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LANDWIRTSCHAFT/1694: "Welches Schweinderl hätten S' denn gern?" (ubs)


Unabhängige Bauernstimme, Nr. 402 - September 2016
Die Zeitung von Bäuerinnen und Bauern

"Welches Schweinderl hätten S' denn gern?" Ferkel gar nicht, chemisch oder mit Betäubung kastrieren

Von Christine Weißenberg


Ab 1. Januar 2019 tritt in Deutschland das Verbot in Kraft, Ferkel ohne Betäubung zu kastrieren. Das gängige Verfahren für den chirurgischen Eingriff, den die Bäuerinnen und Bauern in der ersten Lebenswoche der Ferkel selbst vornehmen, ist mittlerweile bei Biobetrieben und im Rahmen des QS-Systems für konventionelle Betriebe die Kastration mit Schmerzmittelgabe. Die Kosten betragen etwa zehn Cent pro Tier. Unternehmen des Lebensmitteleinzelhandels (LEH), darunter Rewe, wollen jedoch schon ab dem 1. Januar 2017 kein Fleisch von betäubungslos kastrierten Tieren mehr verkaufen. Aldi fordert sogar den kompletten Verzicht auf einen chirurgischen Eingriff.

Gar nicht mehr kastrieren

Bei einem gänzlichen Verzicht auf den chirurgischen Eingriff stehen Ebermast oder Immunokastration zur Auswahl. Erstere hat sich seit 2012 durch Abnahmegarantien von Tönnies und Westfleisch, zwei der größten deutschen Fleischverarbeitungsunternehmen, als Marktsegment entwickelt. Ein Problem für die Vermarktung sind die so genannten "Stinker", d. h. Eber, deren Fleisch unangenehme Geruchsstoffe eingelagert hat, die bei Geschlechtsreife entstehen können. Große Verarbeiter können sich den Aufwand leisten, mit dem Verfahren der "menschlichen Nase" eine Fleischprüfung vorzunehmen und verschmerzen bei ihrem Mengendurchsatz hin und wieder vorkommende Stinker. Allerdings ist davon auszugehen, dass diese Grenzen mittlerweile ausgeschöpft sind. Kleine und mittelständische Schlachtunternehmen haben größere Schwierigkeiten Stinker auszusortieren und scheuen das Qualitätsrisiko gegenüber ihren Kunden. Ein Nachteil für die Bauern und Bäuerinnen liegt in der Marktaufspaltung mit Festlegung auf einzelne Abnehmer und deren Konditionen. Außerdem bestehen hohe Anforderungen an das Management und die Haltungsbedingungen, um schwere Verletzungen durch z. B. Rangkämpfe oder Penisbeißen zu verhindern. Nichtsdestotrotz ist aus Sicht der Schweine kein Eingriff am Tier zu begrüßen.

Immunabwehr gegen Hormone

Alternativ besteht die Möglichkeit der Immunokastration, bei der die Produktion von Geschlechtshormonen durch eine künstlich hervorgerufene Immunreaktion vorübergehend unterbunden wird. Die zweistufige Injektionsbehandlung ist weltweit, u. a. in Australien, verbreitet und in Deutschland als Impfstoff zugelassen. Die TierhalterInnen können die Anwendung selbst vornehmen. Die Kosten betragen etwa vier Euro pro Tier. Zwei auf den Schlachttermin abgestimmte Behandlungen erfordern eine genaue Zeitplanung. Bei den Schweinen verursacht das Verfahren eine Immunabwehrtätigkeit des Körpers und stellt einen Eingriff in den Hormonstoffwechsel dar. Im Falle von Anwendungsfehlern und Selbstinjektion zeigt sich die gleiche Wirkung grundsätzlich auch bei Menschen, letztlich aber nur vorübergehend. Kritisch zu sehen ist die direkte Abhängigkeit der Schweinefleischerzeugung von einem Medikament und dessen Hersteller. Teile des Handels präferieren mittlerweile die Immunokastration, nicht zuletzt, weil Tierschutzorganisationen langfristig auf den Verzicht der chirurgischen Kastration hinaus wollen. Gleichzeitig wurde jüngst auf einer Fachveranstaltung klar, dass der LEH bei auftretenden Komplikationen aussteigen würde. Als Teil von Qualitätsfleischerzeugung scheint das Verfahren schwer an die Kunden vermittelbar.

Mit Isofluran-Betäubung

Die Betriebe des Vermarktungsprogramms Neuland für Fleisch aus artgerechter Tierhaltung kastrieren ihre Ferkel seit 2008 unter Betäubung plus Schmerzmittelgabe. Der Verein hat sich für das kurz wirksame Isofluran und ein in der Schweiz entwickeltes Verfahren mit automatischem, in Bezug auf Wirk- und Anwendersicherheit optimiertem Narkosegerät entschieden, was sich in der Praxis als gut handhabbar bewährt hat: "Es entsteht viel weniger Stress für die Tiere und im Arbeitsablauf, weil die Ferkel für den Eingriff schlafend daliegen. Und direkt anschließend sind sie wieder wach, können herumlaufen und bei der Sau trinken", erklärt Sauenhalter Karl Österle, der in Baden-Württemberg Ferkel u. a. für Neuland-Mastbetriebe aufzieht, zufrieden die Vorteile. "Nachteilige Auswirkungen auf die Heilung der Kastrationswunde (...) wurden bei einem Vergleich mit konventionell kastrierten Ferkeln nicht festgestellt", bescheinigt das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) in einer aktuellen Fachmeldung.

Allerdings entstehen relativ hohe Kosten, zur Zeit etwa sechs Euro pro Tier. Die Anschaffung des Narkosegerätes könnte bei größerer Nachfrage günstiger werden. Schon jetzt kann der leicht zu reinigende Unterbau mit mehreren Betrieben geteilt werden; die Behandlungseinheit kauft jeder Hof als Aufsatz selbst. Die Durchführung der Betäubung muss nach deutschem Tierschutzgesetz von einem Tierarzt vorgenommen werden. Kostengünstiger würde das Verfahren, entsprechend den Erfahrungen aus der Schweiz, wenn die Tierhalter es auf Grundlage von Schulungen durch Tierärzte und erlangten Sachkundenachweisen selbst anwenden könnten.

Verlässlicher Rahmen

Der größte Handlungsbedarf für diese Methode besteht jedoch darin, einen verlässlichen Rahmen für die Anwendung zu schaffen, denn derzeit gibt es in Deutschland keine Zulassung für Isofluran bei Schweinen. Deshalb ist stets eine Umwidmung des Arzneimittels durch den behandelnden Tierarzt notwendig. Voraussetzung dafür ist die Feststellung eines Behandlungsnotstandes, weil kein vergleichbares Medikament zugelassen ist. Die Auffassung der für Rückfragen zuständigen Veterinärämter ist dazu je nach Bundesland oder Region unterschiedlich. Oft wird auf die zugelassenen Wirkstoffe für eine Injektionsnarkose verwiesen, deren Anwendung jedoch zu einem langen, für Ferkel gesundheitsgefährdenden Nachschlaf führt.

Die Bundesländer hätten die Möglichkeit mit Hilfe eines Erlasses den Behandlungsnotstand bei der Betäubung von Ferkeln anzuerkennen, um den einzelnen Tierärzten Orientierung zu geben. Eine Zulassung von Isofluran für Schweine müsste von den herstellenden Pharmaunternehmen beantragt werden. Es wird wohl auch von der zukünftigen Nachfrage abhängen. Aus dem Bundeslandwirtschaftsministerium sind Schätzungen zu hören, die davon ausgehen, dass knapp 50 Prozent der Betriebe weiterhin chirurgisch kastrieren werden. Wenn diese Größenordnung auch nur annähernd stimmt, dann sollte das ein guter Grund sein, auch für die chirurgische Kastration ein gutes Betäubungsverfahren mit praxisnahen unkomplizierten Rahmenbedingungen auszustatten.

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Quelle:
Unabhängige Bauernstimme, Nr. 402 - September 2016, S. 14
Herausgeber: Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft - Bauernblatt e.V.
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(verbilligt auf Antrag 30,00 Euro jährlich)


veröffentlicht im Schattenblick zum 11. November 2016

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