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INTERNATIONAL/010: USA - Von der Schule in den Knast, hohe Polizeipräsenz gefährdet Recht auf Bildung (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 17. November 2011

USA: Von der Schule in den Knast - Hohe Polizeipräsenz gefährdet Recht auf Bildung

von Kanya D'Almeida


Washington, 17. November (IPS) - Metalldetektoren, Drogenspürhunde, bewaffnete Wachen und Bereitschaftspolizei gehören an manchen staatlichen Schulen in den USA längst zum Alltag. Die Gebäude, die hinter hohen, mit Stacheldraht gesicherten Mauern liegen, ähneln Gefängnissen und Kontrollpunkten in Kriegsgebieten. Bildung bleibt dort auf der Strecke.

Dabei verteidigen die Vereinten Nationen, Menschenrechtsorganisationen und internationale Gerichte freie Bildung als "Grundpfeiler der erfolgreichen sozialen Entwicklung junger Menschen". Und in dem richtungsweisenden Urteil von 1954, das die Rassentrennung an US-Schulen aufhob, heißt es: "Es ist zu bezweifeln, dass irgendeinem Kind ernsthafte Chancen auf Erfolg im Leben eingeräumt werden können, wenn es keine Bildung erhält."

Dennoch wird nach wie vor Hunderttausenden Kindern in den USA systematisch das Recht auf Bildung verwehrt. Von der Schule werden sie ins Gefängnis verlegt. In den vergangenen zwei Jahrzehnten sind die Disziplinarmaßnahmen an Schulen im Sinne einer 'Null-Toleranz-Politik' wesentlich verschärft worden. Viele Polizisten sind an Spielplätzen und in Klassenräumen im Einsatz.

Zahlen des US-Justizministeriums belegen, dass die Zahl der 'school resource officers' - Polizisten, die an Schulen entsandt werden - in den letzten zehn Jahren um 38 Prozent gestiegen ist. Diebstähle und gewaltsame Zwischenfälle an Bildungseinrichtungen sind mittlerweile auf dem niedrigsten Stand seit 1992, als das Nationale Zentrum für Bildungsstatistiken zum ersten Mal umfassende Daten dazu erhob.


Polizeipräsenz läuft Lernzielen zuwider

Ein am 15. November veröffentlichter Bericht der Denkfabrik 'Justice Policy Institute' (JPI) bestätigt, dass die steigende Präsenz von Polizisten an Schulen die Bildungseinrichtungen weder sicherer macht noch dem Lernen förderlich ist. Im Gegenteil störten die Beamten dort die Lernatmosphäre, kritisiert der Report. Die Zahl der Festnahmen sei gestiegen, mehr Schüler seien im Jugendstrafvollzug gelandet.

"Die Polizei an den Schulen unterminiert jährlich die Ausbildung von Tausenden Schülern", erklärte Amanda Petteruti, die Hauptautorin des JPI-Berichts, im Interview mit IPS. "Die Auswirkungen der Festnahmen und Inhaftierungen von Schülern sind beträchtlich. Untersuchungen haben gezeigt, dass zwei Drittel bis drei Viertel aller Jugendlichen, die im Gefängnis saßen und nach der Entlassung zur Schule zurückkehren, binnen eines Jahres den Unterrichtsbesuch abbrechen. Nach vier Jahren haben weniger als 15 Prozent einen höheren Schulabschluss erworben." Nach Überzeugung von Petteruti kann bereits der Kontakt zu Gerichten dazu führen, dass die Jugendlichen die Schule abbrechen.

Wie aus einem 2011 verbreiteten Bericht der 'New York Civil Liberties Union' hervorgeht, wurden zwischen 2005 und 2006 3,3 Millionen Schüler vom Unterricht ausgeschlossen. Anhand von Daten des US-Bildungsministeriums fanden die Autoren heraus, dass allein in New York etwa 500.000 Schüler in den vergangenen zehn Jahren suspendiert wurden. Damit gingen ihnen 2,2 Millionen Unterrichtstage verloren.

Laut der Studie 'Derailed - The Schoolhouse to Jailhouse Track' ('Entgleist - Der Weg von der Schule ins Gefängnis') des unabhängigen 'Advancement Project' wurde 2003 ein sechsjähriger Schüler in Palm Beach in Florida festgenommen, weil er widerrechtlich ein Schulgelände betreten hatte. Dabei war das Kind auf seinem Heimweg lediglich über den Schulhof gelaufen.

In Indianola im US-Bundesstaat Mississippi wurden Grundschüler ins Gefängnis gesteckt, weil sie während einer Veranstaltung miteinander gesprochen hatten. Und in Irvington in New Jersey wurden zwei Kinder an einer Grundschule der 'terroristischen Bedrohung' bezichtigt, weil sie Räuber und Gendarm gespielt und dabei ein Papierflugzeug benutzt hatten.


Schwarzer Schülerin der Arm gebrochen

2007 zeichnete eine Überwachungskamera an einer Schule in Palmdale, Kalifornien, einen Angriff von zwei Schulpolizisten auf eine 16-Jährige auf. Dem Mädchen wurde der Arm gebrochen, weil sie ein Stück Kuchen auf den Boden fallen ließ. Die beiden bewaffneten Wächter stießen die Schülerin gegen einen Tisch, drehten ihr den Arm um und ließen rassistische Sprüche gegen die junge Schwarze los.

Solche Vorfälle sind an Hunderten staatlichen Schulen in den USA keine Ausnahme, sondern eher die Regel. Die meisten der mehreren Tausend Schüler, die jedes Jahr festgenommen werden, haben sich bestenfalls kleinere Vergehen zuschulden kommen lassen oder waren schlicht ungehorsam. Häufig sind schwarze Jugendliche besonders betroffen.

"Die Rechercheergebnisse aus den Denkfabriken legen nahe, dass schwarze Schüler unverhältnismäßig oft unter der Präsenz der Polizisten an Schulen zu leiden haben", sagte Petteruti. Das 'Advancement Project' fand zudem heraus, dass die Polizei wesentlich häufiger an Schulen beordert wird, an denen vor allem Schwarze, Latinos, Ureinwohner oder Amerikaner asiatischer Herkunft unterrichtet werden.

Die starke Überwachung von Schulen in ärmeren Vierteln und Schwarzengemeinden erscheint Bürgeraktivisten als Fortsetzung einer landesweit umgesetzten Strategie, die darauf abzielt, Angehörige von Minderheiten zu verfolgen und einzusperren. Diese Strategie hat demnach ihre Wurzeln in den achtziger und neunziger Jahren, als Bewegungen entstanden, die ein härteres Vorgehen gegen Kriminelle forderten. (Ende/IPS/ck/2011)


Link:
http://www.unesco.org/new/en/education/themes/leading-the-international-agenda/right-to-education/
http://www.justicepolicy.org/uploads/justicepolicy/documents/educationunderarrest_fullreport.pdf
http://www.advancementproject.org/sites/default/files/publications/Derailerepcor_0.pdf
http://www.ipsnews.net/news.asp?idnews=105869

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 17. November 2011
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. November 2011