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GAZA/079: Waffengang und Widerstand - Fließbandkriege ... (Uri Avnery)


Der Krieg für nichts

von Uri Avnery, 30. August 2014



NACH 50 TAGEN ist der Krieg vorbei. Halleluja!

Auf der palästinensischen Seite: 2145 Tote, etwa 577 von ihnen Kinder, 263 Frauen, 102 alte Leute, 11.230 Verletzte, 3374 Kinder; 10.800 Gebäude zerstört, 7600 teilweise zerstört, ungefähr 40.000 Wohnungen beschädigt, 8000 teilweise beschädigt. Unter den beschädigten Gebäuden: 277 Schulen, 10 Krankenhäuser, 70 Moscheen, 2 Kirchen. 4750 Kriegsvertriebene. Auch 12 Demonstranten aus der Westbank wurden erschossen, die meisten von ihnen Kinder.

Auf der israelischen Seite 70 Tote, unter ihnen 64 Soldaten, ein Kind.

Wozu also dieser Krieg? Die ehrliche Antwort ist: für nichts.

Keine Seite wünschte ihn. Keine Seite begann ihn. Er geschah einfach so.


LASST UNS die Ereignisse rekapitulieren, bevor sie vergessen sind: Zwei junge Araber kidnappten drei junge israelische religiöse Studenten nahe der Westbank-Stadt Hebron. Die Entführer gehörten zur Hamas-Bewegung, handelten aber aus eigenem Antrieb. Der Zweck war: ihre Gefangenen gegen palästinensische Gefangene auszutauschen. Gefangene zu befreien, ist jetzt der größte Ehrgeiz eines jeden palästinensischen Kämpfers.

Die Entführer waren Amateure, und ihr Plan misslang von Anfang an. Sie gerieten in Panik, als ein Student sein Mobiltelefon benutzte, und erschossen die Geiseln. Ganz Israel geriet in Aufruhr. Die Entführer sind noch nicht gefunden worden.

Die israelischen Sicherheitsdienste nutzten die Gelegenheit, einen vorbereiteten Plan auszuführen. Alle bekannten Hamas-Aktivisten der Westbank wurden, wie auch all die früheren Gefangenen, die im Austausch für die Freilassung der israelischen Geisel Gilad Shalit frei kamen, verhaftet. Für Hamas war dies die Verletzung eines Abkommens.

Die Hamas-Führung im Gazastreifen konnte nicht ruhig mit ansehen, wie ihre Kameraden in der Westbank ins Gefängnis kamen. Sie reagierte, indem sie Raketen auf israelische Städte und Dörfer abschoss.

Die israelische Regierung konnte nicht ruhig mit ansehen, wie ihre Städte und Dörfer bombardiert wurden. Sie mit einer schweren Bombardierung des Gazastreifens aus der Luft.

Von da an war es nur ein endloser Rausch von Tod und Zerstörung. Der Krieg schrie nach einem Zweck.

Hamas tat dann etwas, das meiner Meinung nach, ein großer Fehler war. Sie benutzte einige der geheimen Tunnel, die sie unter dem Grenzzaun gebaut hatte, um israelische Ziele anzugreifen. Den Israelis wurde plötzlich diese Gefahr bewusst, die die Armee als unbedeutend angesehen hatte.

Der sinnlose Krieg bekam einen Sinn. Es wurde der Krieg gegen die Tunnelanlagen. Die Infanterie wurde in den Gazastreifen geschickt, um sie zu suchen und zu zerstören.

80.000 Soldaten drangen in den Gazastreifen ein. Nachdem sie alle bekannten Tunnel zerstört hatten, hatten sie nichts mehr zu tun, außer herumzustehen und als Zielscheibe für den Tod zu dienen.

Der nächste logische Schritt wäre der gewesen, sich vorwärts zu bewegen und den ganzen Gazastreifen zu erobern: 45 km lang und im Durchschnitt 6 km breit mit 1,8 Millionen Einwohnern. Viermal größer als die Manhattan-Insel mit etwa derselben Anzahl von Bewohnern.

Aber die israelische Armee haßte die Vorstellung, den Gazastreifen zum dritten Mal zu erobern (nach 1956 und 1967). Als die Soldaten das letzte Mal abzogen, sangen sie ("Goodbye Gaza auf Nimmerwiedersehen!"). Die voraussichtlichen Verluste beim Militär wären hoch, viel höher als die israelische Gesellschaft, aller patriotischen Übertreibung zum Trotz, bereit war, zu erleiden.

Der Krieg verkam zu einer Tötungs- und Zerstörungs-Orgie. Beide Seiten "tanzten im Blut", segneten jede Bombe und jede Rakete, vollkommen blind gegenüber dem Leiden, das Menschen auf der jeweils anderen Seite angetan wurde. Und immer noch ohne jedes erreichbare Ziel.


WENN CLAUSEWITZ mit dem Ausspruch, der Krieg sei die Fortsetzung der Politik mit andern Mitteln, Recht hatte, dann müsste jeder Krieg ein klares politisches Ziel haben. Für Hamas war das Ziel klar und einfach: Aufhebung der Blockade von Gaza.

Für Israel gab es keines. Benjamin Netanjahu definierte sein Ziel mit "Ruhe für Ruhe". Aber die hatten wir, bevor alles anfing.

Einige seiner Kabinett-Kollegen verlangten, bis zum Ende zu gehen und den ganzen Gazastreifen zu besetzen. Das Armeekommando war dagegen, und man kann keinen Krieg gegen die Wünsche des Armee-Kommandos führen. So stand also jeder herum und wartete auf Godot.

Wie ist die letzte Waffenstillstandsvereinbarung zustande gekommen?

Beide Seiten waren erschöpft. Auf der israelischen Seite war "die Feder, die den Rücken des Kamels brach", die Notlage der Siedlungen um den Gazastreifens herum, im "Gaza-Briefumschlag". Unter dem unaufhörlichen Sperrfeuer der Kurzstreckenraketen und - noch schlimmer - der Mörsergranaten, deren Herstellung so gut wie nichts kostet, begannen die Bewohner - meistens Kibbuz-Mitglieder, stillschweigend sicherere Gegenden aufzusuchen.

Das stellte schon fast ein Sakrileg dar. Einer der Gründungsmythen Israels ist, daß im 1948er-Krieg, als der Staat geboren wurde, die arabischen Dörfler und Städter wegrannten, wenn sie beschossen wurden, während unsere Siedlungen standhielten, selbst in der Mitte der Hölle.

Das war nicht ganz so gewesen. Mehrere Kibbuzim wurden auf Armee-Order hin evakuiert, wenn ihre Verteidigung unmöglich wurde. In mehreren anderen wurden Frauen und Kinder weggeschickt, während Männern der Befehl gegeben wurde, zu bleiben und mit den Soldaten zu kämpfen. Aber im Großen und Ganzen hielten israelische Siedlungen stand und kämpften.

Aber der Krieg von 1948 war ein ethnischer Krieg um Land. Evakuiertes Land war für immer verloren (oder wenigstens bis zum nächsten Krieg). Dieses Mal waren die Gründe ganz andere.


DAS LEBEN im "Briefumschlag" wurde unmöglich. Die Sirenen heulten mehrere Male innerhalb einer Stunde, und jeder hatte 15 Sekunden Zeit, einen Schutzraum aufzusuchen. Die Forderung nach Evakuierung wurde offen und laut geäußert. Hunderte von Familien zogen weg. Der Mythos wurde außer Acht gelassen, und die Regierung wurde gezwungen, einen Massenumzug zu organisieren. Das sah nicht nach Sieg aus.

Die palästinensische Seite durchlebte eine schreckliche Tortur. Über 400.000 Leute mussten ihre Wohnungen verlassen. Ganze Familien fanden Unterkunft in UN-Gebäuden, mehrere Familien in einem Raum oder in einer Ecke des Hofes, ohne Strom und mit sehr wenig Wasser, Mütter mit 6, 7, 8 Kindern.

(Man stelle sich vor, was das bedeutet: eine Familie, arm oder reich, muss ihre Wohnung innerhalb von Minuten verlassen, sie ist nicht in der Lage, etwas mitzunehmen, keine Kleidung, kein Geld, keine Familienalben, sie kann gerade die Kinder einsammeln und rennen, während hinter ihnen das Haus in sich zusammenbricht. Die Arbeit eines ganzen Lebens und Erinnerungen sind in Sekunden zerstört. Die jungen Männer waren längst gegangen, lebten in verborgenen Tunneln unter der Erde und bereiteten sich auf den entscheidenden Kampf vor.)

Es ist fast ein Wunder, dass unter diesen Bedingungen die Hamas-Regierung und die Kommandostruktur funktionierten. Befehle kamen von versteckten Führern zu versteckten Zellen; Kontakte wurden mit Führern im Ausland und zwischen verschiedenen Organisationen geknüpft, während Spion-Drohnen über ihnen flogen und jeden zivilen Führer oder Kommandeur, der sein Gesicht zeigte, tötete.

Nach der Aktion, die darauf zielte, den Militärkommandeur und Chef der Hamas Mohammad Deif zu töten (ob sie erfolgreich war oder misslungen ist, wissen wir nicht) begann die Hamas damit, die Informanten zu erschießen, ohne die solche Aktionen unmöglich wären. (In meiner Zeit als Junior-Terroristen taten wir dasselbe.)

Aber trotz all ihrem bemerkenswerten Einfallsreichtum, konnte die Hamas nicht ewig so weitermachen. Ihre großen Bestände an Raketen und Mörsergranaten waren erschöpft. Auch sie brauchten ein Ende.

Das Ergebnis? Eindeutig ein Unentschieden. Aber, wie ich schon früher gesagt habe, wenn eine kleine Widerstandsorganisation gegenüber einer der mächtigsten Militärmaschinerien der Welt ein Unentschieden erreicht, hat sie Grund zu feiern, wie sie es auch tat: am 50. Tag des Krieges für nichts.



WAS VERLOREN beide Seiten?

Die Palästinenser haben riesige materielle Verluste. Tausende von Wohnungen wurden zerstört, um ihren Geist zu brechen. Einige mit dürftigem Vorwand, andere ganz ohne irgendeinen. In den letzten Tagen zerstörte die Luftwaffe systematisch die luxuriösen Hochhäuser im Zentrum von Gaza.

Die Verluste an Menschenleben auf der palästinensischen Seite waren ebenfalls enorm. Die Israelis haben darüber keine Träne vergossen.

Auf der israelischen Seite waren die menschlichen und materiellen Verluste vergleichsweise klein. Wirtschaftliche Verluste waren bedeutsam, aber erträglich. Es sind die unsichtbaren Verluste, die zählen.

Die Delegitimation Israels in aller Welt nimmt zu. Millionen Menschen haben die täglichen Bilder aus Gaza gesehen, und bewusst oder unbewusst hat sich ihr Bild von Israel verändert. Für viele ist das "tapfere kleine Land" zu einem brutalen Monster geworden.

Antisemitismus nimmt in gefährlicher Weise zu, wird uns erzählt. Israel erhebt den Anspruch, der National-Staat des jüdischen Volkes zu sein, und die meisten Juden verteidigen Israel und identifizieren sich mit ihm. Die neue Wut gegen Israel sieht manchmal wie der Antisemitismus der alten Zeiten aus, und manchmal ist er es auch.

Wir wissen nicht, wie viele Juden vom Antisemitismus nach Israel getrieben werden. Wir wissen auch nicht, wie viele Israelis von dem ewigen Krieg nach Deutschland, den USA oder Kanada getrieben werden.

Man neigt dazu, den gefährlichsten Aspekt zu übersehen. Ein riesiger Hass ist in Gaza geschaffen worden. Wie viele der Kinder, die wir mit ihren Müttern von ihren Wohnungen wegrennen sahen, werden "Terroristen" von morgen werden?

Millionen Kinder in der ganzen arabischen Welt haben die Bilder gesehen, die täglich durch Aljazeera in die Wohnungen strahlten; und werden so bittere Hasser Israels. Aljazeera ist eine Weltmacht. Während seine englischsprachige Version versuchte, moderat zu sein, brachte die arabische Version ungebremst Stunde um Stunde ihre Berichte und zeigte die herzerbrechenden Bilder aus Gaza, die getöteten Kinder, die zerstörten Häuser.

Auf der anderen Seite ist die generationenalte Feindschaft der arabischen Regierungen gegenüber Israel gebrochen: Ägypten, Saudi-Arabien und alle Golfstaaten (außer Qatar) arbeiten jetzt offen mit Israel zusammen.

Kann dies in der Zukunft politische Früchte tragen? Es könnte, wenn unsere Regierung wirklich an Frieden interessiert wäre.

In Israel selbst hat der Faschismus seinen hässlichen und unverkennbaren Kopf emporgehoben. "Tod den Arabern" und "Tod den Linken" ist zu einem legitimen Schlachtruf geworden. Einige dieser widerlichen Wellen werden hoffentlich abebben, aber einige bleiben vielleicht und werden zu festen Bestandteilen.

Netanjahus persönliches Schicksal liegt hinter Wolken verborgen. Während des Krieges stieg seine Popularität stark an. Jetzt ist sie im freien Fall. Es genügt nicht, Reden über den Sieg zu halten. Der Sieg muss gesehen werden, wenn möglich ohne Mikroskop.

Krieg ist eine Sache der Macht. Die Fakten, die auf dem Schlachtfeld geschaffen werden, spiegeln sich in den politischen Folgen wider. Wenn die Schlacht mit einem Unentschieden endet, werden die politischen Folgen auch unentschieden sein. Über die Illusion des Sieges hat schon König Pyrrhus von Epirus gesagt: "Noch so ein Sieg, und wir sind verloren!"



Copyright 2014 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 30.08.2014
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 1. September 2014