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RUSSLAND/137: Moskau lässt abstimmen - Der "Neue Bürger Russlands" vor den Wahlen (FES)


Friedrich-Ebert-Stiftung
Internationaler Dialog | Referat Mittel- und Osteuropa

Moskau lässt abstimmen
Der "Neue Bürger Russlands" vor den Wahlen

von Reinhard Krumm, November 2011


• Der Sieger der russischen Parlamentswahlen am 4. Dezember steht bereits im Vorfeld fest. Offen ist nur noch die Höhe des Wahlsieges der Staatspartei »Einiges Russland«. Unter den Spitzenkandidaten der anderen Parteien fehlen neue Gesichter; es dominiert das Personaltableau der 1990er Jahre.

• Die Parlamentswahlen bilden die in den letzten Jahren zunehmende innergesellschaftliche Dynamik unzureichend ab. Zentrale Reformdebatten finden nur jenseits des Wahlkampfes statt. Politische Programme werden von Think Tanks formuliert, nicht aber von Parteien. Die Wahlen verschärfen daher die wachsende Entfremdung zwischen Gesellschaft und politischer Klasse.

• Auch wenn politische Initiativen aus der russischen Zivilgesellschaft noch keine Chance auf Realisierung haben, wird die derzeit zu beobachtende Entstehung einer politisch aktiven Mittelschicht langfristig die Demokratisierung des Landes begünstigen.


Das Volk mischt sich ein

Das gesellschaftspolitische Engagement in Russland nimmt zu. Diese Entwicklung beobachtete das einflussreiche russische Nachrichtenmagazin Expert im Verlaufe des vergangenen Jahres und erwies dem »Neuen Bürger Russlands« seinen Respekt, indem er ihn, in Anlehnung an die traditionellen Ehrungen des amerikanischen Time Magazine, zum »Menschen des Jahres 2010« kürte.

In der Begründung heißt es, dass »immer mehr Menschen sich im Recht fühlen vom Staat zu fordern, dass er zu seinen eigentlichen Verpflichtungen zurückkehrt«. Mit anderen Worten: Die russischen Bürger wollen nicht mehr oder weniger Staat, sondern einen besseren Staat. Unterstützung findet diese These bei Michail Dmitrijew, Leiter des Zentrums für strategische Planung, der vor kurzem eine Analyse über die treibenden Kräfte einer Transformation in Russland vorlegte. Er geht von einer wachsenden Mittelschicht aus, die ihre Rechte vom Staat einfordern wird.

Der Mensch des Jahres 2010 in Russland muss nicht unbedingt Teil der Mittelschicht sein, nicht unbedingt unter dreißig, nicht unbedingt gut ausgebildet. Aber eine Schnittmenge dieser Kriterien wird es geben. In Russland ist die Rede von der Generation M, wobei M für Modernisierung steht, also für Reformen. Auf bis zu 20 Prozent der Gesamtbevölkerung schätzen Soziologen diesen Teil der Gesellschaft. Zu ihnen gehören Blogger, Arbeitnehmer und auch die Teilnehmer eines typisch russischen Projektes: die »Bürger-Dichter«, die mit ihrer humorvollen Kritik im Internet viel Anklang finden.

Üblicherweise fordern engagierte Bürger ihre Vorstellung von einer besseren Politik in demokratischen Staaten bei Wahlen ein. Nach seinem Selbstverständnis und seiner Verfassung ist Russland »ein demokratischer föderaler Rechtsstaat«. Der nächste Zeitpunkt für den »Neuen Bürger Russlands« sich einzumischen, gesellschaftspolitisches Engagement zu zeigen und Änderungen herbeizuführen, ist der 4. Dezember 2011, der Tag der Wahlen zur sechsten Duma, der ersten Kammer des russischen Parlaments.


Ungleicher Wahlkampf

Folgende Rahmenbedingungen findet das russische Volk vor: Zur Wahl stellen sich die sieben Parteien Gerechtes Russland (GR), Liberaldemokratische Partei Russlands (LDPR), Patrioten Russlands, Kommunistische Partei Russlands (KPRF), Jabloko, Einiges Russland (ER) und Rechte Sache. In dieser Reihenfolge werden sie auf den Stimmzetteln aufgeführt. Etwa 110 Millionen Russen wählen nach dem Verhältniswahlrecht, also über Landeslisten, unter den 3053 Kandidaten 450 Abgeordnete für die kommende Legislaturperiode aus, die zum ersten Mal fünf Jahre betragen wird.

Bisher sind in der Duma vier Parteien vertreten, die bei den letzten Wahlen 2007 die vorgegebene SiebenProzent-Hürde überspringen konnten: ER (64,3 Prozent, 315 Abgeordnete), KPRF (11,57 Prozent, 57), LDPR (8,14 Prozent, 40) und GR (7,74 Prozent, 38). Der Wähler wird - anders als noch in den 1990er Jahren - nicht die Möglichkeit haben, auf dem Wahlzettel gegen alle Kandidaten zu stimmen.

»Warum«, so fragt das auflagenstarke Boulevardblatt Moskowskij Komsomolez ketzerisch, »braucht das Land Wahlen?« Dahinter steht die von vielen geteilte Überzeugung, dass die politischen Weichen in Russland eh von einigen wenigen Entscheidungsträgern gestellt werden und die Ergebnisse von Wahlen, seien es die zum Präsidenten oder zum Parlament, weder die Geschwindigkeit noch die Richtung des Russland-Zuges beeinträchtigen. Ohnehin, so der prominente Politikwissenschaftler Alexander Auzan, hätte sich der Zug Russlands vor 300 Jahren, also zur Regentschaft Peters I., auf den Weg von Punkt A nach Punkt B begeben und sei leider nie am gewünschten Bestimmungsort in der westlichen Modernität angekommen, trotz staatlicher Aufsicht.

Eigentlich sollte die Abgabe des Stimmzettels an der Wahlurne der Höhepunkt eines spannenden Wahlkampfes sein. »Doch uns«, so kritisiert das vielgelesene Blatt, »bietet man diesen Kulminationspunkt ohne Vorlauf.«

Die Regierungspartei Einiges Russland unter dem Spitzenkandidaten Dmitrij Medwedew (46) hat sich zum Ziel gesetzt, ein ähnlich herausragendes Resultat wie bei den letzten Wahlen zu erreichen. Dabei wird das Land selbstbewusst in drei Erfolgskategorien aufgeteilt:

In Regionen, deren Bevölkerung der Partei kritisch gegenübersteht wie in St. Petersburg, sind mindestens 50 Prozent zu erreichen, in anderen Gebieten bis zu 60 Prozent und in traditionell stimmstarken Regionen wie den Wolga- und Kaukasusrepubliken mehr als 65 Prozent der Wählerstimmen.

Zur Ergebnissicherung wurde zunächst auf Initiative von Einiges Russland im Mai eine Russische Volksfront gegründet, die neue und engagierte Bürger ins Lager holen sollte. In der Folge wurden sie in ein Vorwahlverfahren der Partei einbezogen, den sogenannten Primaries, inzwischen ein neuer Begriff im russischen Wortschatz. Mindestens zehn Prozent Stimmzuwachs werden durch die Errichtung dieser neuen Front erwartet.

Zudem haben sich sechs Vizepremiers, zwei Minister und der Leiter der Präsidialadministration der Regierungspartei zur Verfügung gestellt, um in schwachen Regionen für ein ordentliches Wahlergebnis zu sorgen. Das personelle und geographische Spektrum umfasst alle neun Zeitzonen und reicht vom Ersten Vizepremier Igor Schuwalow im Fernen Osten bis hin zum stellvertretenden Ministerpräsidenten Alexander Schukow in Kaliningrad. Dmitrij Kosak, in der Regierung eigentlich verantwortlich für die Olympischen Winterspiele 2014 in Sotschi, soll es in St. Petersburg, der eigenwilligen Geburtsstadt von Präsident und Premier richten.

Auch diese Politiker kämpfen gegen ein hohes Misstrauen der Bevölkerung im Allgemeinen und des »Neuen Russischen Bürgers« im Speziellen gegenüber dem Parlament. Während die Institution des Präsidenten bei gut zwei Dritteln hoch im Ansehen steht, liegt die Zustimmung für Duma und Föderationsrat in den vergangenen Jahren konstant unter zehn Prozent. Zu unsichtbar die Arbeit der Duma, zu beherrschend die Dominanz von Präsident und Premier.

Und zu gering das Vertrauen in freie, gleiche und geheime Wahlen. Die einflussreiche Wochenzeitschrift Kommersant-Wlast beschreibt ihren Lesern freimütig auf einer Seite die vier Hauptkategorien von Wahlfälschung: Beimischung bereits ausgefüllter Stimmzettel, Manipulation beim Auszählen der Stimmzettel, Stimmabgabe für andere Bürger und Umschreiben der Wahlprotokolle. Hinzu kommt der Druck von Betriebs-Kollektiven, deren Leiter von ihren Mitarbeitern die richtige Stimmabgabe durch die Dokumentation per Handy-Kamera verlangen. Deshalb fordert Wladimir Ryschkow, einer der Vorsitzenden der aus politischen Gründen nicht zugelassenen Oppositionspartei PARNAS, dazu auf, die Wahl zu boykottieren, indem der Bürger seinen Stimmzettel ungültig machen soll. Sinnlos sei die Dumawahl, weil keine Alternativen zur Verfügung stehen würden.


Notwendigkeit einer umfassenden politischen Debatte

Dabei gibt es keinen Mangel an Themen, die besprochen werden müssten. Acht Jahre der Regierung von Präsident Wladimir Putin (49) und fast vier Jahre unter seinem Nachfolger Dmitrij Medwedew haben tiefe Spuren beim Wahlvolk hinterlassen. Und anlässlich der 80jährigen Geburtstage des vor zwei Jahren gestorbenen Boris Jelzins und Michail Gorbatschows stehen nicht nur die letzten vier Jahre seit der Dumawahl 2007 auf dem Prüfstand, sondern die gesamte Entwicklung seit der Perestrojka, dem Einholen der roten Sowjetfahne und dem Hissen der russischen Trikolore über dem Kreml am 25. Dezember 1991.

Diese Diskussion findet statt, erregt, polemisch, aber eben nicht im Rahmen des Parteienstreits, nicht bei Wahlkampfveranstaltungen, sondern in Zeitungen, im Radio und vor allem im Internet. Freilich fällt auf, dass die Zustandsbeschreibung Russlands aus der Sicht aller politischen Lager nicht sonderlich positiv ausfällt. Die Stimmung ist schlecht, zumindest unter den professionellen Beobachtern. Beklagt wird, dass zwar Wirtschaft und Gesellschaft sich dynamisch entwickeln, gleichwohl die Entwicklung des Staates mit seiner Bürokratie stagniert, die Gewaltenteilung kaum erkennbar ist und die so notwendige, vom Staat selbst initiierte Modernisierung des Landes stockt.

In der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts sind viele Probleme angegangen worden, stellt der Rektor der Moskauer Higher School of Economics (HSE) Jaroslaw Kusminow fest. Doch nun seien wegweisende Entscheidungen zu treffen, um folgende Defizite zu beheben: »Ein schwacher und an vielen Stellen korrumpierter Machtapparat, ein riesiger ineffizienter Haushaltskomplex, eine schwache Entwicklung der Konkurrenz sowie die administrative Regulierung der Märkte«. Hinzu kommt die Besorgnis vieler Experten, dass die Eigentumsfrage noch immer nicht endgültig geklärt ist. Aufgrund der umstrittenen Privatisierung der neunziger Jahre kann sich die KPRF vorstellen, die Eigentumsverhältnisse auf den Prüfstand zu stellen.

Im Vergleich zu den anderen BRIC-Staaten, neben Russland sind das Brasilien, Indien und China, kann sich die soziale Entwicklung sehen lassen. Doch dieser Vergleich nimmt an Überzeugungskraft ab. Er ist nicht mehr der Orientierungspunkt der Bürger, die in die Länder der EU reisen. Sie ziehen zum Vergleich die Länder Ostmitteleuropas heran. Doch der Staat verhindert oftmals durch seine Abwesenheit in der Öffentlichkeit den Dialog mit diesen Bürgern. Er verpasst es damit, eine Diskursmasse aufzubauen, und damit Vertrauen, das er später dringend braucht, um einschneidende Maßnahmen in der Gesellschaft durchsetzen zu können.


Bürokratie als Bremse für eine nachhaltige Modernisierung

Als Grund für die bis zur Lähmung reichende Bürokratisierung Russlands wird die Stabilisierung unter dem Präsidenten Putin gesehen. Er stärkte Beamten den Rücken, um den Staat wieder handlungsfähig zu machen. Die Qualität staatlichen Handelns nahm zu, sagen die Politiker von Einiges Russland. Ihre Kritiker konstatieren hingegen nur eine Zunahme der Quantität. Als Ergebnis ist nun eine sehr mächtige Bürokratie am Werke, die den nächsten Schritt, nämlich die Einleitung von Reformen, behindert. Warum? Weil die Bürokratie vom jetzigen System bestens profitiert und bei mehr Offenheit und Konkurrenz diese Pfründe verlieren könnte.

Dabei setzt sie die so oft beschworene Stabilität aufs Spiel. Denn der »Neue Bürger Russlands« ist nicht einverstanden mit einer Symbiose aus Oligarchen und Bürokratie, wie die Sozialexpertin von Gerechtes Russland Oksana Dimitrijewa das Dilemma überspitzt formuliert. »Rossija, Inc.« titelte Nowoje Wremja, und zog Verbindungen zwischen Direktoren prosperierender Unternehmen und deren Nähe zur Macht. Ruslan Grinberg, Leiter des Wirtschaftsinstituts der Akademie der Wissenschaft, warnt vor möglichen Folgen dieser Entwicklung, nämlich »der Degradierung der sozialen Sphäre«.


»Das Leben ist besser geworden. Aber nicht lustiger.«

Und doch haben Untersuchungen der HSE ergeben, dass es etwa 40 Prozent der russischen Bürger besser geht, sowohl im Vergleich zur Sowjetunion als auch zur letzten Legislaturperiode. »Das Leben ist besser geworden. Aber nicht lustiger.« So titelt der Expert in Anspielung auf einen Zeitungsartikel von Josef Stalin, der im Jahr des ersten Schauprozesses das Motto vorgab: »Das Leben ist besser, das Leben ist lustiger geworden.« Zugenommen hat der Konsum. Die Versorgung mit Haushaltstechnik hat sich eindeutig entspannt, ebenso scheint der Kauf eines Automobils einfacher geworden zu sein, vor allem im Vergleich zu Sowjetzeiten. Besaßen 1970 durchschnittlich nur zwei von hundert Personen ein Automobil, so waren es 1990 schon 18, 2000 immerhin 28 und 2009 dann 47. Einen noch dramatischeren Anstieg gab es bei Computern. Konnten sich im Jahre 2000 gerade einmal sechs von hundert Bürgern einen Computer leisten, so waren es 2009 schon knapp über die Hälfte.

Ein Fünftel der Bevölkerung, so das Ergebnis der HSE, lebt auf dem Niveau von 1990, die verbleibenden 40 Prozent haben ein geringeres Einkommen als vor Beginn der Reformen. Gerade sie sind vom Bedeutungswandel des Geldes betroffen. Konnten sie sich früher auf staatlich subventionierte Leistungen wie fast kostenloses Wasser oder Gas sowie billige Elektrizität verlassen, so nehmen diese Kosten zu, bei gleichzeitig niedrigen Löhnen oder Renten.


Soziale Frage als nationales Sicherheitsrisiko

Die soziale Frage ist vermutlich in Russland das brennendste Thema für die Bevölkerung, und damit für die Politiker. Die fühlbare soziale Ungerechtigkeit mindert die allgemeine Zufriedenheit darüber, dass eine gewisse Stabilität eingekehrt ist. Denn eben die scheint zu erodieren. Die soziale Schere öffnet sich immer weiter, insbesondere in den großen Städten. Bei einer Umfrage der Friedrich-Ebert-Stiftung unter Experten und Politikern zu Gefährdungen der nationalen Sicherheit wiesen die Befragten den sozialen Problemen die größte Priorität zu, nicht dem Terrorismus und nicht dem ewigen Feind Nato.

Der Staat versucht das ihm bekannte Problem durch schnelles Eingreifen hochrangiger Politiker sowohl auf nationaler als auch auf regionaler und kommunaler Ebene zu lösen. Nicht selten fliegt der Präsident oder der Premier zu Schlichtungen ein. Auch die uneingeschränkte Möglichkeit der Bürger, ins Ausland zu reisen, mindert den Druck auf den Staat. Doch im Inland ist eine Zunahme der Arbeitsproteste nicht zu leugnen, auch wenn die amtliche Statistik in den Jahren 2008 bis 2010 entsprechend ihrer Definition nur fünf Demonstrationen verzeichnete. Gleichwohl waren es nach einer Untersuchung des unabhängigen Zentrums für soziales Arbeitsrecht im selben Zeitraum 573 Arbeitsproteste.

Vor diesem Hintergrund und auch im Hinblick auf die zunehmenden Zweifel junger und gut ausgebildeter Menschen an einer aussichtsreichen Zukunft im eigenen Land, die sich bei Umfragen in Abwanderungswünschen äußern, wäre eine tiefgreifende Debatte zwischen Parteien vor einer nationalen Parlamentswahl zu erwarten. Doch der Politikwissenschaftler Boris Makarenko schreibt in einer Analyse für die FES Moskau: »Von einer Diskussion der Entwicklungswege des Landes lässt sich weder mit Blick auf die Wahlprogramme noch im Hinblick auf den Wahlkampf sprechen.«

Tatsächlich wenig verwunderlich, vor allem nach dem Parteitag von Einiges Russland im September, als Präsident Dmitrij Medwedew seinen Entschluss bekannt gab, nicht wieder für das höchste Staatsamt zu kandidieren. Putin soll es nun richten, der Duma kommt dabei auch weiterhin nur eine Statistenrolle zu. Denn ein eigenständiges Parlament wie zu Zeiten von Boris Jelzin, als im Dezember 1993 die russische Bevölkerung und die Weltpresse gespannt im großen Kongressgebäude im Kreml auf die Ergebnisse der ersten Dumawahlen warteten, ist vom Staat schon seit Jahren nicht erwünscht. Es reicht eine Duma mit Parteien, die im Prinzip den verlängerten Arm der Exekutive darstellen.

Vor allen Dingen ist keine Duma zu erwarten, wie es sie zu Zeiten des letzten Zaren Nikolaus II. gab: »Das Regime schwitzte«, so schreibt der amerikanische Historiker Adam Ulam über die damalige Zeit, »unter dem gleißenden Licht der Publizität, die die Duma und die Presse allen Freiheitsbeschränkungen zum Trotz auf seine Fehler (die des Zaren, d. A.) und Unterlassungssünden zu richten vermochte.«


Politik unter dem Putin-Kult

Den Parteipolitikern fällt es weiterhin schwer, gegen den allgegenwärtigen Premier Putin und den nicht minder präsenten Präsidenten Medwedew eigene Themen zu platzieren. Diese Konstellation wird auch von der Verfassung begünstigt. Und doch hat die Duma das Recht, Gesetzesinitiativen vorzubringen. Das schließt natürlich politische Debatten ein. Doch es fällt schwer, bei den Parteivorsitzenden Wladimir Schirinowskij (65, LDPR) und Gennadij Sjuganow (67, KPRF) die Kraft für neue Lösungsvorschläge zu erkennen, denn genau wie Grigorij Jawlinskij (59, Jabloko) haben alle drei in ihrer jetzigen Funktion schon an den Wahlen 1993 teilgenommen, ohne eine Chance auf politische Einflussnahme gegenüber dem mächtigen Präsidenten. Bei Sergej Mironow (59, GR), lange de jure als Vorsitzender des Föderationsrates einer der mächtigsten Entscheidungsträger des Landes, wirkt die Umorientierung seiner Partei in Richtung Opposition nicht aufrichtig. Damit tritt Einiges Russland mit dem Präsidenten als Spitzenkandidat, der nicht Parteimitglied ist, fast konkurrenzlos an.

Abgeordnete sind bei Erörterungen von Fachthemen selten beteiligt. Parteimitglieder mit speziellen Kenntnissen stellen eher die Ausnahme dar. Das liegt sicherlich auch an einer schlechteren personellen Ausstattung als bei ihren Kollegen im Bundestag oder an den unterbesetzten Parteiapparaten, gepaart mit einer offenkundigen Aversion von Seiten der Regierung und der Präsidialadministration. Doch bei einer größeren Expertise würden sich die anderen Strukturen dem Angebot vermutlich nicht verweigern.

Das genaue Gegenteil, also Präsenz und Wissen, wird bei der Exekutive vermutet. Mehr noch: Nach einer Umfrage des Lewada-Zentrums ist ein Viertel der Russen davon überzeugt, dass es einen Personenkult um Wladimir Putin gibt. Weitere 30 Prozent sind der Meinung, dass zumindest die Grundlagen dafür gelegt sind. Diese Fixierung auf einen Politiker, im Guten wie im Bösen, ist aus der Geschichte des politischen Systems Russlands nicht schwer herzuleiten. Einst waren es Zaren und Generalsekretäre, heute sind es die Präsidenten, in den letzten vier Jahren zudem noch ein Premier.

Auch die Opposition ist geradezu fixiert auf jenen Politiker, der in den Augen der überwältigenden Mehrheit der Russen für die Wiederauferstehung Russlands nach den schwierigen Jahren der Transformation in den neunziger Jahren steht. Nach ihrem Verständnis haben freilich an diesem Prozess das Parlament und dessen Abgeordnete nicht den geringsten Anteil gehabt.


Strategien für die Zukunft

Denn weder kamen von der Duma und deren Parteien politische Initiativen, noch wird das Parlament als Ort für den wichtigen gesellschaftspolitischen Meinungsaustausch wahrgenommen. Dazu passt das Bonmot des Fraktionsvorsitzenden und Parlamentssprechers Boris Gryslow (ER), dass die Duma kein Platz für Diskussionen sei. So ist das Parlament, sind die Vertreter des Volkes abgetrennt von den politischen Auseinandersetzungen über die Zukunft des Landes.

Diskussionen darüber finden in der Presse statt, auf internationalen Konferenzen und hinter verschlossenen Türen im Kreml und im Weißen Haus, dem Regierungssitz an der Moskwa. Die Mitarbeiter der Duma im mächtigen Gebäude an der Jägergasse im Zentrum Moskaus, bezeichnenderweise einst Sitz der von der Realität entfernten Planbehörde Gosplan, bleiben davon, so hat es den Anschein, unberührt. Zumindest sind die Wortführer, die sich um die Zukunft des Landes streiten, nur in den seltensten Fällen Abgeordnete der Duma. Vielleicht auch deshalb, weil alle Strategien eint, dass das Subjekt von Reformen der Staat ist, die Gesellschaft das Objekt.

Da ist es nur verständlich, dass statt Parteien Institute Strategien für die Zukunft entwerfen. Noch vor der Weltfinanzkrise erblickte die im Auftrag der Regierung erstellte Strategie Russland 2020 das politische Licht, dann schlug das Institut für moderne Entwicklung unter Igor Jurgens 120 Schritte für den nächsten Präsidenten vor. Gemeint war Dmitrij Medwedew. Nach dem Quasi-Rücktritt Medwedews als Präsident sind die 120 Schritte nicht mehr aktuell, und aufgrund der Folgen der Krise wird die Strategie 2020 komplett umgearbeitet. 23 Arbeitsgruppen beschäftigen sich mit Fragen nach einem neuen Wachstumsmodell für die Wirtschaft, nach dem Abbau sozialer Abhängigkeiten und dem Aufbau neuer Schulen. Sogar der berühmteste Häftling Russlands, Michail Chodorkowskij, kann sein Szenarium für die Entwicklung seines Landes in der führenden Wirtschaftszeitung Wedomosti publizieren. Die Variante, das Land zu verlassen, empfiehlt er nicht. Stattdessen fordert er, zu handeln: »Sich vereinigen und seine Bürgerrechte verteidigen, und sei es auf dem niedrigsten, dem kommunalen, dem HinterhofNiveau, denn das ist Handlung, das ist Erfahrung, wenn auch minimal, so doch ein Resultat.«

Ein Resultat wird es auch nach den Dumawahlen geben. Als sicher gilt, dass die kommunistische Partei und die LDPR erneut die Sieben-Prozent-Hürde nehmen werden, bei Gerechtes Russland ist das fraglich, bei Jabloko fast unmöglich. Und bei der Regierungspartei Einiges Russland ist nur unklar, ob sie über oder unter 60 Prozent der Stimmen erhalten wird.

Chodorkowskij, der ehemals reichste Geschäftsmann Russland, der aufgrund seiner politischen Ambitionen für den Staat zu gefährlich wurde, gibt zu, dass bürgerschaftliche Initiativen zunächst erfolglos bleiben werden. Doch auf der anderen Seite könnte durch kleine Schritte die nächste handelnde Klasse in Russland entstehen. Das ist der »Neue Russische Bürger«, die Person des Jahres 2010, der an den Wahlen teilnehmen wird, obwohl er keine rechte Wahl hat. Aber vielleicht beim nächsten Mal.


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Reinhard Krumm ist Leiter der Friedrich-Ebert-Stiftung in der Russischen Föderation


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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Dezember 2011