Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → FAKTEN


AUSSEN/631: Das Recht des Täters - Verweigerung von Reparationszahlungen (german-foreign-policy.com)


Informationen zur Deutschen Außenpolitik - 28. Oktober 2022
german-foreign-policy.com

Das Recht des Täters

Kanzler Scholz bestätigt in Athen Berlins Weigerung, Reparationen und Entschädigungen für NS-Massenverbrechen zu zahlen. Italien entschädigt Italiener jetzt aus eigenen Mitteln.


BERLIN/ATHEN/WARSCHAU/ROM - Die Bundesregierung bekräftigt zum wiederholten Mal ihre kategorische Weigerung, Reparationen oder Entschädigungen für NS-Massenverbrechen zu zahlen. Die "Reparationsfrage" sei "abgeschlossen", erklärte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) gestern bei einem Besuch in Athen. Griechenland besteht darauf, die Schäden erstattet zu bekommen, die bei seiner Verwüstung im Zweiten Weltkrieg durch die deutschen Besatzer entstanden. Die Schadenssumme wird auf über 288 Milliarden Euro beziffert; rechnet man Entschädigungen für Angehörige von NS-Opfern hinzu, dann könnte der Gesamtbetrag 420 Milliarden Euro übersteigen. Polen fordert gleichfalls Reparationen und beziffert sie auf einen Gesamtbetrag von über 1,3 Billionen Euro. Polens Forderung hat Außenministerin Annalena Baerbock (Bündnis 90/Die Grünen) eine Absage erteilt. Auf Entschädigung können mittlerweile Angehörige von NS-Opfern in Italien hoffen - freilich nicht, weil Berlin sich zur Zahlung bereit erklärt hätte, sondern weil Rom einen Entschädigungsfonds aufgelegt hat, den es selbst finanziert. Italien zahlt demnach für deutsche Massenverbrechen an seinen eigenen Bürgern.

Die Reparationsfrage

Griechenland hält an seinen Ansprüchen auf Reparationen und Entschädigung für die NS-Zerstörungen und -Massenverbrechen im Zweiten Weltkrieg fest. Dies hat Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis am gestrigen Donnerstag anlässlich von Gesprächen mit Bundeskanzler Olaf Scholz in der griechischen Hauptstadt bestätigt. Die Reparationsfrage "bleibt offen", hielt Mitsotakis ausdrücklich fest.[1] Athen fordert seit Jahrzehnten einen Ausgleich für die Verwüstungen, die die deutsche Besatzungsmacht im Zweiten Weltkrieg in Griechenland anrichtete, und für die Morde und die Massaker, die Deutsche damals begingen. Berlin verweigert dies unter Zuhilfenahme allerlei trickreicher Begründungen und wird dabei von deutschen Gerichten stets systematisch unterstützt (german-foreign-policy.com berichtete [2]). Das griechische Parlament hat die Schadenssumme vor einigen Jahren auf mehr als 288 Milliarden Euro beziffert; hinzu kommen elf Milliarden Euro aus einer Zwangsanleihe, die von den NS-Besatzern kassiert, aber niemals zurückgezahlt wurde. Darüber hinaus kursieren Schätzungen, die Entschädigungen für die zahllosen griechischen Opfer von NS-Massakern einbeziehen; sie liegen bei über 420 Milliarden Euro.[3] Kanzler Scholz bestätigte gestern in Athen Berlins Zahlungsverweigerung: "Juristisch und politisch ist die Reparationsfrage abgeschlossen."[4]

Das Ausmaß der Schuld

Bereits zu Monatsbeginn hat auch die Regierung Polens bekräftigt, dass sie nicht bereit ist, auf die Reparationsansprüche ihres Landes zu verzichten. Dies teilte Außenminister Zbigniew Rau anlässlich des Besuchs seiner deutschen Amtskollegin Annalena Baerbock am 3. Oktober in Warschau mit. Die polnische Regierung beziffert den Betrag, den Berlin zum Ausgleich für die materiellen Schäden, die Morde und die Massaker in Polen unter deutscher Besatzung zahlen muss, auf mehr als 1,3 Billionen Euro. Baerbock äußerte dazu - genauso wie Scholz gestern in Athen -, die Reparationsfrage sei aus deutscher Sicht "abgeschlossen". Diese Auffassung wird von der Bundesregierung seit je vertreten, und dies, wie im Fall der griechischen Ansprüche, ebenfalls mit mehr oder weniger trickreichen Begründungen - german-foreign-policy.com berichtete.[5] Rau gab sich jedoch am 3. Oktober zuversichtlich, "dass sich die Position der deutschen Regierung als Ergebnis des Dialogs weiterentwickeln wird": Schließlich gebe es kein Moralsystem sowie keine Rechtsordnung, "in der der Täter eines Verbrechens ermächtigt ist, unabhängig und allein das Ausmaß seiner Schuld, aber auch den Umfang und die Dauer seiner Verantwortung zu bestimmen".[6] Dass die Bundesregierung sich davon beeindrucken lässt, gilt als ausgeschlossen.

"Staatenimmunität" für NS-Verbrechen

Dies zeigt nicht zuletzt auch der Umgang Berlins mit Entschädigungsansprüchen aus Italien. Dort hatten sich Angehörige von Opfern eines deutschen Massakers im Zweiten Weltkrieg im Oktober 2008 vor dem Kassationsgerichtshof in Rom eine Entschädigung erstritten. Weitere Klagen hatten Aussicht auf Erfolg, als die Bundesregierung dagegen vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag vorging - und im Februar 2012 erreichte, dass dieser ihr Staatenimmunität zusprach. Dieses Prinzip untersagt es Privatpersonen, gerichtlich gegen hoheitliche Aktivitäten fremder Staaten vorzugehen. Demnach müssten NS-Verbrechen jetzt als hoheitliche Aktivitäten Deutschlands eingestuft und als sakrosankt behandelt werden. Der Kassationsgerichtshof in Rom hat dies im Oktober 2014 für mit der italienischen Verfassung unvereinbar erklärt, woraufhin bis zum Frühjahr 2022 gut zwei Dutzend weitere Verfahren angestrengt wurden; mittlerweile liegen rund 15 Urteile gegen Deutschland vor. Im Frühjahr ging es zudem in zwei Fällen bereits um Zwangsversteigerungen deutscher Liegenschaften in Italien, um die Entschädigungen zu finanzieren (german-foreign-policy.com berichtete [7]). Die Bundesregierung schaltete erneut den IGH ein - mit dem Ansinnen, dieser solle der italienischen Justiz jegliche Prozesse wegen NS-Verbrechen untersagen.[8]

Italien zahlt

Daraufhin hat die italienische Regierung reagiert - nicht etwa, indem sie der italienischen Justiz bei deren Vorgehen gegen NS-Verbrechen den Rücken stärkte, sondern indem sie die Bundesrepublik entlastete: Sie verabschiedete ein Gesetzesdekret, das die Gründung eines Entschädigungsfonds vorsieht; in diesen sollen bis zum Jahr 2026 55,4 Millionen Euro eingezahlt werden.[9] Aus ihm sollen Entschädigungen für Angehörige von NS-Opfern aufgebracht werden. Die Gelder kommen nicht aus Deutschland, sondern vom italienischen Staat. Die Antragsfrist lief Berichten zufolge bereits am gestrigen Donnerstag ab. In der italienischen Öffentlichkeit hat die bemerkenswerte Tatsache, dass nun Italien für deutsche Massenverbrechen an Italienern zahlen soll, für erhebliche Empörung gesorgt. Die deutsche Regierung hingegen - SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP - habe den Schritt "ausdrücklich mit Wohlwollen begrüßt", hieß es konsterniert in italienischen Berichten.[10] Im Bundestag hat die Bundesregierung vor kurzem erklärt, sie beabsichtige nicht, "sich am italienischen Entschädigungsfonds zu beteiligen". Dazu, einen eigenen, möglicherweise ergänzenden Fonds einzurichten, habe sie "keine ... Überlegungen angestellt".[11]

Teil des Corona-Wiederaufbaufonds

Der italienische Entschädigungsfonds ist, wie berichtet wird, in den Nationalen Plan für Aufbau und Resilienz (Piano Nazionale di Ripresa e Resilienza, PNRR) eingefügt worden, der eigentlich der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Erholung nach den harten Zeiten der Covid-19-Pandemie zugute kommen soll.[12] Der PNRR wird von der EU mit Zuschüssen in Höhe von 68,9 Milliarden Euro sowie darüber hinaus mit Darlehen in Höhe von 122,6 Milliarden Euro finanziert.[13]


Anmerkungen:

[1] PM Mitsotakis and German Chancellor Olaf Scholz press conference. en.protothema.gr 27.10.2022.

[2] S. dazu Reparationsabwehr aus der Trickkiste.
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/7959

[3] Stefan Talmon: Germany and Greece disagree over Germany war reparations stemming from the two World Wars. gpil.jura.uni-bonn.de 26.01.2021.

[4] Griechenland stationiert deutsche Schützenpanzer an Grenze zur Türkei. handelsblatt.com 27.10.2022.

[5] S. dazu Die Berliner Reparationsverweigerung.
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8034

[6] Gerhard Gnauck: Gratwanderung in Warschau. Frankfurter Allgemeine Zeitung 05.10.2022.

[7] S. dazu Folgenlose Kriegsverbrechen.
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8909

[8] Ulrich Steinkohl, Manuel Schwarz: NS-Kriegsverbrechen: Deutschland verklagt Italien wegen Entschädigungsforderungen. rsw.beck.de 02.05.2022.

[9] Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Sevim Dagdelen und der Fraktion Die Linke. Deutscher Bundestag, Drucksache 20/3283. Berlin, 02.09.2022.

[10] Giuseppe Scarpa: Pignorato a Roma il Goethe-Institut tedesco per risarcire una vittima delle SS. Ma spunta il decreto beffa: a pagare per i suoi morti sarà l'Italia. roma.repubblica.it 04.05.2022.

[11] Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Sevim Dagdelen und der Fraktion Die Linke. Deutscher Bundestag, Drucksache 20/3283. Berlin, 02.09.2022.

[12] Thomas Jansen, Matthias Rüb: Eine Klage unter Freunden. Frankfurter Allgemeine Zeitung 18.05.2022.

[13] Italiens Aufbau- und Resilienzplan. ec.europa.eu.

*

Quelle:
www.german-foreign-policy.com
Informationen zur Deutschen Außenpolitik
E-Mail: info@german-foreign-policy.com

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 28. Oktober 2022

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang