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NATO-GEGENGIPFEL/002: Diskussion der NATO-Strategie (SB)



Auf dem NATO-Gegengipfel, der in einer Schule im Zentrum der portugiesischen Hauptstadt Lissabon stattfindet, wurde im Rahmen der Diskussion zur NATO-Strategie gefordert, daß der Kampf um Frieden mit dem um bessere Lebensumstände einhergehen müsse. Nicht nur militärische Sicherheit, sondern auch soziale, wirtschaftliche und ökologische Sicherheit wären erforderlich, um die Entwicklung neuer Krisenherde zu verhindern. So sind sich die Friedensaktivisten des Gegengipfels bewußt, daß sie praktisch das Gegenteil dessen fordern, was die NATO heute praktiziert.

Zugespitzt könnte man sagen, daß die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit unvereinbar ist mit einem Sicherheitsverständnis, das soziale Widersprüche nicht nur in Kauf nimmt, sondern aggressiv durchsetzt. Wie das im Mittelpunkt der operativen Kriegführung der NATO stehende Afghanistan zeigt, gehen die Maßnahmen zur Verbesserung der Lebensbedingungen der Bevölkerung kaum über symbolische Handreichungen hinaus. Einem Land, dessen Sozialindikatoren zu den schlechtesten der Welt gehören, sprich dessen Bevölkerung unter akuten Versorgungsmängeln leidet und in hohem Maße verelendet ist, mit militärischen Mitteln eine Staats- und Gesellschaftsordnung aufzuoktroyieren, kann nur dazu führen, daß die von militärischer Gewalt betroffenen Menschen dies als weitere Verschlechterung ihrer Lebenslage verstehen und dagegen Widerstand leisten. So hat die NATO in Afghanistan erreicht, daß die vordem weithin diskreditierten Taliban erneuten Zulauf erhalten haben, weil sie im Verhältnis zu den ausländischen Besatzern als kleineres Übel erkannt werden.

Ein Teilnehmer des von Jacques Fath (PCF) geleiteten Workshops "NATO, Krieg und globale Krisen" erkannte denn auch, daß die Menschen mit ideologischen Legitimationskonstrukten, anhand derer das Fehlen vorzeigbarer Kriegsgründe kompensiert werde, in die Irre geführt würden. Unterschlagen werde auch, daß sich aggressive Militärstrategien in erster Linie gegen die Bevölkerungen des betroffenen Landes richten. Im Kern gehe es um die Aufrechterhaltung der Weltordnung, dem sei auch das neue strategische Konzept der NATO gewidmet.

Ein griechischer Teilnehmer gab zu bedenken, daß die Krise die Kriegsgefahr erhöhe. Bereits die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts waren Folgen großer Krisen des Kapitals und mündeten in kolonialistische Expansion und den Massenmord an den europäischen Juden. Niemand wisse, wie sich die heutige Krise des Kapitalismus weiter entwickle, um so mehr würden die Menschen radikalisiert, so der Gesprächsteilnehmer unter Verweis auf Griechenland. Zwar machten die Massenmedien ihren großen Einfluß im Sinne der Kapitalinteressen geltend, doch auch der Widerstand der davon betroffenen Menschen wachse an. In dieser Situation bedürfe es einer Linken, die sich nicht selbst kompromittiere, sondern die Frage von Frieden, Krieg und Globalisierung entschieden aufgreife.

Eine französische Kommunistin plädierte für eine stärkere internationale Vernetzung der Widerstandsaktivitäten und zeigte sich von der Entwicklung im eigenen Land positiv überrascht. Der Protest gegen soziale Zumutungen wachse an, und es werde auch thematisiert, daß Millionen für Krieg und nicht für Sozialtransfers ausgegeben würden.

Ein Portugiese erinnerte daran, daß die früheren Kolonialherren seines Landes selbst in den Stand kolonisierter Subjekte geraten sind, die für neue Herren in aller Welt arbeiten und kämpfen müßten. An der unheiligen Rolle der NATO, in Portugal stets die reaktionärsten Kräfte gegen den demokratischen Willen der Bevölkerung unterstützt zu haben, habe sich im Grunde genommen nichts geändert.

Ein weiterer Diskussionsteilnehmer bestätigte, daß die Menschen heute in einem weltweit ausgetragenen Klassenkampf ständen, und mahnte die Schaffung einer allumfassenden politischen und sozialen Emanzipationsbewegung an.

Neben der strategischen Einbeziehung Rußlands in die NATO, der Errichtung einer europäischen Raketenabwehr und des angeblich 2011 einzuleitenden Abzugs der NATO-Truppen aus Afghanistan gehört der Ausbau zivil-militärischer Komponenten zu den zentralen Bestandteilen der neuen strategischen NATO-Strategie. Im Klartext geht es dabei um die Militarisierung der Zivilgesellschaft, um ihre Instrumentalisierung zur Durchsetzung geostragischer Ziele und nicht zuletzt die Unterdrückung sozialer Bewegungen. Integraler Bestandteil dessen ist die Antiterrordoktrin, die, am Beispiel Afghanistans als Problem islamistischer Ideologie vorexerziert, suggerierte wie reale Auswirkungen der Kriegführung der NATO in Zentralasien zum Anlaß nimmt, die staatlichen Repressionsapparate in der EU und den USA auch unter Einbeziehung militärischer Potentiale aufzurüsten.

Der auf dem NATO-Gegengipfel erhobenen Forderung, gewalttätig eskalierende soziale Konflikte durch die Beseitigung der sie befeuernden sozialen Mißstände zu befrieden, steht die Militarisierung der Zivilgesellschaft in ausschließender Weise entgegen. Ein von der NATO mit Gewalt geschaffener Frieden, wenn er denn überhaupt zustandekäme, unterdrückt die Aufhebung von Klassenantagonismen nicht notgedrungen, sondern strebt ihren Erhalt zur Sicherung kapitalistischer Verwertungsinteressen aktiv an. Wäre es anders, dann müßte die NATO die Bewältigung sozialer Konflikte im Bündnisgebiet und in aller Welt sowie das wirtschaftliche Gefälle zwischen Nord und Süd in den Mittelpunkt ihrer strategischen Debatte stellen. Da die NATO nicht zu diesem Zweck gegründet wurde, sondern von Anbeginn an antikommunistisch verfaßt war, da die Regierungen der NATO-Staaten selbst in der Krise des Kapitals daran festhalten, dessen Verwertbarkeit um jeden menschlichen Preis zu sichern, kann die von der NATO produzierte "Sicherheit" nicht von einem Herrschaftsmittel ersten Rangs unterschieden werden. Die soziale Frage ist zentral für alle Belange von Krieg und Frieden, daher, so dürfte die Erkenntnis mindestens einiger Teilnehmer des NATO-Gegengipfels lauten, wird eine internationale Friedensbewegung nur auf den zwei Beinen Antimilitarismus und Antikapitalismus Laufen lernen.

20. November 2010