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BERUF/1631: Berufsausbildung - Vor unsicheren Zeiten (DJI Impulse)


DJI Impulse
Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 3/2014 - Nr. 107

Berufsausbildung: Vor unsicheren Zeiten

Von Martin Baethge und Markus Wieck



Mehr Studienberechtigte, weniger Schulabsolventen und drohender Fachkräftemangel können für die Berufsausbildung zum (Nachfrage-)Problem werden. Die ökonomisch und sozial sinnvollste Lösung wäre, die vom Ausbildungsmarkt bisher vernachlässigten Jugendlichen in Ausbildung zu bringen.


Die aktuellen Probleme der Berufsausbildung (duale Ausbildung) unterhalb der Hochschulebene sind eingebettet in längerfristige Trends von Bildung und Ausbildung, ohne deren Betrachtung sie kaum zu verstehen sind. Vor dem Hintergrund der Bildungsexpansion, deren augenfälligster Ausdruck in den beiden letzten Jahrzehnten der Anstieg der Studienberechtigtenquote auf aktuell über 50 Prozent einer Altersgruppe ist, zeigen sich gleichzeitig Angebotsengpässe in der dualen Ausbildung. Daraus resultieren folgenschwere Verschiebungen in den Ausbildungsströmen zwischen den vier großen Sektoren der Berufsausbildung: dem dualen System, dem Schulberufssystem, dem Studium und dem Übergangssystem.

Gewinner der Verschiebungen ist das Hochschulstudium (inklusive der Fachhochschulen), das die größten Zuwächse verzeichnet. Die Zahl der Neuzugänge zum Studium ist in den beiden letzten Jahrzehnten kontinuierlich angewachsen und hat sich seit 1995 von 261.427 auf 510.672 im Jahr 2013 annähernd verdoppelt (siehe Abbildung 1, S. 16[*]). Demgegenüber geht die Zahl der Neuzugänge zur dualen Berufsausbildung, die 1995 mit 547.063 Personen gegenüber den Studienanfängerinnen und Studienanfängern mehr als doppelt so hoch war, zurück. Sie verliert 2013 gegenüber dem Höchststand aus dem Jahr 2000 um 15 Prozent und fällt aktuell unter die Zahl der Studienanfängerinnen und -anfänger. Das Schulberufssystem kann bis 2005 zwar bei den Neuzugängen um 20 Prozent zulegen, stagniert jedoch ab diesem Zeitpunkt.

Die zweite starke Bewegung - neben dem Hochschulstudium - lässt sich im Übergangssystem beobachten. Die Neuzugänge zu diesem Sektor, der keinen voll qualifizierenden Ausbildungsabschluss, sondern berufsvorbereitende und allgemeinbildende Kompetenzen vermittelt, steigen zwischen 1995 und 2003 zunächst stark um 60 Prozent an. Von da an gehen sie jedoch bis 2013 kontinuierlich um über 50 Prozent zurück (auf 257.626 Teilnehmerinnen und Teilnehmer). Anstieg wie Rückläufigkeit sind im Wesentlichen der demografischen Entwicklung geschuldet, die im ersten Zeitraum einen deutlichen Anstieg der Zahl der Ausbildungsbewerberinnen und -bewerber, im zweiten hingegen einen noch stärkeren Rückgang bewirkte.

Was die quantitativen Aspekte der demografischen Entwicklung betrifft, wurde sowohl die steigende als auch später die fallende Ausbildungsnachfrage fast ausschließlich über die Angebote des Übergangssystems kanalisiert. Das duale System entfaltete im ersten Zeitraum im Ausbildungsplatzangebot allenfalls eine geringfügige Flexibilität nach oben, das Schulberufssystem ebenfalls nur eine begrenzte. Man kann davon ausgehen, dass die Nachfrage in diesen beiden voll qualifizierenden Berufsbildungsteilsystemen ansteigen wird, da diejenigen, die in der Ausbildungsmarktkrise als "Marktbenachteiligte" im Übergangssystem landeten, nun wieder eine Chance in der dualen Ausbildung und im Schulberufssystem erhalten.

Die Ursachen für die Entwicklung lassen sich hier nur andeuten: Sie liegen sowohl auf der Angebots- als auch der Nachfrageseite. Die Expansion des Hochschulstudiums darf in erster Linie dem starken Bildungsinteresse der wachsenden Mittelschicht zugeschrieben werden. Rückläufigkeit und Stagnationstendenzen in der beruflichen Bildung hingegen sind vor allem auf der Angebotsseite anzusiedeln, da im letzten Jahrzehnt die Nachfrage nach Ausbildungsplätzen immer deutlich höher war als das Ausbildungsplatzangebot. In diesem Zeitraum ging die Ausbildungsquote (Auszubildende je 100 Beschäftigte) wie auch die Ausbildungsbetriebsquote (ausbildende Betriebe je 100 Betriebe) um gut 10 Prozent zurück. Weder die korporatistische Steuerung der Berufsausbildung durch die Sozialpartner (dabei verhandeln Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände als "politische Körper") noch der Ausbildungspakt zwischen Politik und Wirtschaft konnten ein nachfrageentsprechendes Ausbildungsplatzangebot bewirken. Ein Ausgleich mangelnder betrieblicher Ausbildungsangebote durch die Länder im Rahmen vollzeitschulischer Ausbildung fand ebenfalls nicht statt (siehe Abbildung 1[*]).

Die Entwicklung eskaliert aktuell in einer doppelten Problemkonstellation für die Berufsbildungspolitik: Unter ökonomischen Aspekten ist mittelfristig eine Gefährdung des erforderlichen Fachkräftepotentials nicht von der Hand zu weisen. In sozialer Hinsicht wird sich die ungleiche Ausbildungsbeteiligung von Jugendlichen mit maximal Hauptschulabschluss und/oder Migrationshintergrund verlängern - möglicherweise sogar verschärfen. Den ersten (ökonomischen) Teil der Problemkonstellation (den zunehmenden Fachkräftemangel) hat es bei allen Ausbildungsmarktkrisen in der Vergangenheit nicht gegeben. Der zweite (soziale) Teil bleibt für über eine viertel Million Jugendliche Realität. Dass beide Teile in einer politischen Lösungsperspektive eng zusammen gehören, wird sich zeigen.


Berufsbildung zwischen drohender Fachkräftelücke und ungleicher Ausbildungsbeteiligung

Die mittelfristige Arbeitskräfteprojektion in Abhängigkeit vom Qualifikationsniveau zeigt für die drei Qualifikations-Segmente (siehe Abbildung 2[*]) eine stark unterschiedliche Entwicklungsdynamik: Das Segment der Hochqualifiziertenbeschäftigung (tertiärer Bereich) weist aktuell einige Nachwuchsengpässe auf, die sich bis 2030 aufzulösen scheinen, obwohl das Hochqualifiziertensegment beim Bedarf als einziges deutlich expandiert. Im Fachkräftesegment ("mit abgeschlossener Berufsausbildung") werden spätestens ab 2020 Engpässe angezeigt, die in einzelnen Berufsfeldern bereits früher auftreten können, weil sich die Bedarfs- und Angebotskurven schon früher so weit annähern, dass bei einzelnen Berufen Besetzungsschwierigkeiten zu erwarten sind. Im Geringqualifiziertensegment ("ohne abgeschlossener Berufsausbildung") bleiben bei gleichzeitiger Rückläufigkeit von Angebot und Nachfrage große Angebotsüberhänge, die bei sonst gleichbleibenden Umständen weiterhin hohe Arbeitslosigkeit in dieser Gruppe erwarten lassen.

Die zentrale Schwachstelle in der Entwicklung bildet demnach, von beruflichen Sonderentwicklungen in einzelnen Hochschuldisziplinen abgesehen, das berufsfachliche Segment. Um die Probleme in diesem Qualifikationsbereich zu beheben, stehen drei Möglichkeiten offen: Erstens könnten mehr Studienberechtigte für die duale Ausbildung gewonnen werden. Da aber im letzten Jahrzehnt der Zustrom von Studienberechtigten unterproportional zu deren zahlenmäßiger Expansion verlief, erscheint diese Option nicht sehr vielversprechend. Die zweite Option wäre die Ausweitung des Angebots an betrieblichen Ausbildungsplätzen gewesen, da die demografischen Probleme seit Langem bekannt sind. Bisher scheinen die Unternehmen wenig vorsorgende Ausbildung praktiziert zu haben, wenn man berücksichtigt, dass selbst in den industriellen Kernberufen gegenwärtig das Angebot an Ausbildungsplätzen deutlich hinter der Nachfrage zurückbleibt (Bildungsbericht 2014, S. 102).


Die vom Ausbildungsmarkt ausgeschlossenen Jugendlichen müssen qualifiziert werden

Die bisherigen Versäumnisse in vorsorgender Ausbildungspolitik werden ab jetzt bei demografisch bedingt sinkender Ausbildungsnachfrage schwerer zu korrigieren sein als zu Zeiten, in denen die Nachfrage groß war. Hier kommt die dritte Option ins Spiel: die Qualifizierung der bisher von Ausbildung Ausgeschlossenen (Nachqualifizierung) und der formal Geringqualifizierten.

Zwar ist der Anteil der Jugendlichen zurückgegangen, die eine Berufsausbildung beginnen und sich vorher im Übergangssystem befanden - von 2003, dem Zeitpunkt des Höchststandes, von über 40 Prozent auf knapp 27 Prozent im Jahr 2013. Dieser Rückgang war allerdings im Wesentlichen demografisch bedingt. Mit annähernd 260.000 Jugendlichen liegt hier ein Arbeitskräftepotential, dessen berufliche Zukunft höchst ungewiss ist, das man aber in Zukunft immer stärker brauchen wird.

Gegenwärtig ist die berufliche Integration durch Ausbildung für Jugendliche mit maximal Hauptschulabschluss und ausländische Jugendliche, deren Ausbildungsintegration selbst bei gleichem Schulabschluss noch einmal deutlich ungünstiger verläuft als bei deutschen Jugendlichen, in doppelter Weise unzulänglich: zum einen beim Übergang von der allgemeinbildenden Schule in Ausbildung, zum anderen, wenn der Einstieg in eine Ausbildung gelungen ist. Jugendliche mit maximal Hauptschulabschluss weisen mit 40,6 Prozent die höchste Quote an allen Schulabsolventenkategorien auf (siehe Abbildung 3[*]), die ihre Ausbildung im Übergangssystem begonnen haben. Diejenigen von ihnen, die eine Ausbildung erreichen, durchlaufen diese mit der höchsten Vertragsauflösungsquote (ein Drittel) und der geringsten Quote erfolgreicher Ausbildungsabschlüsse (62 Prozent; siehe Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2014, S. 112). Für ausländische Jugendliche stellen sich beide Probleme bei gleichem Vorbildungsniveau noch ungleich kritischer dar.

Will man die soziale Ungleichheit in der Ausbildungsbeteiligung abmildern und zugleich ein Arbeitskräftepotential für die Zukunft erschließen, geht es um die Lösung von zwei höchst schwierigen Problemen: um die Neugestaltung des ganzen Übergangsraums von der allgemeinbildenden Schule bis in die betriebliche oder in eine vollzeitschulische Ausbildung. Es wird aber auch eine pädagogisch effektivere Gestaltung der Ausbildung erforderlich sein. Offen bleibt, wie weit die Betriebe von sich aus in der Lage sind, beide Probleme zu lösen. Der bis heute ertönende Ruf nach "ausbildungsreifen" Jugendlichen muss eher als Barriere verstanden werden, da er die Verantwortung einseitig auf die Schule abwälzt und die pädagogische Aufgabe und Gestaltungskraft der Betriebe - möglicherweise absichtlich - ausblendet.


DIE AUTOREN

Prof. Dr. Martin Baethge hatte von 1973 bis 2004 den Lehrstuhl für "Allgemeine Soziologie mit den Schwerpunkten Bildungs- und Berufssoziologie, Soziologische Methodenlehre" an der Universität Göttingen inne. Seit 1975 war er Direktor des Soziologischen Forschungsinstituts (SOFI), dessen Präsident er seit 2006 ist.
Kontakt: martin.baethge@sofi.uni-goettingen.de

Markus Wieck, Dipl.-Sozialwirt, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am SOFI. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Bildungssoziologie und soziale Ungleichheitsforschung.
Kontakt: markus.wieck@sofi.uni-goettingen.de


LITERATUR

AUTORENGRUPPE BILDUNGSBERICHTERSTATTUNG (2014):

Bildung in Deutschland 2014. Bielefeld

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DJI Impulse 3/2014 - Das komplette Heft finden Sie im Internet als PDF-Datei unter:
www.dji.de/impulse
Dort finden Sie auch im Schattenblick nicht veröffentlichte Tabellen und Graphiken der Printausgabe unter
http://www.dji.de/fileadmin/user_upload/bulletin/d_bull_d/bull107_d/DJI_3_14_WEB.pdf

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Quelle:
DJI Impulse - Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 3/2014
- Nr. 107, S. 15-18
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. November 2014