffe nachdem er sich mit dem Ministerpräsidenten beraten habe. Darauf Medwedjew: Sie können sich mit wem auch immer beraten, auch mit dem Ministerpräsidenten, nur, solange ich Präsident bin, werde ich selbst solche Entscheidungen treffen. Kudrin ging auf den Flur und rief Putin an. Anschließend reichte er unverzüglich seinen Rücktritt ein. Putin hat offensichtlich Medwedjews Haltung mit Blick auf seine künftige Präsidentschaft geteilt. Es soll keinerlei Zweifel daran geben, wer künftig der erste Mann im Staat ist, der uneingeschränkt das Sagen hat.


*


Quelle:
Unsere Zeit (UZ) - Zeitung der DKP, 43. Jahrgang, 42 vom 21. Oktober 2011, Seite 10
Herausgeber: Parteivorstand der DKP
Anschrift von Verlag und Redaktion:
Hoffnungstraße 18, 45127 Essen
Telefon 0201 / 22 54 47
E-Mail: redaktion@unsere-zeit.de
Internet: www.unsere-zeit.de

Die UZ erscheint wöchentlich.
Einzelausgabe: 2,80 Euro
Jahresbezugspreise:
Inland: 126,- Euro, Ausland: 130,-
Ermäßigtes Abo: 72,- Euro
Förder-Abonnement: ab 150 Euro


veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Oktober 2011