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GENTECHNIK/443: Wie die Agrarindustrie versucht, die Nulltoleranz zu kippen (UBS)


Unabhängige Bauernstimme, Nr. 327 - November 2009
Die Zeitung von Bäuerinnen und Bauern

"Der EU droht der Eiweißnotstand!"
Wie die Agrarindustrie versucht, die Nulltoleranz zu kippen

Von Annemarie Volling


Glaubte man den Aussagen der Futtermittel- und Fleischindustrie, dem Agrarhandel, den Spitzen der europäischen Bauernverbände sowie der Generaldirektion Landwirtschaft der EU-Kommission, so droht der EU bald ein Futtermittelnotstand. Die Preise würden explodieren und die Schweine- und Geflügelproduktion verlören ihre Wettbewerbsfähigkeit. Grund hierfür, so die Lobbyisten, sei das Festhalten der EU an der Nulltoleranz für nicht zugelassene GVO und der Verzögerung der Zulassung neuer GVO.


Gezielte Fehlinformation

Um politischen Druck zu erzeugen, streuen die Gegner der Nulltoleranz seit Sommer 2009 folgende Botschaft: Weil die Sojaimporte aus Argentinien und Brasilien aufgrund geringer Ernten dramatisch eingebrochen seien, sei die EU von nur einer Quelle abhängig: den USA. Die zwischen September 2009 und März 2010 benötigte Menge von 6 bis 7,5 Mio t Soja sei nur von dort zu beziehen. Weil aber seit Juni 2009 die Einfuhr von Sojabohnen und Sojaschrot aus den USA in die Europäische Union aufgrund der hier geltenden Nulltoleranz "praktisch verhindert" werde, drohten der europäischen Lebens- und Futtermittelindustrie allein für diesen Zeitraum Verluste von 3,5 bis 5 Mrd. Euro.


Eindeutige Faktenlage

Belege dafür, dass die Einfuhr von Soja aus den USA in die EU seit Juni 2009 "praktisch zum Erliegen" gekommen seien, gibt es nicht. Allein die 13 seitdem dokumentierten Verunreinigungsfälle bei US-amerikanischen Sojalieferungen, die sowohl für Lebens- und Futtermittel als auch für Heimtiernahrung bestimmt waren, zeigen, dass die USA den EU-Markt sehr wohl weiter beliefern. Auch eine aktuelle Meldung in der Agra-Europe vom 19. Oktober 2009 konstatiert für Sojaschrot, dass die "von Brüssel gefahrene 'Nulltoleranzpolitik' bisher keinen Niederschlag in den US-Statistiken findet; die amerikanischen Sojaschrotexporte sollen gegenüber 2008/09 sogar leicht steigen".

Bezogen auf die gesamten Sojaimporte in die EU (ca. 32 Millionen Tonnen Sojaäquivalent) muss man festhalten, dass die USA als Exporteur in die EU eher eine untergeordnete Rolle spielt: Bei Sojaschrot-Importen in die EU ist ihr Anteil marginal (ca. 2,3%). Das Groß des Schrotes wird aus Argentinien (56%) und Brasilien (41%) bezogen. Bei Sojabohnen stellt die USA derzeit weniger als ein Sechstel der importierten Menge in die EU - hier kommt knapp 70% aus Brasilien. Zwar sind die Erntemengen der Hauptsojalieferanten in die EU - Argentinien und Brasilien - in der Anbausaison 2008/09 trockenheitsbedingt gesunken, die Prognosen für die neue Ernte in 2009/2010 sind jedoch wieder äußerst positiv. Sicherlich gehen die Sojabestände in Brasilien und Argentinien kurz vor der neuen Ernte, die aus Südamerika ab März 2010 auf den Markt kommt, turnusmäßig zurück, da ein Großteil der Ware bereits Monate vorher zu einem festgelegten Preis verkauft worden ist. Knapp 90% der vom Europäischen Schnellwarnsystem RAFFS seit 2004 bis Ende Juli 2009 erfassten Fälle von mit nicht zugelassenen GVO verunreinigten Futtermitteln gehen allein auf Importe aus den USA zurück. Kein einziger Verunreinigungsfall der letzten fünf Jahre wurde aus Argentinien oder Brasilien gemeldet, den beiden anderen Hauptanbauländern gentechnisch veränderter Soja (Argentinien 99%, Brasilien ca. 55%). Anscheinend werden hier erst neue GVO-Sorten angebaut, wenn die entsprechenden Zulassungsprüfungen im eigenen Land, aber auch in Importländern durchlaufen worden sind.


Standhaft bleiben

Auch der Bayrische Bauernverband schlägt ins gleiche Horn und fordert seine Mitglieder auf, eine Postkarte an Bundeslandwirtschaftsministerin Ilse Aigner zu schreiben mit dem Aufruf: "GVO-Nulltoleranz darf Schweinehalter nicht vom Markt verdrängen - Versorgung mit Eiweißfuttermitteln sicherstellen!" Diese Kampagne, bei der sich Ilse Aigner auf EU-Ebene für die Aufhebung der Nulltoleranz einsetzen soll, stößt selbst innerhalb des Verbandes auf Kritik. Franz Lenz verurteilt diese Aktion trotz seiner Funktion als Kreisobmann des BBV Kreisverbandes Ebersberg aufs Schärfste, in seinem Brief an den Bayrischen Umweltminister Markus Söder. Seiner Meinung nach wäre ein Kippen der Nulltoleranz ein katastrophales Signal an die Sojaproduzenten und Händler, denn so würde ihnen ein Freischein für die Verunreinigung mit in der EU nicht zugelassenen GVO erteilt. Mit einer stringenten Haltung den Produzenten (und dem Handel) gegenüber würden dagegen diejenigen, die jetzt schon GVO-Freiheit liefern können, gestärkt und nicht für ihre Bemühungen um Reinheit bestraft.


Es gibt Alternativen

Auf dem brasilianischen Markt ist gentechnikfreie Soja in Mengen vorhanden, mit denen ein Großteil des EU-Sojabedarfs, in jedem Fall aber ganz Deutschland, beliefert werden kann. Auch andere Lieferanten (bspw. Indien und China) stehen in den Startlöchern. Um die enormen Abhängigkeiten der europäischen Bauern von "billigem" Soja zu schmälern, aber auch hinsichtlich ihres klima- und ressourcenschonenden Potentials sollten wieder verstärkt einheimische Eiweißfutterpflanzen angebaut werden. Hierzu bedarf es auch vermehrter Forschung, Züchtung und Förderung des Anbaus. Derzeit ist die Verwendung von Rapsschrot durch die aktuell hohe Preisdifferenz finanziell attraktiv. Trotz der Bekundungen, dass Koexistenz möglich sei, beweisen die USA, indem sie ihre Verunreinigungsproblematiken nicht in den Griff bekommen, das Gegenteil. Es ist die US-Agrarindustrie, die sich seit Jahren weigert, ein Trennungssystem für Produkte mit und ohne Gentechnik bzw. für in der EU zugelassene und nicht zugelassene GVO aufzubauen. Die Einführung von Schwellenwerten für nicht zugelassene GVO würde die Verunreinigungen im Verborgenen lassen. Die Transparenz für Bauern und Verbraucher wäre verloren. Auch wäre zu befürchten, dass dies nur ein erster Schritt ist. Erst niedrige Schwellenwerte für Futtermittel, dann für Lebensmittel, bald auch für Pharma- oder Pflanzen für industrielle Zwecke - letztendlich für Saatgut. Das bedeutet immer höhere Grenzwerte für nirgendwo in der Welt zugelassene und nicht sicherheitsbewertete GVO.

Kurzum: Die Nulltoleranz für in der EU nicht zugelassene GVO muss aufrecht erhalten bleiben, das EU-Recht darf nicht aufgeweicht werden. Und eine Bundesregierung, die ernst genommen werden will, muss die Interessen ihrer Bürger vertreten, nicht die der Agrar- und Gentechnikindustrie. Sie muss das Recht auf eine gentechnikfreie Landwirtschaft und auf gentechnikfreie Lebensmittel sicherstellen und deshalb klar für die Nulltoleranz nicht zugelassener GVO eintreten.


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Quelle:
Unabhängige Bauernstimme, Nr. 327 - November 2009, S. 16
Herausgeber: Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft - Bauernblatt e.V.
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Internet: www.bauernstimme.de

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(verbilligt auf Antrag 26,00 Euro jährlich)


veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Dezember 2009