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HOCHSCHULE/1573: Die soziale Seite der Bildung - Der dritte Weg ins Studium (DJI)


DJI Bulletin 2/2010, Heft 90
Deutsches Jugendinstitut e.V.

Die soziale Seite der Bildung
Der dritte Weg ins Studium

Von Andrä Wolter


Wer kein Abitur hat, schafft es in Deutschland immer noch selten an eine Hochschule. Viele beruflich Hochqualifizierte wären aber in der Lage, ein Studium erfolgreich zu meistern. Warum es sich das Land nicht länger leisten kann, ihnen den Hochschulzugang zu verwehren.


Zugang und Zulassung zu den Universitäten sind in Deutschland immer noch in erster Linie vom Nachweis des Abiturs abhängig, der in der Regel durch den Abschluss einer gymnasialen Oberstufe erbracht wird. Im Fachhochschulbereich ist es möglich, mit der Fachhochschulreife (zum Beispiel mit dem Abschluss einer Fachoberschule oder Fachschule) ein Studium aufzunehmen. Seit der Weimarer Republik existiert neben diesen regulären Zugangswegen noch eine kleine Seitenpforte für Berufsqualifizierte, die über keine herkömmliche schulische Studienberechtigung verfügen - ein Weg, der lange Zeit nur über eine scharfe Zulassungsprüfung in die Hochschule führte. Seit den 1980er Jahren hat sich hierfür der Begriff des Dritten Bildungswegs eingebürgert, neben dem Zweiten Bildungsweg, dem Nachholen des Abiturs im Abendgymnasium oder Kolleg. Während der Zweite Bildungsweg schulrechtlich geregelt ist, unterliegen die verschiedenen länderspezifischen Formen des Dritten Bildungswegs - Zulassungsprüfungen, Studium auf Probe, direkter Zugang mit Meisterprüfung und andere Verfahren für Personen mit abgeschlossener Berufsausbildung, aber ohne schulische Studienberechtigung - der hochschulrechtlichen Regelung. Im internationalen Vergleich wird oft von »non-traditional students« gesprochen.


Offener Hochschulzugang: bildungspolitisch kontrovers

Seitens der Verfechter des Gymnasialmonopols ist die Öffnung von Zugangswegen zur Hochschule neben dem Abitur immer heftig kritisiert worden. In den letzten zwei Jahrzehnten ist die Durchlässigkeit zwischen beruflicher Bildung, Berufsarbeit und Hochschulzugang allerdings stärker in das bildungspolitische Blickfeld geraten. Die Kritik der Gymnasiallobby ist zwar nicht verschwunden, aber leiser geworden. Hintergrund für das neue Interesse an diesem Thema war zunächst in den 1990er Jahren die berufsbildungspolitische Diskussion über die Gleichwertigkeit zwischen allgemeiner und beruflicher Bildung. Diese Debatte ging von der Befürchtung aus, das duale System der Berufsausbildung stünde angesichts der zunehmenden Konkurrenz mit dem Gymnasium in den Bildungsentscheidungen der Jugendlichen vor einem dramatischen Nachfrageeinbruch. Die Öffnung des Hochschulzugangs für Absolventinnen und Absolventen beruflicher Bildung galt deshalb als ein Weg zur Aufwertung der Berufsausbildung gegenüber dem gymnasialen Bildungsweg.

Das Interesse an diesem Thema erlahmte jedoch, als das Nachfragedefizit auf dem Ausbildungsstellenmarkt in ein bis heute anhaltendes Angebotsdefizit umschlug. Seit der Jahrtausendwende verschiebt sich das Interesse am Hochschulzugang wieder mehr in eine hochschulpolitische Richtung. Nun steht die Befürchtung im Mittelpunkt, die Entwicklung der Studiennachfrage und die im internationalen Vergleich in Deutschland sehr niedrige Hochschulabsolventenquote reichten nicht aus, dem Bedarf an hochqualifizierten Arbeitskräften nachzukommen. Dabei wird angenommen, dass dieser Bedarf aufgrund des volkswirtschaftlichen Qualifikationsstrukturwandels (»upgrading«) und aus demografischen Gründen stark anwachsen wird. Der Bildungsbericht 2010 macht jedoch deutlich, dass sich diese Annahme empirisch nur teilweise belegen lässt. Zwar wächst der Bedarf an, aber nur in engen Grenzen und auch nur in einigen Berufsfeldern. Vor dem Hintergrund dieser weit verbreiteten Befürchtung eines gravierenden Nachwuchsmangels gilt die Öffnung des Hochschulzugangs jetzt aber als eine Art Ventil, die Studienanfänger- und damit die späteren Absolventenzahlen über das herkömmliche Studienberechtigtenpotenzial hinaus zu erweitern. Das neue Interesse an dieser Frage hat dazu geführt, dass in den letzten Jahren die Kultusministerkonferenz und einzelne Bundesländer Regelungen getroffen haben, den Hochschulzugang für Berufstätige stärker zu öffnen.


Studierende ohne Abitur: statistisch marginal

Die tatsächliche Durchlässigkeit zwischen beruflicher Bildung und Hochschule in Deutschland hält sich bislang in sehr engen Grenzen. Der Anteil nicht-traditioneller Studierender, die auf einem der verschiedenen hochschulrechtlich geregelten Wege in die Hochschule gekommen sind, ist deprimierend gering. Im Jahr 2008 kamen gerade mal 1,1 Prozent aller Studienanfängerinnen und Studienanfänger über den Dritten Bildungsweg in die Hochschule; an den Universitäten waren es 0,6 Prozent, an den Fachhochschulen 1,8 Prozent (Bildungsbericht 2010). Der Frauenanteil liegt bei etwa 40 Prozent. Die Institutionen des Zweiten Bildungswegs kommen auf einen doppelt bis dreifach höheren Anfängeranteil. Immer noch hat im Universitätsbereich das gymnasiale Abitur mit 95 Prozent eine fast monopolartige Bedeutung als Studienberechtigung (unter Einschluss des Zweiten Bildungswegs). Selbst im Fachhochschulbereich ist es jede/r Zweite, die/der ihr/sein Studium mit dem Abitur aufnimmt.

Die Dominanz des Abiturs als »Königsweg« des Hochschulzugangs ist ungebrochen. Die von Zeit zu Zeit zu hörende Behauptung eines angeblichen Bedeutungsverlustes des Abiturs gehört offenkundig in den Bereich der Legenden und Mythen. Lediglich im Fachhochschulbereich ist mit einem Anteil von zirka 35 Prozent noch der Weg über die Fachoberschule oder Fachschule verbreitet. Der Anteil des Dritten Bildungsweges ist von 1995 bis 2008 gerade mal von 0,5 auf 1,1 Prozent angewachsen, was in erster Linie den Fachhochschulen zu verdanken ist. An den Universitäten hat sein Anteil nur von 0,4 auf 0,6 Prozent zugenommen. Die weit verbreitete Befürchtung, wonach eine Öffnung des Hochschulzugangs zu einer noch stärkeren Überfüllung der Hochschulen führe, erweist sich deshalb als weit hergeholt.


Internationaler Vergleich: Deutschland abgehängt

Auch im internationalen Vergleich streuen die Anteile nicht-traditioneller Studierender erheblich. Es gibt allerdings keine international verbindliche Definition von nicht-traditionellen Studierenden, die Unterscheidung zwischen »traditionell« und »nicht-traditionell« hängt vielmehr stark vom nationalen Kontext ab. In der aktuellen Eurostudent-Studie (HIS 2008) ist der Anteil der nicht-traditionellen Studierenden in den an der Studie beteiligten 23 Staaten entlang einer engen Definition erhoben worden, die sich an der Anerkennung beruflicher Kompetenzen beim Hochschulzugang orientiert. Danach liegt England mit 15 Prozent vor Estland und Spanien (jeweils 11 Prozent), Deutschland erreicht nur 1 Prozent (Dritter Bildungsweg). England kommt auf einen so hohen Wert dank der offenen Zugangspolitik der Open University, der größten britischen Universität, und der an vielen Hochschulen praktizierten APEL-Verfahren (accreditation/assessment of prior experiential learning). Andere komparative Studien bestätigen dieses Bild, jedenfalls hinsichtlich des im internationalen Vergleich sehr niedrigen Anteils nicht-traditioneller Studierender in Deutschland (Schuetze/Wolter 2003; Teichler/Wolter 2004).

Nach einer Sonderauswertung des Statistischen Bundesamtes (Statistisches Bundesamt 2009) verfügten im Jahr 2007 mehr als 80 Prozent der zugelassenen Studienanfängerinnen und Studienanfänger über eine fachgebundene Hochschulreife oder die Fachhochschulreife. Sie präferieren mehrheitlich eher ein Fachhochschul- als ein Universitätsstudium. Die in der Fächergruppe Rechts-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften zusammengefassten Fächer und Studiengänge erweisen sich mit 46 Prozent der Anfängerinnen und Anfänger dieses Weges am attraktivsten; es folgen die Ingenieurwissenschaften (23 Prozent). Mit 8 Prozent fanden die Studiengänge der Fächergruppe Sprach- und Kulturwissenschaften nur ein sehr geringes Interesse, wozu sicher die in vielen dieser Fächer geltende Latinitätsanforderung beigetragen hat.

Interessant ist der Befund, dass die auf dem Dritten Bildungsweg zugelassenen Studierenden ihr Studium genauso häufig abschließen wie die anderen Studierenden, sie also keine höhere Abbruchquote aufweisen. Die vermeintliche Gefahr eines Studienabbruchs (als Folge mangelnder Studierfähigkeit) ist der am häufigsten geäußerte Einwand gegenüber einer Öffnung des Hochschulzugangs. Ohnehin verrät der alte Einwand fehlender Studierfähigkeit angesichts erheblich veränderter Qualifikationsstrukturen in der beruflichen Bildung und Weiterbildung eher ständisches Denken. Studierfähigkeit wird mehr und mehr zu einer Frage der individuellen Kompetenz - gleichermaßen für Abiturientinnen und Abiturienten wie für Absolventinnen und Absolventen beruflicher Bildung.


Unübersichtlich, unflexibel und restriktiv

Worin liegen die Gründe und Ursachen, dass der Dritte Bildungsweg trotz der ihm programmatisch zugeschriebenen Bedeutung nicht so recht auf eine höhere Nachfrage und Beteiligung stößt? Dafür lassen sich verschiedene Bedingungen identifizieren, die zugleich verdeutlichen, in welche Richtung diese Zugangswege weiterentwickelt werden müssten (Bildungsbericht 2008). Erstens zeichnet sich der Bildungsweg durch eine ausgeprägte Intransparenz und Heterogenität zwischen den Bundesländern aus (Nickel/Leusing 2009); in 16 Ländern gibt es mehr als 30 Regelungen. Zulassungsprüfungen unterschiedlicher Art stehen neben Einstufungsprüfungen, Formen eines Studiums auf Probe, automatischer Anerkennung der Meisterprüfung als Zugangsberechtigung und anderen Varianten. Insgesamt ist in Deutschland die Vorstellung von Studierfähigkeit immer noch stark vom Modell des gymnasialen Abiturs geprägt.

Zweitens erweisen sich die vorhandenen Zulassungsregelungen oft als unflexibel und restriktiv. Ein Beispiel dafür ist die weit verbreitete sogenannte Kongruenzregelung, wonach Berufstätige (im definierten Sinne) eine Zulassung nur in einem ihrer beruflichen Qualifikation entsprechenden Studienfach erhalten (beispielsweise die Erzieherin für Sozialpädagogik, der Elektriker für Elektrotechnik). Diese Regelung ist äußerst unflexibel, weil sich zum einen eine Vielzahl von Ausbildungsberufen gar keinem Studienfach oder Studiengang zuordnen lässt und sich zum anderen für viele Studienfächer und -gänge keine Vorbildungsberufe finden. Hinzu kommt, dass viele Interessentinnen und Interessenten das Studium nicht als Höherqualifizierung im einmal gewählten Berufsfeld sehen, sondern als Option eines Berufswechsels oder der Realisierung eines ganz bestimmten Fach- oder Berufswunsches oder als Chance der persönlichen Weiterbildung und Selbstentfaltung.

Drittens zeichnet sich Deutschland im internationalen Vergleich durch ein erhebliches Angebotsdefizit an flexiblen Studienformen zum Beispiel durch ein berufsbegleitendes Teilzeitstudium oder durch ein Fernstudium aus. Diese sind aber für Bewerberinnen und Bewerber aus dem Beruf sehr attraktiv, weil sie ein berufsbegleitendes Studieren ermöglichen. Auch Verfahren zur Anerkennung und Anrechnung beruflicher Leistungen unter Einschluss der Weiterbildung auf den Hochschulzugang oder das Hochschulstudium sind in Deutschland noch unterentwickelt. Dem Thema Durchlässigkeit kommt aber insbesondere unter dem Aspekt der Implementierung von Strukturen lebenslangen Lernens eine große Bedeutung zu, sind doch die Absolventinnen und Absolventen solcher Bildungswege mit Blick auf den kumulativen Erwerb von Kompetenzen und Qualifikationen über die Lebensspanne geradezu paradigmatisch für lebenslange Lernprozesse.


Lebenslanges Lernen erfordert Abbau der Barrieren

Oft wird lebenslanges Lernen stark mit Weiterbildung identifiziert. In der internationalen bildungswissenschaftlichen Debatte hat sich inzwischen ein erweitertes Verständnis lebenslangen Lernens durchgesetzt. Damit geht ein Perspektivenwechsel einher: »the shift in perspective from an institutional and formal one to a learner-centred one« (Schuetze 2004, S. 97). Das Konzept des lebenslangen Lernens erhält eine institutionen- und eine lebenszyklenübergreifende Perspektive. Lebenslanges Lernen lenkt nicht nur den Blick auf die biografische Anschlussfähigkeit von Lernprozessen über alle Lebenszyklen (»lebenslang«) hinweg, sondern auch auf verschiedene Formen und Orte des Lernens (»lebensweit«). Die institutionellen Strukturen des Bildungssystems und die dadurch ermöglichten Bildungswege sollen möglichst offen, flexibel und transparent sein, so dass ein hohes Maß an Durchlässigkeit und Beweglichkeit ohne Sackgassen gewährleistet ist. Dies schließt auch die Anerkennung non-formalen und informellen Lernens ein. In diesem Kontext wäre eine stärkere Öffnung des Hochschulzugangs ein direkter Beitrag zur Realisierung lebenslangen Lernens im Hochschulsystem.


Der Autor Dr. phil. habil. Andrä Wolter ist seit 1993 Professor für Organisationsentwicklung im Bildungswesen an der Technischen Universität Dresden. Von 2004 bis 2006 war er Leiter der Abteilung Hochschulforschung des Hochschul-Informations-Systems (HIS) in Hannover und ist dort nun freier Mitarbeiter. Er ist Sprecher des Promotionskollegs Lebenslanges Lernen an der TU Dresden und Mitglied der Autorengruppe, die für den Nationalen Bildungsbericht verantwortlich ist, sowie zahlreicher Beiräte, Herausgeberkollegien und anderer Gremien. Seine Arbeitsgebiete und Forschungsschwerpunkte sind die empirische Hochschul- und Studentenforschung und Forschungen über lebenslanges Lernen.


Literatur:

Autorengruppe Bildungsberichterstattung (2010): Bildung in Deutschland 2010. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Perspektiven des Bildungswesens im demografischen Wandel. Bielefeld

Autorengruppe Bildungsberichterstattung (2010): Bildung in Deutschland 2010. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Auswirkungen der demografischen Entwicklung auf das Bildungswesen. Bielefeld

HIS, Hochschul-Informations-System (2008): Social and economic conditions of student life in Europe. Final Report. Eurostudent III. Bielefeld

Nickel, Sigrun / Leusing, Britta (2009): Studieren ohne Abitur: Entwicklungspotenziale in Bund und Ländern. Centrum für Hochschulentwicklung, Arbeitspapier Nr. 123. Gütersloh

Schuetze, Hans-Georg (2004): Universities, continuing education, and lifelong learning. In: Fröhlich, Werner / Jütte, Wolfgang (Hrsg.): Qualitätsentwicklung in der postgradualen Weiterbildung. Münster, S. 93-103

Schuetze, Hans Georg / Wolter, Andrä (2003): Higher education, non-traditional students and lifelong learners in industrialized countries. In: Das Hochschulwesen 51, S. 183-189

Statistisches Bundesamt (2009): Neue Wege zum Studium. Wiesbaden (Destatis 24. März 2009)

Teichler, Ulrich / Wolter, Andrä. (2004): Zugangswege und Studienangebote für nicht-traditionelle Studierende. In: Die Hochschule, Heft 2, S. 64-80


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Quelle:
DJI-Bulletin Heft 2/2010, Heft 90, S. 28-30
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. September 2010