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SYRIEN/028: Dominostein Damaskus - Desaster der Gesetze (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 25. November 2013

Syrien: Islamische Rechtsprechung in Kriegszeiten

von Shelly Kittleson


Bild: © Shelly Kittleson/IPS

Sheikh Khattab ist der Vorsitzende eines islamischen Gerichts in Syrien
Bild: © Shelly Kittleson/IPS

Provinz Idlib, Syrien, 25. November (IPS) - Im Bürgerkriegsland Syrien haben islamische Gerichte in vielen Rebellenregionen die Rechtsprechung übernommen. Viele Beobachter halten sie derzeit für den einzig praktikablen Weg. Für andere wiederum sind sie Vorboten einer Taliban-ähnlichen Gerichtsbarkeit.

Ihren Befürwortern zufolge sollten die islamischen Gerichte jedoch nicht mit den radikalen Tribunalen der mit dem Terrornetzwerk Al Qaeda verbundenen Organisationen 'Islamischer Staat Irak' und 'Al-Sham' oder 'Isis' verwechselt werden. Viele der derzeitigen Leiter der islamischen Gerichte saßen unter Assads Herrschaft im Gefängnis oder aber haben Verwandte, die festgenommen wurden. Daher werden die Tribunale in der Öffentlichkeit oftmals als legitim betrachtet.

Sie sind bekannt dafür, dass sie all denjenigen Richtern misstrauen, die unter dem Machthaber Baschar al-Assad ausgebildet worden waren. Auch das Vertrauen in Juristen, die sich zugunsten der Revolution ausgesprochen haben, ist gering, wie Einwohner mehrerer kleiner Städte in der nordwestlich gelegenen Provinz Idlib berichten.

Die Anführer der stärksten Rebellengruppen - 'Suquor Ash-Sham', 'Al-Tawheed' und 'Ahrar Ash-Sham' - waren ins berüchtigte Sednayah-Gefängnis nahe der Hauptstadt Damaskus gesperrt worden, wo vor allem politische Gefangene und Islamisten einsaßen. Wer unter dem Assad-Regime hinter Schloss und Riegel kam, wird heute automatisch zu den Unterstützern der Revolution gezählt.

Der muslimische Geistliche Sheikh Hamdan Khattab steht einem örtlichen Gericht vor, das in einem Teil der Provinz Idlib Recht spricht. Er erläutert, dass er seinen Bruder, dem eine Verbindung zu der Muslimbruderschaft nachgesagt wurde, mehr als 30 Jahre lang nicht gesehen habe. Nach syrischem Recht drohte den Mitgliedern der Vereinigung unter dem Assad-Vater Hafis die Todesstrafe.


Scharia-Urteile dürfen in Kriegszeiten nicht vollstreckt werden

Solange das Land keinen Präsidenten habe, könnten nach dem islamischen Recht der Scharia die Urteile seines Gerichts nicht vollstreckt werden, sagt Sheikh Khattab. Diese müssten in Kriegszeiten ausgesetzt werden. Dies gelte jedoch nicht für bestimmte 'Kriegsverbrechen'.

Ein Palästinenser, der wegen seiner Zugehörigkeit zu einer Assad-treuen Miliz und wegen zahlreicher Morde und Vergewaltigungen festgenommen worden war, wurde inzwischen nach einem Verfahren in Bab Al-Hawa nahe der Grenze zur Türkei hingerichtet. Festgenommen, verhört und dem Tribunal überstellt hatten ihn Mitglieder der Miliz Suquor al-Sham, die nach eigenen Angaben meist Diebe festnehmen, seitdem sie von den Scharia-Gerichten angewiesen wurden, gegen die zunehmende Gesetzlosigkeit und Plünderungen vorzugehen. Auf Diebstahl steht normalerweise Haft zwischen sechs Monaten und einem Jahr.

"Über Streitigkeiten zwischen rivalisierenden Clans wollen die islamischen Gerichte aber nicht urteilen", meint Sheikh Aid Hussein, der Anführer des Clans 'Al-Damaalkha'. Er hat ein Haus in der Nähe von Maarret An-Nu'man, einer von den Rebellen besetzten Stadt, die durch Artillerieangriffe der Regierung fast völlig zerstört worden ist. Die Assads hätten sich nie eingemischt und man habe seine Streitigkeiten immer untereinander regeln können, erklärt er. So entscheiden die Clan-Ältesten etwa, wie viel Blutgeld die Täterfamilie bei Morden zu zahlen hat.

Viele muslimische Geistliche berufen sich auf das Arabische Einheitsgesetz, das sich auf die Scharia bezieht und das von den Justizministern der Arabischen Liga 1996 vereinbart wurde. Den Juristen, die sich ausschließlich mit dem islamischen Recht auskennen, werden in den Rebellengebieten oft von Rechtsbeiständen unterstützt.

Die islamische Rechtswissenschaft ('Fiqh') wird in den beiden von der Assad-Familie 1973 beziehungsweise 2012 eingeführten Verfassungen als Hauptquelle für die nationale Rechtsprechung benannt. Unter Assads Baath-Partei werden allerdings seit Längerem säkulare Straf- und Handelsrechtsgrundsätze befolgt. Nur das Zivilrecht fußt auf der Scharia.


Rechtliche Benachteiligung von Frauen

Frauen sind in Syrien rechtlich benachteiligt. Das, was von den islamischen Normen in den Gesetzbüchern des Regimes überlebt hat, trifft sie besonders hart. So können Vergewaltiger durch die Heirat mit dem Opfer ihrer Strafe entgehen. Im Fall von 'Ehrenmorden' an weiblichen Familienmitgliedern können die Täter mit Strafmilderung rechnen. Syrerinnen werden als rechtlich abhängig von ihren Vätern und Männern betrachtet.

In den Stammes- und Scharia-Ordnungen sowie in den zivilen Verwaltungsgremien haben Frauen keine Entscheidungsgewalt. Trotz dieser Benachteiligung waren vor Beginn des Bürgerkriegs Frauen in ganz Syrien als Rechtsanwältinnen tätig.

Heba, die sich an der Dokumentation von Folter an Frauen und Mädchen in Gefängnissen des Regimes und des Chemieangriffs in Saraqeb im Nordwesten des Landes beteiligt, kritisiert, dass "Frauen in Syrien nie gefördert worden sind".

Das liege aber nicht am Rechtssystem, meint die von einem Ganzkörperschleier verhüllte Anwältin, die aus Sicherheitsgründen derzeit im Süden der Türkei lebt. "Das Problem waren die willkürlichen Festnahmen, die systematische Folter unter dem Regime und die Korruption." (Ende/IPS/ck/2013)


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http://www.ipsnews.net/2013/11/fears-rise-of-taliban-style-justice-in-syria/

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IPS-Tagesdienst vom 25. November 2013
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. November 2013