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SYRIEN/043: Dominostein Damaskus - Hilfe schleppend, Lage desaströs (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 4. April 2014

Syrien: Krankheiten nach Gewalt, Hunger und Not in Palästinenser-Flüchtlingslager

von Mutawalli Abou Nasser


Bild: © Mutawalli Abou Nasser/IPS

Die Freude über die Ankunft der Nahrungsmittelhilfe im Yarmouk-Lager in Damaskus währte nur kurz
Bild: © Mutawalli Abou Nasser/IPS

Damaskus, 4. April (IPS) - Einen kurzen Augenblick lang machten die Flüchtlinge im Yarmouk-Lager in der syrischen Hauptstadt Damaskus Schlagzeilen. Sie, die Monate lang Gewalt, Hunger und Tod ausgesetzt waren, wurden gefilmt, wie sie vor Freude über die Ankunft von Nahrungsmitteln im Januar weinten. Doch die Kamerateams sind längst wieder weg und die Not ist zurückkehrt, diesmal gepaart mit Krankheiten.

Im Yarmouk-Flüchtlingscamp lebte einst die größte Palästinensergemeinde Syriens. Es kamen die Palästinenser unter, die von den Kriegen in ihrem Land im Jahr 1948 und dann später 1967 geflohen waren. Das Lager mit seinen 100.000 Insassen entwickelte sich zu einem florierenden und lebendigen Stadtviertel. Doch seit Ausbruch des syrischen Bürgerkriegs zwischen den Rebellen und den Streitkräften von Staatspräsident Bashir al-Assad Ende 2012 wüten hier Hunger, Gewalt und Krankheiten.

Seither wurde Yarmouk wie andere Stadtteile belagert und bombardiert sowie Heckenschützen ausgesetzt. Offenbar hat sich die Taktik, ganze Bevölkerungsgruppen zu unterwerfen, ausgezahlt: Rebellen in vielen der eingeschlossenen Gebiete inklusive Yarmouk gingen mit den Regierungstruppen und deren verbündeten Milizen einen Waffenstillstand ein. Mehrere Abkommen über einen Waffenstillstand wurden geschlossen, damit Nahrungsmittel und Medikamente in die Lager gebracht werden konnten.

Das Ende des Belagerungszustands und des Kriegstreibens währte nur kurz. Die UNRWA, die UN-Hilfsorganisation für palästinensische Flüchtlinge, ist zutiefst beunruhigt über die Lage der Menschen in Yarmouk. "Unsere Bemühungen, den verzweifelten Zivilisten vor Ort zu helfen, wurden jedoch durch die Rückkehr zur Gewalt zurückgeworfen", so UNRWA-Sprecher Chris Gunness in einer Mitteilung.

Bis vor kurzem hatten einfallsreiche Freiwillige dafür gesorgt, dass die Kinder und Jugendlichen, die in dem Lager gefangen sind, zumindest eine rudimentäre Schulbildung erhielten. Ohne staatliche Hilfe versuchten sie auf diese Weise den Verlust einer ganzen Generation durch den Bürgerkrieg zu verhindern.


Epidemien

Doch inzwischen mussten Lehrer und Ehrenamtliche die Klassenräume nicht nur wegen der Bombenanschläge und anderer Übergriffen schließen, sondern auch wegen der Krankheiten, die ausgebrochen sind. Der Zusammenbruch des Gesundheitssystems, die chronische Verknappung von Lebensmitteln und sauberem Wasser und die Müllberge leisten Epidemien Vorschub.

"Ein Schüler ist im Klassenraum bewusstlos zusammengebrochen. Er wurde ins Krankenhaus gebracht, wo man bei ihm Hepatitis diagnostizierte", berichtet Khalil Khalil, Gründungsmitglied des provisorischen Schulprojekts, gegenüber IPS. "Daraufhin ließen wir alle Schüler untersuchen. Mindestens sieben waren betroffen. Aufgrund der Verbreitung dieser und anderer ansteckenden Krankheiten waren wir gezwungen, den Unterricht bis auf weiteres einzustellen."

Und zu allem Übel wird wieder gekämpft. "Der Waffenstillstand ist gescheitert und die ins Lager gelieferte Menge an Impfstoffen und Medikamenten reicht bei weitem nicht aus, um die Vielzahl von Krankheiten und Leiden zu kurieren, die sich im Lager und insbesondere unter den Kindern ausbreiten", warnt Wissam Al-Ghoul, Mitarbeiter am lokalen Palästinenserhospital.

Zudem haben die Konfliktparteien einen Teil der ohnehin schon unzureichenden Hilfslieferungen für sich abgezweigt. "Angehörige der Sicherheitskräfte an den Kontrollstellen haben einen Teil der Hilfe konfisziert, um diese dann an die eigenen Leute weiterzugeben. Andere Lieferungen wurden von den Rebellen gestohlen und an deren Familien oder nahestehende Personen verteilt", erläutert Abou Salmi, der für die Beschaffung von Nahrungsmitteln zuständig ist. "Die ungeordneten Verhältnisse machen uns zu schaffen."

Etwa 7.000 Hilfspakete konnten im Januar die Blockade durchbrechen - das UNRWA spricht von einem "Tropfen auf dem heißen Stein' für die fast 20.000 Menschen, die in dem Camp gefangen sind.


Menschen verschleppt

Den Zeitraum, in dem der Belagerungszustand aufgehoben worden war, nutzten Regierungstruppen und alliierte Palästinensergruppen dazu, um angebliche Sympathisanten der Rebellen zu entführen. Unter den Verschleppten waren auch Kinder. Mindestens 30 Männer und Jugendliche wurden festgenommen. Niemand weiß, was aus ihnen geworden ist.

"Mitglieder der syrischen Sicherheitskräfte und ihre Verbündeten der PFLP-GC (einer der syrischen Regierung nahestehende Palästinenserfraktion) haben mindestens zehn junge Männer vor meinen eigenen Augen abgeführt. Wir wissen zudem von Menschen, die in entlegene Gebäude gelockt wurden und dann verschwanden", berichtet eine UNRWA-Mitarbeiterin, die dem Team angehörte, das die Übersicht über die Nahrungsmittel hat und aus Sicherheitsgründen auf Anonymität besteht.

Die Konfliktparteien geben sich gegenseitig die Schuld für das Scheitern des Waffenstillstands. "Das Regime hat keines seiner Versprechen gehalten, etwa die Gefangenen freizulassen und für die sichere Anlieferung der Nahrungsmittel zu sorgen", meint Abu Khitaab vom extremistischen Rebellenbataillon 'Jubhet al-Nusra'. "Wir haben uns, wie abgemacht, vollständig aus dem Lager zurückgezogen. Doch anstatt die Häftlinge freizulassen, wurden junge Leute und Aktivisten entführt und einige Gebäude innerhalb des Lagers besetzt. Das konnten wir nicht hinnehmen. Deshalb sind wir zum bewaffneten Kampf zurückgekehrt."

Unabhängig davon, wer nun den Bruch der Abkommen zu verantworten hat, auf denen der Waffenstillstand gründet - die Menschen im Yarmouk-Lager sind wieder in die Isolation und ins Chaos abgetaucht und werden nun obendrein von Krankheiten heimgesucht. (Ende/IPS/kb/2014)


Link:

http://www.ipsnews.net/2014/03/fighting-now-brings-disease/

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IPS-Tagesdienst vom 4. April 2014
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. April 2014