Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → BRENNPUNKT

SYRIEN/084: Dominostein Damaskus - und besonders die Kinder ... (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 4. November 2014

Syrien:
Aufwachsen unter Toten - Millionen Kinder werden durch den Bürgerkrieg traumatisiert

von Karlos Zurutuza


Bild: © Karlos Zurutuza/IPS

Der Bestatter Ali Khalil und sein Sohn Diar vor einem Sarg
Bild: © Karlos Zurutuza/IPS

Serekaniye, Syrien, 4. November (IPS) - An den Wände im Gebäude der 'Vereinigung für die Märtyrer von Serekaniye' hängen zahlreiche Porträts von Kurden, die in der nordsyrischen Stadt im Kampf gegen die islamistische Terrormiliz IS getötet worden sind. Ali Khalil hat alle von ihnen mit der Hilfe seines 13-jährigen Sohnes Diar beerdigt.

Auf dem ersten Foto ist Khalils Bruder Abid zu sehen. "Er träumte davon, Journalist zu werden. Im November 2012 wurde er dann von einem Heckenschützen getötet. Er war der erste, den ich begraben habe", erinnert sich der ehemalige Kaufmann.

"Diese drei Männer wurden völlig verkohlt hierher gebracht", sagt er, während er auf die nächsten Fotos deutet. "Und dieser Mann wurde geköpft, ebenso wie die beiden anderen dort hinten." Sieben von mehr als 100 Opfern, die von den Wänden ins Unendliche blicken.


Geld, Nahrungsmittel und Decken für Hinterbliebene

Nach dem Tod seines Bruders gründete Khalil in der 680 Kilometer nordöstlich von Damaskus gelegenen Stadt ein Komitee zur Unterstützung von Hinterbliebenen getöteter Kämpfer. Die zehn Mitglieder organisieren Begräbnisse und unterstützen die Familien mit Geld, Nahrungsmitteln und Decken für den Winter. Die Hilfen kämen von der kurdischen Übergangsregierung im Norden Syriens, erklärt er.

Nach dem Volksaufstand 2011 gegen die syrische Regierung entschieden sich die Kurden im Land für eine neutrale Haltung, was sie sowohl mit der Regierungsarmee als auch mit den Oppositionstruppen in Konflikt brachte. Im Juli übernahmen sie die Gebiete im Norden, in denen sie die Bevölkerungsmehrheit stellen. Zurzeit üben sie die Kontrolle über drei Enklaven aus: über Afrin, Jazeera und Kobane. Letztere Stadt wird seit sechs Wochen von der IS-Miliz belagert. Die dort verübten Gräueltaten haben Kobane auf der ganzen Welt bekannt gemacht.

Redur Xelil, Sprecher der kurdischen Miliz 'Volksschutzeinheiten' (YPG), berichtet, dass die Gefechte in Serekaniye für die syrischen Kurden nach den Kämpfen in Kobane die blutigsten Auseinandersetzungen sind. Mahmud Rashid, der ebenfalls als Ehrenamtlicher die Märtyrer-Organisation unterstützt, hat zwei Schwestern und neun Brüder, die alle in den Kampf gezogen sind. "Einer von ihnen ist sogar 60 Jahre alt", sagt er.

Sein Bruder Brahim, fiel vor fünf Monaten dem IS in die Hände. Seitdem hat seine Familie kein Lebenszeichen mehr erhalten. "Seine Frau kam vor vier Tagen, weil sie Hilfe brauchte. Wir haben sie mit Kleidung für ihre sieben Kinder und Decken versorgt und ihr 10.000 syrische Pfund (61 US-Dollar) gegeben", sagt Rashid.


YPG-Banner und Plastikkranz

Das Gespräch endet, als zwei weitere Särge in einem Lastwagen angeliefert werden. Khalil und sein Sohn hüllen sie in rotes Tuch, auf dem sie das gelbe YPG-Banner anbringen. Darauf wird dann ein Kranz aus Plastikblumen gelegt.

Bild: Mit freundlicher Genehmigung von Qadir Agid

Begräbnis kurdischer Kämpfer in Serekaniye
Bild: Mit freundlicher Genehmigung von Qadir Agid

Nach zwei Jahren Erfahrung gehen Vater und Sohn präzise und routiniert an die Arbeit. Um einen Sarg zu schmücken, brauchen sie etwa zehn Minuten. Einer Leiche das Totenhemd anzuziehen, sei viel aufwendiger, sagt Khalil. Sein Sohn ist immer an seiner Seite. "Diar hilft mir bei allem und erledigt alles Notwendige", erzählt er stolz. "Wir arbeiten Hand in Hand." Khalil hat noch einen Sohn, Rojdar. Der Elfjährige kann aber nicht mit anpacken, weil er an chronischer Hepatitis leidet und nie das Haus verlässt.

In einem 2014 veröffentlichten Bericht von 'Save the Children' über die Auswirkungen des dreijährigen Bürgerkriegs auf die Kinder in Syrien schlägt die Organisation angesichts der gravierend verschlechterten sanitären Situation Alarm. Zudem wurden 60 Prozent aller Krankenhäuser in Syrien bei den Kämpfen zerstört. Die Medikamentenproduktion ging um 70 Prozent zurück.


Großteil der Ärzte ins Ausland geflohen

Hinzu kommt, dass etwa die Hälfte aller Ärzte inzwischen das Land verlassen hat. Eine Stadt wie Aleppo bräuchte eigentlich etwa 2.500 Mediziner, berichtet Save the Children. Lediglich 36 Ärzte seien noch am Ort. Die Organisation, die in 120 Staaten aktiv ist, fordert dringend Unterstützung, um allen Kindern zumindest Basisimpfungen garantieren zu können.

Diar, der mit seinem verschwundenen Onkel früher gern ins Internet-Café ging, möchte nicht viel aus seinem Alltag erzählen. Die meiste Zeit hilft er seinem Vater, Freunde hat er kaum noch. Denn die meisten Kinder hätten die Stadt längst verlassen, sagt Diar, während er seinen Blick fest auf den Boden heftet. Und die wenigen, die geblieben sind, trauen sich aus Angst vor Kämpfen kaum noch aus dem Haus.

Die Flüchtlinge leben ebenfalls unter unerträglichen Bedingungen. Wie das Weltkinderhilfswerk UNICEF in dem in diesem Jahr veröffentlichten Bericht ('Under Siege. The devastating impact on children of three years of conflict in Syria') beschreibt, sind etwa 5,5 Millionen Kinder direkt von den Auseinandersetzungen betroffen. Jedes zehnte Kind hat in einem Nachbarland Zuflucht gesucht. Etwa 8.000 von ihnen gingen ohne ihre Eltern über die Grenze.


Kinder tief traumatisiert

Die psychologischen Folgen des Krieges sind ebenso verheerend wie die sichtbaren Wunden. "Viele syrische Kinder haben in den Überlebensmodus geschaltet", sagt Jane MacPhail von UNICEF, die Flüchtlingskinder in Jordanien betreut. "Sie haben die schrecklichsten Dinge miterlebt und normale soziale und emotionale Reaktionen vergessen."

Khalil ist dennoch fest entschlossen zu bleiben. Als Serekaniye Tag und Nacht angegriffen worden sei, habe er sich gesagt: "Ihr könnt so viele Bomben werfen, wie ihr wollt - wir werden niemals von hier fortgehen." Sein Sohn senkt erneut den Blick und sagt: "Ich will Soldat werden." (Ende/IPS/ck/2014)


Link:
http://www.ipsnews.net/2014/11/growing-up-among-the-dead/

© IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH

*

Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 4. November 2014
IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
Marienstr. 19/20, 10117 Berlin
Telefon: 030 / 54 81 45 31, Fax: 030 / 54 82 26 25
E-Mail: contact@ipsnews.de
Internet: www.ipsnews.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 4. November 2014