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ASYL/571: Schade eigentlich! - Erste Anmerkungen zur EU-Rückführungsrichtlinie (Der Schlepper)


Der Schlepper Nr. 46 - Winter 2008/2009
Quartalsmagazin für Migration und Flüchtlingssolidarität in Schleswig-Holstein

Schade eigentlich!
Erste Anmerkungen EU-Rückführungsrichtlinie

Von Holger Hoffmann


Der Europäische Rat hatte bereits am 5. Juni, das EU Parlament am 18. Juni 2008 mit 367 gegen 206 Stimmen bei 106 Enthaltungen der sog. "Rückführungsrichtlinie" ("Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger", im folgenden Text: RRL) zugestimmt. Es ist die erste Richtlinie, die von gemeinsamer Zustimmung des Europäischen Rates und des Parlaments getragen wird und zugleich die letzte, die gem. Art 63 des Amsterdamer Vertrages noch zu erarbeiten war. Nach über drei Jahren Verhandlung sah es bis zum Frühjahr 2008 so aus, als ob keine Einigung erzielt werden könne und das Parlament nicht zustimmen werde. Dies änderte sich erst, nachdem die slowenische Präsidentschaft im April 2008 einen Kompromisstext vorgelegt hatte. Die Formulierungen sind daher geprägt von einer unüberschaubaren Menge an unbestimmten Rechtsbegriffen und Ermessensspielräumen, die nun im Rahmen der jeweiligen nationalstaatlichen Umsetzung der RRL konkretisiert werden müssen. Die Richtlinie wird am zwanzigsten Tag nach ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt der EU in Kraft treten. Diese Veröffentlichung war bis zur Abfassung dieses Artikels Mitte August 2008 noch nicht erfolgt. Eine komplette "offizielle" Übersetzung des (englischen) Urtextes der RRL lag bis zu diesem Zeitpunkt ebenfalls noch nicht vor. Nach Inkrafttreten gilt für die Umsetzung der Regelungen in das jeweilige nationale Recht eine 2-Jahres-Frist (Ausnahme: Bis 2011 für Regelungen, die Gewährung von Prozesskostenhilfe betreffen).

Im Folgenden sollen zunächst einige für die Praxis wesentliche Einzelregelungen dargestellt und im Anschluss kritische Einwendungen gegen die Richtlinie erörtert werden.


I. Abschiebehaft (Art 15 und 16 RRL)

Zu den umstrittensten Regelungen gehörte die Frage der Dauer von Abschiebungshaft. Einige Mitgliedsstaaten kannten in ihren Rechtsordnungen bisher keine Höchstfristen (z. B. Großbritannien, Niederlande), andere legten sehr kurze Fristen fest (z. B. Frankreich: 6 Wochen). Die jetzt eingeführte Regelung entspricht hinsichtlich ihrer Dauer § 62 Abs. 3 AufenthG. Gem. Art. 15 RRL können Betroffene zur Vorbereitung der Abschiebung inhaftiert werden, sofern Fluchtgefahr besteht oder sie eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit darstellen. Haft darf nur angeordnet werden, wenn keine milderen Mittel anwendbar sind (z. B. tägliche Meldung bei Polizei oder Ausländerbehörde). Sie muss "so kurz wie möglich" sein und ist "so schnell wie möglich" gerichtlich zu überprüfen. Die maximale Haftdauer beträgt 6 Monate und kann in besonderen Fällen nach nochmaliger Prüfung durch eine gerichtliche Instanz um maximal weitere 12 Monate verlängert werden. In der Praxis wird es schwierig sein, nach 6 Monaten Haft zu begründen, dass sie weiterhin der Vorbereitung einer Abschiebung dienen soll.

Gem. Art. 16 RRL sind die Betroffenen grundsätzlich in Abschiebehaftanstalten unterzubringen. Sollten dort wegen Überbelegung o. ä. keine Plätze verfügbar sein, müssen die Inhaftierten jedenfalls getrennt von Straftätern untergebracht werden. Verpflichtend ist weiter, Kontakte zu Familienangehörigen zu ermöglichen und den Zugang zu rechtlicher Beratung zu gewährleisten. Internationalen Organisationen und NGOs wird Zugang zu Abschiebehafteinrichtungen gewährt (Abs. 4). "Besondere Aufmerksamkeit gilt der Situation schutzbedürftiger Personen. Medizinische Notfallversorgung und die unbedingt erforderliche Behandlung von Krankheiten wird gewährt" (Abs. 3)


II. Wiedereinreiseverbot (Art 11 RRL)

Art. 11 RRL bestimmt, dass ein Wiedereinreiseverbot "individuell in Anbetracht der jeweiligen Umstände" erlassen werden kann, wenn keine Frist zu freiwilliger Ausreise eingeräumt oder eine solche Frist (die bis zu sieben Tagen kurz, aber auch länger bemessen sein kann) nicht eingehalten wurde. Dieses Verbot soll nach Prüfung des jeweiligen Einzelfalles grundsätzlich 5 Jahre nicht überschreiten, kann aber darüber hinaus verhängt werden, wenn der Drittstaatsangehörige "eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit darstellt". Ein Wiedereinreiseverbot kann im jeweiligen nationalen Recht der Mitgliedsstaaten aufgehoben werden, wenn der Betroffene bei einem Konsulat des jeweiligen Staates, der ihn ausgewiesen hat, vorstellig wird und nachweist, dass er "unter uneingeschränkter Einhaltung einer Rückkehrentscheidung" den Mitgliedsstaat zuvor verlassen hatte. Abs. 5 regelt darüber hinaus, dass auch dann, wenn ein Wiedereinreiseverbot erlassen wurde (politisch) Verfolgten stets internationaler Schutz zu gewähren ist.


III. Kindeswohl, Familienleben und Gesundheit, Nicht Zurückweisung (Art 5, 10 und 17 RRL)

Bei allen Rückführungsmaßnahmen sind das Kindeswohl, die Bedürfnisse von Familien, der Gesundheitszustand des Betroffenen und der Grundsatz des "non - refoulement" (Art 33 GFK) zu berücksichtigen. Vor einer Entscheidung über die Abschiebung eines unbegleiteten Minderjährigen muss eine "kompetente Stelle" die Situation im Hinblick auf das Wohl des Kindes prüfen. Abgeschoben werden darf nur, wenn die/der Minderjährige am Ort der Ankunft von einem Familienmitglied, einem gesetzlichen Vertreter oder einer kind-/jugendhilfegerechten Einrichtung aufgenommen wird. Abschiebehaft für Minderjährige und Familien unterliegt den in Art 17 genannten Beschränkungen: Sie darf bei unbegleiteten Minderjährigen und Familien mit Minderjährigen "nur im äußersten Falle und für die kürzestmögliche angemessene Dauer" eingesetzt werden (Art 17 Nr. 1). Bis zur Abschiebung in Haft genommene Familien müssen eine gesonderte Unterbringung erhalten, die ein angemessenes Maß an Privatsphäre gewährleistet (Art 17 Nr. 2). In Haft genommene Minderjährige müssen die Gelegenheit zu Freizeitbeschäftigungen einschließlich altersgerechter Spiel- und Erholungsmöglichkeiten und, je nach Dauer ihres Aufenthaltes, Zugang zu Bildung erhalten (Art 17 Nr. 3). Unbegleitete Minderjährige müssen soweit wie möglich in Einrichtungen untergebracht werden, die personell und materiell zur Berücksichtigung ihrer altersgemäßen Bedürfnisse in der Lage sind (Art 17 Nr. 4). Dem Wohl des Kindes ist im Zusammenhang mit der Abschiebehaft bei Minderjährigen Vorrang einzuräumen (Art 17 Nr. 5).


IV. Zur Kritik

Louise Arbour, UN Hochkommissarin für Menschenrechte, kritisierte fehlende Garantien für den Schutz von Personen, die sich in einer "verwundbaren Situation" befinden. Verschiedene südamerikanische Regierungen kritisierten, die RRL sei ausschließlich an der Sicherheit der EU-Staaten und nicht an Menschenrechten orientiert. Amnesty International und ECRE empfahlen in einem gemeinsamen Brief an die Abgeordneten, der RRL nicht zuzustimmen insbesondere wegen der oben dargestellten Bestimmungen zur Dauer und Gestaltung von Abschiebungshaft und der Möglichkeiten, Weidereinreiseverbote zu verhängen. Wie so oft, prallten alle Einwände an den Entscheidungsträgern ab. Der verabschiedete Text besitzt nun "relativen Ewigkeitswert", da Änderungen im zeitaufwändigen Rechtssetzungsverfahren der EU nur auf Vorschlag der Kommission erfolgen können. Sie erstattet alle drei Jahre, d. h. erstmals 2011 einen Bericht über die Anwendung der RRL.

Der deutsche Europa-Abgeordnete Kreissl-Dörfler (SPD) begründete seine Zustimmung zur RRL mit folgenden Erwägungen (Amnesty-Asyl-Info 7/8-2008, S. 39f): Als "erster Schritt" und Kompromiss zwischen nationalen Interessen und unterschiedlichen humanitären Vorstellungen setze die RRL europäische Mindeststandards insbesondere in den Bereichen Unterbringung in Abschiebehaft und Verfahrensgarantien und gebe der EU Kontroll- und Sanktionsmöglichkeiten, um die Einhaltung dieser Standards sicherzustellen (z. B. Überwachung der Umsetzung durch die EU-Kommission und erforderlichenfalls die Einleitung von Vertragsverletzungsverfahren, falls Staaten die Standards nicht einhalten, Überprüfung der Umsetzung durch den EUGH). Darüber hinaus könnten - wie in jeder Richtlinie vorgesehen - die Mitgliedstaaten "höhere" menschenrechtliche Standards beibehalten oder einführen. Eine Ablehnung hätte dazu geführt, dass in absehbarer Zukunft keine Verbesserungen für die Situation der Betroffenen hätte erreicht werden können. Die Neuwahl des Parlaments 2009 hätte danach ein erneutes Einbringen der Vorlage in den Abstimmungs- und Entscheidungsprozess erforderlich gemacht.

Eines der Hauptprobleme bei Umsetzung und Anwendung der Richtlinie dürfte wieder einmal die "europarechtskonforme" Umsetzung zahlreicher unbestimmter Rechtsbegriffe und Ermessensregelungen, welche die RRL-Bestimmungen prägen (z. B. Art 16: "grundsätzliche" Unterbringung in Abschiebehaftanstalten; Art.17: "altersgerechte Spiel- und Erholungsmöglichkeiten" in Abschiebehaftanstalten - EU-weit!!, "Berücksichtigung altersgemäßer Bedürfnisse", Haftanordnung "nur im äußersten Fall und für die kürzestmögliche angemessene Dauer") in die jeweiligen nationalen Rechtsordnungen sein. An solchen Formulierungen wird einerseits ein bisschen "guter Wille", andererseits aber vor allem der Kompromisscharakter deutlich: wie sollen so "weite" Vorgaben einheitlich interpretiert werden? Anderseits: Ist - um Kreissl-Dörfler aufzugreifen - das jetzt erreichte Wenige derzeit schon viel?

Angesichts des derzeitigen Zustandes in der Union mag man geneigt sein, "ja" zu antworten. Angesichts der menschenrechtlichen Anforderungen, die gerade im sensiblen Bereich von Abschiebung und Haft an Gesetzgebung zu stellen sind, bleiben jedoch Enttäuschung und das ungute Gefühl, dass die kritische Instanz, die das Parlament einmal gegenüber den Aktivitäten des Europäischen Rates war (und die sichtbaren Ausdruck z. B. in der Ablehnung und den Klagen gegen die Richtlinien zur Familienzusammenführung und zum Asylverfahren fanden) jetzt durch die "Mitverantwortung" des Parlamentes für den Richtlinieninhalt weggefallen ist: Es scheint so zu sein: Wer gemeinsam Verantwortung trägt darf nicht zu kritisch miteinander umgehen. Keine beruhigende Erkenntnis! Der vage Hinweis, wäre es nicht zu diesem Kompromisstext, dann wäre es zu nichts gekommen und nun könnten die nationalen Parlamente "höhere Standards" einführen, ist bestenfalls als naive Selbstberuhigung von Abgeordneten zu verstehen, die immerhin noch ein schlechtes Gewissen haben. Jeder Kundige weiß, dass, wenn erst einmal europäische Mindeststandards mit relativem Ewigkeitswert festgeschrieben wurden, kein nationales Parlament noch besonderes Interesse zeigt, nachträglich abweichende "höhere" Standards einzuführen. Und: Eine europäische Perspektive eröffnet ein solcher Hinweis auf die Möglichkeiten nationaler Gesetzgebung ohnehin nicht. Insgesamt also: Schade, dass das Parlament sich so hat "einwickeln" lassen. Die erste Chance zu engagierter, menschenrechtlich geprägter Mitgestaltung europäischen Ausländerrechts wurde auf diese Weise vertan. Und unklar bleibt, was dafür "eingehandelt" wurde.


Professor Dr. Holger Hoffmann, Jurist, FH Bielefeld


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Quelle:
Der Schlepper Nr. 46 - Winter 2008/2009, Seite 39-40
Quartalsmagazin für Migration und Flüchtlingssolidarität in
Schleswig-Holstein
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. März 2009