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REDE/050: Olaf Scholz zum Berufsbildungsbericht 2009, 23.04.2009 (BPA)


Presse- und Informationsamt der Bundesregierung
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Rede des Bundesministers für Arbeit und Soziales, Olaf Scholz, zum Berufsbildungsbericht 2009 vor dem Deutschen Bundestag am 23. April 2009 in Berlin


Sehr geehrter Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wir diskutieren in Deutschland, was Fachkräfte und Qualifikationspotenziale betrifft, viel über die Anforderungen. Eine der Aussagen, die bei dieser Gelegenheit zu Recht immer wieder diskutiert werden, ist, dass wir in Deutschland mehr akademisch Qualifizierte brauchen.

Von der OECD und vielen anderen wird gesagt: Etwa ein Drittel aller jungen Leute eines Altersjahrgangs sollte studieren und ein Studium abschließen. Während wir das sagen, übersehen wir aber gerne - deshalb will ich darauf hinweisen -: Mit dieser Aussage ist verbunden, dass auch in Zukunft zwei Drittel aller jungen Leute in diesem Lande ihr ganzes Berufsleben auf der Basis einer klassischen Berufsausbildung, also einer Lehre, verbringen werden. Deshalb ist die Berufsausbildung auch in Zukunft die wichtigste Ausbildung in Deutschland.

Es ist deshalb wichtig, dass wir alles dafür tun, dass tatsächlich jeder eine Chance auf eine berufliche Qualifizierung bekommt. Das heißt, dass es in diesem Jahr, in dem die wirtschaftliche Lage schwerer und schwerer wird und in dem wir jeden Tag neue Meldungen darüber hören, wie die Wirtschaftsleistung zurückgeht, keine Konsequenzen für die Zahl der Ausbildungsverträge in Deutschland geben darf.

Die jungen Leute, die jetzt die Schule verlassen, können nichts dafür, dass sich einige anderswo auf der Welt an der Börse verspekuliert und mit Renditeerwartungen, die unrealistisch waren, die ganze Weltwirtschaft in eine Katastrophe geführt haben. Wir müssen dafür sorgen, dass genügend Ausbildungsverträge zur Verfügung stehen. Das heißt, die Zielmarke muss auch für dieses Jahr sein: Wir brauchen wieder über 600.000 Ausbildungsverträge.

Das geht nur mit gemeinsamer Anstrengung: der Wirtschaft, der Kammern, der Verbände, der Gewerkschaften, der Betriebsräte, der Unternehmensleitungen. Ich höre, dass viele zu dieser Anstrengung bereit sind. Ich unterhalte mich jetzt jeden Tag mit den Verantwortlichen. In den Gesprächen mit den Personalvorständen der DAX-30-Unternehmen haben alle zugesagt, dass sie ihre Ausbildungsleistungen in diesem Jahr nicht reduzieren werden. Ich höre das auch aus dem Mittelstand und dem Handwerk. Wichtig ist, dass das am Ende auch stimmt und dass wir diese Zahlen tatsächlich erreichen, damit jeder diese Möglichkeit realisieren kann.

Ich glaube, wir müssen, wenn wir über Ausbildung diskutieren, auch darüber diskutieren, was wir für diejenigen tun, die nicht so gut sind. Natürlich haben wir es uns in unserer Sprache angewöhnt, darüber zu reden, dass wir erreichen wollen, dass alle ausbildungsgeeigneten jungen Leute einen Ausbildungsplatz finden. Aber da sind ja auch noch die anderen. Das sind keineswegs hoffnungslose Fälle, wie der Begriff der "Ausbildungsungeeigneten" manchmal suggeriert. Darunter sind ganz viele, bei denen es mit einiger Anstrengung schnell gelingen kann, dass sie eine Berufsausbildung erhalten.

Wir haben viele gute Erfahrungen mit den Einstiegsqualifizierungen gemacht, die wir ausbauen und weiter fördern.

Wir haben aber auch viele gute Erfahrungen mit ganz unterschiedlichen tariflichen und betrieblichen Modellen gemacht, in denen junge Leute, bei denen es mit der Ausbildung noch nicht gut hingehauen hat und die ein halbes Jahr, ein Dreivierteljahr oder ein Jahr lang ein Praktikum gemacht haben, hinterher erfolgreich die Berufsausbildung bestanden haben, und zwar mit Quoten von 90 bis 100 Prozent. Das zeigt: Niemand darf durch den Rost fallen; niemand darf aufgegeben werden.

Wir müssen uns natürlich mit den Konsequenzen der Bildungspolitik in Deutschland auseinandersetzen. Dass nach wie vor jedes Jahr 80.000 junge Leute die Schule verlassen, ohne einen Schulabschluss zu haben, das ist nicht naturgegeben, das ist Staatsversagen, und das dürfen wir nicht weiter hinnehmen. Der Zusammenhang zwischen beruflicher Qualifikation, Schulbildung und Chancen im Arbeitsleben ist so offensichtlich, dass man gar nicht oft genug darauf hinweisen kann. 500.000 der Arbeitslosen haben keinen Schulabschluss, und fast alle sind Langzeitarbeitslose. Von daher ist es von zentraler Bedeutung, dass wir an dieser Situation etwas ändern. Ich bin froh darüber, dass wir im letzten Jahr beschlossen und in diesem Jahr rechtlich verankert haben, dass jeder dieser 500.000 Arbeitslosen sein Leben lang das Recht hat, den Schulabschluss nachzuholen, um seine Arbeitsmarktchancen zu verbessern.

Es ist auch richtig, dass wir dafür gesorgt haben, dass diejenigen, die schon lange auf einen Ausbildungsplatz warten, bessere Chancen bekommen. Deshalb war es vernünftig, dass wir den Ausbildungsbonus auf den Weg gebracht haben. Über 13.000 junge Leute haben bereits von der Regelung profitiert, dass es gefördert wird, wenn für jemanden, der schon länger als ein Jahr auf einen Ausbildungsplatz wartet, ein neuer Ausbildungsplatz geschaffen wird. 13.000 junge Leute profitieren von einer Regelung, die erst seit Ende August gilt. Das ist ein großer Erfolg, und das ist ein guter Ansatzpunkt für dieses Jahr.

Wenn wir über Ausbildung reden, dann müssen wir auch darüber reden, dass wir denjenigen, die etwas können, die Talent haben, die Chance eröffnen, dass sie mehr aus dieser Berufsausbildung machen. Von daher ist es eine gute Entscheidung des Bildungsgipfels in Dresden gewesen, dass wir gesagt haben: Überall in Deutschland soll es neue Möglichkeiten des Zugangs zur Universität geben, ohne dass man eine Hochschulreife auf klassische Weise erworben hat.

Wie notwendig das Handeln in dieser Frage ist, sieht man an den Zahlen. In Deutschland studieren etwa 1,5 Prozent mit etwas anderem als der Hochschulreife. In anderen Ländern um uns herum sind es zehn bis 15 Prozent. Ein großer Teil derjenigen, die eine Berufsausbildung in der Schweiz beendet haben, geht direkt an die Universität. Das brauchen wir in Deutschland auch. Das wird auch den Ingenieurmangel in unserem Lande besser bekämpfen.

Wir müssen also etwas für diejenigen tun, die eine Berufsausbildung wollen. Ich will ein sehr ehrgeiziges Ziel für Deutschland, für unser Land und für unsere gemeinsamen Anstrengungen formulieren: Eigentlich müssen wir erreichen wollen, dass jeder, der Anfang 20 ist, entweder das Abitur oder einen Berufsschulabschluss hat. Das ist die Zielsetzung, die wir für Deutschland brauchen. Niemand sollte mit weniger als mit einer Berufsausbildung durch das lange Arbeitsleben gehen.

Das bedeutet auch, dass wir eine Garantie dafür brauchen, dass diejenigen, bei denen dies bis zum Alter von 20 Jahren nicht geklappt hat, notfalls ein staatliches Ausbildungsangebot bekommen, damit sie nicht weiter chancenlos versuchen müssen, auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Diese Garantie brauchen wir auch, und wir müssen dafür sorgen, dass das funktioniert.

Ein Angebot, das ich den Unternehmen machen will, soll an dieser Stelle formuliert sein - dazu brauchen wir nicht einmal neue Gesetze; das können wir mit unseren Förderinstrumentarien bereits jetzt verwirklichen -: Wer einen Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin hat, der oder die vielleicht schon 27 oder 31 Jahre alt ist und keine Ausbildung absolviert hat, jedoch will, dass das noch klappt, soll gefördert werden, weil man diese nicht mehr ganz so jungen Leute nicht auf das erste Lehrjahr mit den entsprechenden Ausbildungsvergütungen verweisen kann. Wir müssen vielmehr dafür sorgen, dass es auch für diese Arbeitnehmer, die sich im Betrieb bewährt haben, die Chance gibt, in dem eigenen Unternehmen die Berufsausbildung nachzuholen, und zwar zu vertretbaren wirtschaftlichen Konditionen.

Wenn wir uns also dafür einsetzen, dass mehr qualifiziert wird, wenn wir dafür Sorge tragen, dass letztendlich jeder eine berufliche Qualifikation hat, dann tun wir auch das Richtige für die Zukunft unseres Landes. Ich werbe dafür, dass wir die Chance erkennen, die wir in Deutschland haben, und dass wir sie nicht an uns vorbeigehen lassen. Es gibt die einmalige Chance - vielleicht zehn bis 20 Jahre lang, das heißt im nächsten und übernächsten Jahrzehnt -, dass wir uns von der Massenarbeitslosigkeit der letzten drei Jahrzehnte verabschieden. Das hat etwas mit der Wirtschaftskraft dieses Landes, aber natürlich auch mit der demografischen Entwicklung zu tun, über die wir in den letzten Jahren immer wieder in der Form diskutiert haben, was es für Probleme macht, vor diesem Hintergrund die Finanzstabilität der Sozialversicherung zu organisieren.

Aber auch der umgekehrte Effekt tritt jetzt ein - alle haben darüber gesprochen -, nämlich dass es weniger Arbeitnehmer gibt, die auf dem Arbeitsmarkt nach Arbeitsplätzen suchen. Man merkt es jetzt schon: Es wird sehr schnell dazu kommen, dass nicht jeder Ausbildungsplatz besetzt werden kann. Schon im nächsten Jahrzehnt - es beginnt in Kürze, falls man den einen oder anderen noch darauf hinweisen muss - wird das in diesem Lande so sein.

Von daher sollten wir die Chance nutzen. Sie ist aber nur dann nutzbar, wenn wir sicherstellen, dass jeder über eine berufliche Qualifikation verfügt. Denn es gibt zwei Szenarien der künftigen Entwicklung. Ein Szenario ist, dass wir einen Fachkräftemangel haben, dass sich die Unternehmen um jeden Arbeitnehmer, der eine gute Ausbildung hat, balgen und dass es gleichzeitig Millionen Arbeitslose gibt, weil wir nicht ausreichend qualifiziert und ausgebildet haben.

Das andere Szenario ist, dass wir jedem eine Ausbildung ermöglicht haben, über genügend Fachkräfte verfügen und deshalb die Arbeitslosigkeit sinkt, wie es in den letzten Jahrzehnten nicht möglich war. Wir dürfen nicht die Gelegenheit versäumen, dass das humane Interesse der Menschen und das wirtschaftliche Interesse der Unternehmen zusammenkommen. Das muss ausgenutzt werden.

Dass man für Bildung und Qualifizierung etwas tun muss, ist offensichtlich. Das zeigt sich auch im Etat des Bundesministers für Arbeit und Soziales und der BA; denn sie geben viel Geld für Bildung und Qualifizierung aus.

Trotzdem will ich auf Folgendes hinweisen: Dass wir so viel Geld dafür ausgeben, hat natürlich auch etwas damit zu tun, dass im Bildungssystem dieses Landes etwas im Argen liegt. Insofern sind es zwar stolze Zahlen, die zeigen, was wir unternehmen. Aber sie weisen auch darauf hin, dass man am Anfang mehr tun müsste, damit nicht hinterher so viel Geld ausgegeben werden muss.

Wir haben im Bereich SGB II und SGB III im letzten Jahr 330.000 junge Leute gefördert und dafür 2,73 Milliarden Euro ausgegeben. Insgesamt geben wir im Bereich SGB II und SGB III neun Milliarden Euro für Bildung und Qualifizierung aus. Das beweist, dass wir den richtigen Trend unterstützen und etwas für die Qualifikation unserer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und damit für die Zukunft unseres Landes tun. Aber es ist auch ein Ansporn, dafür zu sorgen, dass es im Primärsystem der Ausbildung besser läuft. Das dürfen wir in diesem Zusammenhang niemals vergessen.

Lassen Sie uns gemeinsam alles dafür tun, dass es gelingt. Auch in diesem Jahr muss jeder junge Mann und jede junge Frau einen Ausbildungsplatz finden. Wir wollen mehr als 600.000 Ausbildungsverträge auch im Jahr 2009.


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Quelle:
Bulletin Nr. 48-2 vom 23.04.2009
Rede des Bundesministers für Arbeit und Soziales, Olaf Scholz, zum
Berufsbildungsbericht 2009 vor dem Deutschen Bundestag am 23. April 2009 in Berlin
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. April 2009