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ASYL/713: Mauern verletzen Flüchtlingsrechte (Der Schlepper/Pro Asyl)


Der Schlepper - Sommer 2011 Nr. 55/56
Heft zum Tag des Flüchtlings 2011, PRO ASYL

Mauern verletzen Flüchtlingsrechte
25 Jahre Tag des Flüchtlings
25 Jahre PRO ASYL

Von Günter Burkhardt


»Wer hat Angst vor Asylsuchenden? Offenbar nicht wenige Deutsche. Vielfach wird vergessen, dass es Asylsuchenden oft ums Überleben geht ...« So beginnt der Aufruf zum ersten Tag des Flüchtlings in der Bundesrepublik Deutschland. Im März 1986 ging diese Initiative vom »Ökumenischen Vorbereitungsausschuss zur Woche der ausländischen Mitbürger« (heute Interkulturelle Woche) und dem DGB Bundesvorstand aus. Ein wichtiger Impuls, der zur Gründung einer neuen bundesweiten Arbeitsgemeinschaft führt: Am 8. September 1986 gründen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus Kirchen, Gewerkschaften, Wohlfahrts- und Menschenrechtsorganisationen und Initiativgruppen in Frankfurt am Main PRO ASYL.


DIE ZIELE:

»Die Arbeitsgemeinschaft für Flüchtlinge PRO ASYL übernimmt folgende Aufgaben:

• Öffentlichkeitsarbeit für die Belange der Flüchtlinge entsprechend den Ansprüchen des Grundgesetzes und der Genfer Flüchtlingskonvention

• Unterstützung von Selbsthilfegruppen, Flüchtlingsräten und ähnlichen Initiativen

• Koordinierung von Initiativen für einen bundesweiten Tag des Flüchtlings.«

(Auszug aus dem Protokoll der Gründungssitzung vom 8. September 1986)

Die zentralen Forderungen von damals - gegen die drohende Abschottung Europas und für eine menschenwürdige Behandlung von Flüchtlingen in Deutschland - haben sich inzwischen als Dauerbrenner erwiesen.


GEGEN DIE ABSCHOTTUNG

Gemahnt wurde schon 1986, die Grenzen Europas nicht abzuschotten, sondern Flüchtlingen den Zugang in die Bundesrepublik Deutschland weiterhin zu ermöglichen. Das damals befürchtete Szenario ist längst eingetreten. Europa schottet sich ab - ein Paragraphendschungel, gekoppelt mit Hightech-Überwachung an den Grenzen, führt dazu, dass die Zahl der Flüchtlinge, die Europa erreichen, relativ gering ist.

Die Wege über das Mittelmeer wurden Zug um Zug beschnitten, Fluchtwege über Nordafrika versperrt. Eine zentrale Rolle spielen hier die so genannte europäische Grenzagentur Frontex, aber auch die bilateralen Kooperationen mit Transitstaaten. Flüchtlinge gilt es abzuwehren - mit allen Mitteln. »Stoppt das Sterben«, die PRO ASYL Kampagne aus dem Jahr 2008, war die Reaktion auf die hemmungslos und ungebremst vollzogene Abschottungspolitik.

Im letzten Jahr hat sich einer der zentralen Fluchtwege nach Europa verlagert. Über Istanbul führt mittlerweile der Weg über die Landgrenze Nordgriechenlands nach Europa. Die menschenrechtliche Problematik in Griechenland ist bekannt: Eingepfercht in menschenunwürdigen Verschlägen, ohne Zugang zu einem rechtsstaatlichen Verfahren, abgeschnitten von der Zivilisation - so sieht die Lage der Flüchtlinge dort aus. Die Bundesregierung und andere europäische Länder stellten sich lange erfolgreich taub, stumm und blind. Die Griechen sollen doch sehen, wie sie mit der Situation fertig werden. Über Jahre hinweg hat PRO ASYL die Situation thematisiert, europaweit und in Deutschland die Skandale an die Öffentlichkeit gebracht. Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vom 21. Januar 2011 ist bahnbrechend - einer der größten Erfolge, die PRO ASYL in seiner 25-jährigen Geschichte zu verzeichnen hat. Griechenland verletzt die Menschenrechte - ein effektiver Rechtschutz gegen Abschiebungen nach Griechenland muss gewährleistet werden. Das Gericht hat einen Einzelfall entschieden, doch es geht um mehr. Unmittelbar vor dem Urteil hat das Bundesinnenministerium für ein Jahr, bis zum 12. Januar 2012, alle Entscheidungen zur Zurückschiebung von Flüchtlingen nach Griechenland ausgesetzt. Aber was dann?

Wann kommt Europa endlich zu der Einsicht, dass die Verantwortung für den Flüchtlingsschutz nicht allein den Staaten an den Grenzen Europas aufgebürdet werden kann? Als eines der wirtschaftlich stärksten und ökonomisch am meisten von der Europäischen Union profitierenden Länder ist Deutschland auf dem Egotrip. Konstruiert als asylrechtliche Insel nach der Grundgesetzänderung im Jahr 1993 betätigte sich das Bundesinnenministerium über Jahrzehnte hinweg wie ein mittelalterlicher Festungsbauer. Ring um Ring, Graben um Graben wird gezogen, damit Verfolgte auf keinen Fall Deutschland erreichen können. Die Fluchtwege sollen versperrt werden - möglichst schon, bevor die Flüchtlinge Europa erreichen. Der Abschluss eines Rückübernahmeabkommens zwischen der Europäischen Union und der Türkei, die weitere Ausdehnung des Frontexeinsatzes über die Grenzen der EU hinaus, dies sind aktuelle Vorhaben.

Die Revolution in den nordafrikanischen Staaten stellt für die Festungsbauer nun einen schweren Rückschlag dar. Die Auswirkungen der Umbruchsituation in Nordafrika sind heute noch unabsehbar. Doch eines ist deutlich: Es muss einen Neuanfang in der europäischen Politik geben. Eine kohärente, auf den Menschenrechten basierende Außen-, Wirtschafts-, Entwicklungs- und Flüchtlingspolitik ist erforderlich. Alle Signale deuten jedoch darauf hin, dass die Bedeutung dieser Umwälzung verkannt wird. Eilig wird versucht, die alte Politik mit den im Umbruch befindlichen Regierungen fortzusetzen. Wenn es darum geht, Opfer von Menschenrechtsverletzungen von Europa fernzuhalten, kennt Deutschland keine Skrupel. Eine Politik verselbstständigt sich - wird über Jahrzehnte hinweg konsequent fortgeführt, ohne je darüber nachzudenken, ob sie nicht langfristig auch den elementaren Interessen Deutschlands und Europas schadet. Wer Menschenrechte vergisst, vergisst sich selbst, lautete 1997/98 der Slogan zum Tag des Flüchtlings. Ein Appell, eine Mahnung, dass eine moderne Gesellschaft nicht ohne Grundwerte und Menschenrechte existieren kann. Der Staat hat die Würde der Menschen zu schützen und zu achten. Im Alltag ist für Flüchtlinge davon oft wenig zu spüren.


MENSCHEN WIE MENSCHEN BEHANDELN

»Die Menschenwürde der Flüchtlinge in der Bundesrepublik nicht durch Abschreckungsmaßnahmen zu verletzen«, dies war eine der weiteren zentralen Forderungen aus 1986. Das bestehende Arbeitsverbot, der zwangsweise Aufenthalt in Lagern, die Einschränkung der Bewegungsfreiheit, Kürzungen und Auszahlungen der gewährten Sozialhilfe in Sachleistungen, all dies waren damals - und sind es noch heute - zentrale Streitpunkte. Einzelne Verbesserungen wurden seither erreicht - das Grundprinzip jedoch wurde von Seiten der Politik nie in Frage gestellt: Die bewusste Entwürdigung und Diskriminierung zum Zweck der Abschreckung.

Aktuell gibt es hier Bewegung: Flüchtlingsinitiativen und mit Flüchtlingen Solidarische erhielten im vergangenen Jahr Rückenwind durch die Gerichte. Im Februar 2010 hat das Bundesverfassungsgericht die Hartz IV Berechnungen als verfassungswidrig gebrandmarkt. Nun steht auch das Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) auf dem Prüfstand. Das Gesetz ist verfassungswidrig - nicht nur allein deshalb, weil die Sätze willkürlich festgesetzt und seit seiner Einführung vor 18 Jahren nie erhöht wurden. Das »Asylbewerberleistungsgesetz « spiegelt der Öffentlichkeit falsche Tatsachen vor. Statt Leistungen für Asylsuchende bietet es eine strukturelle Diskriminierung weit unterhalb des niedrigsten Existenzminimums in Deutschland.


BLEIBERECHT STATT DULDUNG

Eines der seit vielen Jahren drängendsten und in Deutschland immer noch ungelösten Probleme ist die Lebenssituation von langfristig hier Geduldeten. Im Jahre 2002 hat PRO ASYL die Kampagne »Wer lange hier lebt, muss bleiben dürfen« gestartet. Die Bleiberechtsregelungen der Jahre 2006 und 2007 waren von der Zivilgesellschaft lange und hart erkämpft. Sie haben vielen Betroffenen (erst einmal) geholfen, eine echte Lösung waren sie aber nicht. Jahr um Jahr wird eine dauerhafte Lösung verschoben und vertagt. Doch der Druck vor Ort ist hoch. Der jahrzehntelange Einsatz von PRO ASYL, von Kirchengemeinden, Wohlfahrtsverbänden und Initiativen zeigt Wirkung. Zwar gibt es noch nicht die grundlegende Abschaffung der langjährigen Dauerduldungen, mit der endlich ein Schlussstrich unter die humanitäre und gesellschaftliche Misere gezogen werden kann. Eine Lösung muss aber kommen, entweder über die Innenministerkonferenz oder über eine gesetzliche Regelung. Die im März vom Bundestag beschlossene Regelung für Heranwachsende ist ein kleiner Schritt in die richtige Richtung. Wenn auch bei weitem nicht ausreichend. Nur schätzungsweise etwa 4.500 - 5.000 Personen von den 86.000 Dauergeduldeten haben eine Chance. Ende 2011 läuft die Bleiberechtsregelung der Innenminister aus.

Der jahrelange Einsatz muss weitergehen. Ein neuer Anlauf ist nötig, um zu einer Bleiberechtsregelung zu kommen, die auch alten, kranken und alleinstehenden Menschen und allen, die lange hier leben, eine Chance bietet. Dies muss ein zentrales Thema des Tag des Flüchtlings sein.


ZWISCHENSTAND

Wer sich für Flüchtlinge einsetzt, weiß, es ist ein Kampf gegen die Mühlen der Bürokratie. Aber immer wieder gelingt es, Sandkörner oder gar Felsbrocken ins Mahlwerk zu streuen und erfolgreich für Menschenrecht und Menschenwürde einzutreten.

25 Jahre nach der Gründung von PRO ASYL haben wir einiges erreicht und wissen doch: Unser Auftrag ist nicht beendet. 2011 jährt sich zum 25. Mal der Tag des Flüchtlings. Die Tätigen in der Flüchtlingsarbeit werden diesen Tag auch diesmal nutzen, um die harten Zeiten für Flüchtlinge in unserem Land ein wenig freundlicher zu gestalten. Machen Sie mit. Versuchen Sie über Informationen und persönliche Begegnungen Verständnis für Flüchtlinge zu schaffen, Politiker in Gespräche einzubeziehen und so über die menschliche Anteilnahme auch politischen Druck zu entfalten. Nicht aufgeben, nicht nachlassen, sich nicht von bloßen Worten blenden lassen beim Einsatz für die Menschenwürde in unserem Land und in Europa: Dies ist und bleibt das Konzept auch für die Zukunft.


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Quelle:
Der Schlepper - Sommer 2011 Nr. 55/56, S. 3-5
Heft zum Tag des Flüchtlings 2010, PRO ASYL
http://www.proasyl.de/fileadmin/proasyl/fm_redakteure/Broschueren_pdf/Heft_TdF_2011_Homepageversion.pdf
Herausgeber: PRO ASYL - Bundesweite Arbeitsgemeinschaft für Flüchtlinge
Postfach 160624, 60069 Frankfurt/M.
Telefon: 069/23 06 88, Telefax: 069/23 06 50
E-Mail: proasyl@proasyl.de
Internet: www.proasyl.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 25. August 2011