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GAZA/073: Waffengang und Widerstand - Quadratur des Kreises ... (Uri Avnery)


Blind in Gaza

von Uri Avnery, 16. August 2014



DAS DUMME am Krieg ist, dass er zwei Seiten hat.

Alles würde so viel leichter sein, wenn der Krieg nur eine Seite hätte. Natürlich die unsrige.

Da bist du und heckst einen wunderbaren Plan für den nächsten Krieg aus, bereitest ihn vor, trainierst für ihn, bis alles perfekt ist.

Und dann beginnt der Krieg, und zu deiner größten Überraschung scheint es auch eine andere Seite zu geben, die auch einen wunderbaren Plan hat, sich vorbereitet und trainiert hat.

Wenn sich die beiden Pläne treffen, geht alles schief. Beide Pläne brechen zusammen. Du weißt nicht, was sich ereignet. Wie sollst du weitermachen? Du machst Dinge, die nicht geplant waren. Und wenn du genug vom Krieg hast und aussteigen willst, weiß du nicht, wie. Es ist um vieles schwieriger, einen Krieg zu beenden, als ihn anzufangen, besonders, wenn beide Seiten den Sieg erklären müssen.

An diesem Punkt stehen wir jetzt.


WIE hat alles begonnen? Es hängt davon ab, womit man anfangen will.

Wie alles andere ist jedes Ereignis in Gaza eine Re-Aktion auf ein anderes Ereignis. Man tut etwas, weil die andere Seite etwas getan hat. Und die tut etwas, weil man etwas tat. Man kann dies entwirren bis zum Beginn der Geschichte oder wenigsten bis zu dem Helden Samson.

Man erinnere sich an Samson, der von den Philistern gefangen genommen, geblendet und nach Gaza gebracht wurde. Dort beging er Selbstmord, indem er den Tempel über sich, all den Führern und dem Volk einstürzen ließ, und rief: "Lasst meine Seele mit den Philistern sterben!" (Richter 16,30)

Wenn das zu lange zurück liegt, beginnen wir mit dem Anfang der gegenwärtigen Besatzung 1967.

(Davor hat es eine inzwischen vergessene Besatzung gegeben. Als Israel den Gazastreifen und den ganzen Sinai im Laufe des 1956er-Suez-Krieges eroberte, erklärte David Ben Gurion die Gründung des "Dritten Israelischen Königreiches", um nur wenige Tage später mit gebrochener Stimme zu verkünden, dass er Präsident Dwight Eisenhower versprochen habe, sich von der ganzen Sinai-Halbinsel zurückzuziehen. Einige israelische Parteien drängten ihn, wenigstens den Gazastreifen zu halten, aber er weigerte sich. Er wollte nicht noch Hunderte und Tausende Araber zusätzlich in Israel haben.)

Einer meiner Freunde erinnerte mich an einen meiner Artikel, den ich zwei Jahre nach dem Sechs-Tage-Krieg geschrieben hatte, in dem wir Gaza noch einmal besetzten. Ich hatte gerade herausgefunden, dass zwei arabische Straßenbauer, einer von der Westbank und der andere vom Gazastreifen, genau dieselbe Arbeit machten, aber verschiedene Löhne bekamen. Der Mann aus Gaza bekam weniger.

Als Mitglied der Knesset forschte ich nach. Ein hochrangiger Beamter erklärte mir, dass dies eine Sache der Politik sei. Der Zweck war, die Araber dazu zu bringen, den Gazastreifen zu verlassen und sich in der Westbank (oder anderswo) niederzulassen. Damit sollten die 400.000 Araber, die damals im Gazastreifen lebten und von denen die meisten Flüchtlinge aus Israel waren, zerstreut werden. Offensichtlich ist das nicht besonders gut gelungen - nun leben dort ungefähr 1,8 Millionen.

Im Februar 1969 warnte ich, "(wenn wir so weitermachen) werden wir vor einer schrecklichen Wahl stehen - entweder eine Welle von Terror erleiden zu müssen, die das ganze Land überziehen wird oder mit Vergeltungsmaßnahmen und Unterdrückung zu reagieren, die so brutal sein werden, dass sie unsere Seelen zerstören und die ganze Welt dazu veranlassen werden, uns zu verurteilen."

Ich erwähne dies nicht (nur), um mich wichtigzumachen, sondern um zu zeigen, dass jede vernünftige Person hätte voraussehen können, was heute geschieht.


ES HAT LANGE gedauert, bis Gaza diesen Punkt erreicht hat.

Ich erinnere mich an einen Abend in Gaza Mitte der 90er-Jahre. Ich war zu einer palästinensischen Konferenz (über Gefangene) eingeladen worden, die mehrere Tage dauerte. Meine Gastgeber luden mich und Rachel ein, in einem Hotel an der Küste zu übernachten. Gaza war damals ein netter Platz. Am späten Abend machten wir einen Spaziergang die Hauptstraße entlang. Wir hatten freundliche Gespräche mit Leuten, die uns als Israelis erkannten. Wir waren glücklich.

Ich erinnere mich auch an den Tag, als die israelische Armee sich aus dem größten Teil des Gazastreifens zurückzog. In der Nähe von Gazastadt stand ein riesiger israelischer Wachturm, viele Stockwerke hoch, "so dass die israelischen Soldaten in jedes Fenster in Gaza schauen konnten". Als die Soldaten gingen, kletterte ich bis in die Spitze, vorbei an Hunderten glücklicher Jungs, die rauf und runter gingen wie die Engel auf der Leiter in Jakobs Traum in der Bibel. Wieder waren wir glücklich.

Das war die Zeit, als Yasser Arafat, Sohn einer Familie aus dem Gazastreifen, nach Palästina zurückkehrte und sein Hauptquartier in Gaza errichtete. Ein wunderschöner neuer Flughafen wurde (mit deutschen Geldern) gebaut. Pläne für einen großen neuen Seehafen wurden herumgereicht.

(Ein großes holländisches Hafenbauunternehmen wandte sich diskret an mich und bat mich, meine freundschaftlichen Beziehungen zu Arafat zu nutzen, um zu bewirken, dass es den Auftrag bekäme. Man deutete an, mir eine sehr große Gratifikation zukommen zu lassen. Ich weigerte mich höflich. Während all der Jahre, die ich Arafat kannte, bat ich ihn nie um einen Gefallen. (Ich denke, dass dies die Grundlage unserer ziemlich seltsamen Freundschaft war.)

Falls der Hafen gebaut worden wäre, wäre Gaza ein blühender Handelsplatz geworden. Der Lebensstandard wäre steil angestiegen, die Neigung der Leute für eine radikal islamische Partei zu stimmen, wäre geringer geworden.


WARUM GESCHAH das nicht? Israel weigerte sich, den Hafenbau zu genehmigen. Entgegen einer klaren Zusicherung im 1993er-Oslo-Abkommen, schloss Israel alle Übergänge zwischen dem Gazastreifen und der Westbank. Das Ziel war, jede Möglichkeit zu verhindern, einen lebensfähigen palästinensischen Staat zu errichten.

Es stimmt, Ministerpräsident Ariel Scharon hat mehr als ein Dutzend Siedlungen entlang der Gazaküste räumen lassen. Heute ist einer der Slogans unserer Rechten: "Wir haben den gesamten Gazastreifen geräumt - und was bekamen wir dafür? Qassam-Raketen!" Ergo können wir die Westbank nicht aufgeben.

Aber Sharon übergab den Gazastreifen nicht der Palästinensischen Behörde. Die Israelis sind von der Idee besessen, "einseitig" zu handeln. Die Armee zog sich aus dem Gazastreifen zurück und hinterließ ein Chaos ohne eine Regierung - ohne ein Abkommen zwischen beiden Seiten.

Gaza versank im Elend. Bei den palästinensischen Wahlen 2006, die unter der Aufsicht des ehemaligen Präsidenten Jimmy Carter stattfanden, verhalfen die Menschen von Gaza - ebenso wie die Menschen der Westbank - der religiösen Partei Hamas zur relativen Mehrheit. Als der Hamas der Machtantritt verwehrt wurde, übernahm sie den Gazastreifen mit Gewalt und die Bevölkerung applaudierte.

Die israelische Regierung reagierte, indem sie eine Blockade errichtete. Nur eine begrenzte, von der Besatzungsbehörde genehmigte Menge an Waren wurde hineingelassen. Ein amerikanischer Senator machte ein Höllenspektakel, als er herausfand, dass Nudeln als Sicherheitsrisiko angesehen und nicht hineingelassen wurden. Es wurde auch so gut wie nichts herausgelassen - was vom "Sicherheits"-Standpunkt aus hinsichtlich des Waffen-"Schmuggels" unbegreiflich ist, vor dem Hintergrund, den Gazastreifen zu strangulieren, jedoch Sinn macht. Die Arbeitslosenrate erreichte fast 60%.

Der Gazastreifen ist etwa 40 km lang und 10 km breit. Im Norden und im Osten grenzt er an Israel, im Westen grenzt er ans Meer, das von der israelischen Flotte kontrolliert wird. Im Süden grenzt er an Ägypten, das jetzt von einer brutalen anti-islamischen Diktatur beherrscht wird und mit Israel liiert ist. Wie es in einem Slogan heißt: Es ist "das größte Freiluftgefängnis der Welt".


BEIDE SEITEN behaupten jetzt, es sei ihr Ziel, dieser Situation ein Ende zu bereiten. Aber sie meinen zwei sehr verschiedene Dinge.

Die israelische Seite will die Blockade beibehalten, wenn auch in einer liberaleren Form. Nudeln und vieles andere soll in den Gazastreifen hineingelassen werden, aber unter strenger Überwachung. Kein Flughafen. Kein Seehafen. Die Hamas muss daran gehindert werden, sich wieder zu bewaffnen.

Die palästinensische Seite will, dass die Blockade ein für alle Mal verschwindet, auch offiziell. Sie will ihren Hafen und den Flughafen. Sie haben nichts gegen eine Überwachung entweder internationaler Art oder durch die palästinensische Einheitsregierung unter Mahmoud Abbas.

Wie soll diese Quadratur des Kreises vor sich gehen, besonders wenn der "Vermittler" der ägyptische Diktator ist, der praktisch als Agent Israels handelt? Ein Kennzeichen der Situation ist, dass die USA als Vermittler verschwunden ist. Nach den vergeblichen Bemühungen John Kerrys, Frieden zu vermitteln, wird die USA jetzt allgemein im ganzen Nahen Osten verachtet.

Israel kann die Hamas nicht "zerstören", wie unsere halbfaschistischen Politiker (auch in der Regierung) laut fordern. Außerdem wünschen sie das gar nicht wirklich. Wenn die Hamas "zerstört" wäre, müsste der Gazastreifen der palästinensischen Behörde (nämlich Fatah) übergeben werden. Das würde nach all den lang anhaltenden und erfolgreichen Bemühungen Israels, die Westbank und Gaza zu spalten, ihre Wiedervereinigung bedeuten. Das ist nicht gut.

Falls Hamas bestehen bleibt, kann Israel nicht zulassen, dass die "Terror-Organisation" gedeiht. Eine Lockerung der Blockade wird nur begrenzt möglich sein - wenn überhaupt. Die Bevölkerung wird die Hamas sogar noch mehr unterstützen, weil sie davon träumt, sich für die schreckliche Zerstörung, die die Israelis in diesem Krieg angerichtet haben, zu rächen. Der nächste Krieg wird schon um die nächste Ecke sein - wie fast alle Israelis sowieso denken.

Am Ende werden wir dort sein, wo wir anfangs waren.


ES KANN keine wirkliche Lösung für Gaza geben, ohne eine wirkliche Lösung für Palästina.

Die Blockade muss enden und auf berechtigte Sicherheitsbedenken beider Seiten ernsthaft eingegangen werden.

Der Gazastreifen und die Westbank (mit Ost-Jerusalem) müssen vereint werden.

Die vier "sicheren Übergänge" zwischen den beiden Gebieten - die im Oslo-Abkommen vereinbart worden waren - müssen endlich geöffnet werden.

Dann muss es längst fällige palästinensische Präsidentschafts- und Parlamentswahlen geben, mit einer neuen Regierung, die von allen palästinensischen Fraktionen und von der Weltgemeinschaft anerkannt wird, einschließlich Israel und der USA.

Ernsthafte, auf der Zwei-Staaten-Lösung basierende Friedensverhandlungen müssen beginnen und innerhalb einer vernünftigen Zeitspanne abgeschlossen werden.

Die Hamas muss sich offiziell verpflichten, das Friedensabkommen, das bei dieser Verhandlung erreicht wird, zu akzeptieren.

Israels legitime Sicherheitsanliegen müssen berücksichtigt werden.

Der Gaza-Hafen muss geöffnet werden, um den Gazastreifen und den ganzen Staat Palästina in die Lage zu versetzen, Waren zu importieren und zu exportieren.

Es hat keinen Sinn, eines dieser Probleme getrennt zu "lösen". Sie müssen gemeinsam gelöst werden. Sie können auch gemeinsam gelöst werden.

Es sei denn, wir wollen ständig im Kreis gehen von einer Runde zur nächsten, ohne Hoffnung und Erlösung.

"Wir" - Israelis und Palästinenser - die wir für alle Zeit in der Umklammerung des Krieges festgehalten werden.

Oder wir tun, was Samson tat: Selbstmord begehen.



Copyright 2014 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 16.08.2014
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 19. August 2014