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BERICHT/013: Wie große Koalitionen zur Rechenschaft gezogen werden (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 125/September 2009
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Der Wähler als Auftraggeber
Wie große Koalitionen zur Rechenschaft gezogen werden können

Von Aron Kiss


Läuft ein Wahlergebnis auf die Bildung einer großen Koalition hinaus, sind die Wähler selten lange glücklich mit dieser Regierung. Anfänglich mag mit dem Bündnis der großen Parteien die Hoffnung verbunden sein, ohne störende Opposition könnten die großen Probleme des Landes angefasst werden. Mit der Zeit jedoch überwiegt die Unzufriedenheit über eine Politik des kleinsten gemeinsamen Nenners. Eine Untersuchung, die in der Forschungstradition des rationalen Wahlverhaltens in der Schnittmenge zwischen Politik- und Wirtschaftswissenschaft steht, hat gezeigt, worin die spezifischen Probleme der großen Koalition bestehen und warum sie schlechter ist als andere Koalitionsvarianten.

Koalitionsregierungen sind charakteristisch für Systeme mit Verhältniswahlrecht, in denen so viele Parteien im Parlament vertreten sind, dass die Parteienbündnisse mit jeder Wahl wechseln können. Durch Koalitionsregierungen wird ein großes Spektrum an Wählerpräferenzen berücksichtigt. Vor allem große Koalitionen werden als ein geeignetes Instrument gesehen, Kompromisse zwischen den wichtigen Gruppierungen einer Gesellschaft in schwierigen Politikfeldern zu formulieren. Eine große Koalition, auch Einheitsregierung genannt, kann als eine Art Versicherung der Wähler gegen das Eindringen radikaler Politikentscheidungen gelten, die nur von einer Seite des politischen Spektrums gewollt werden.

Andererseits werden Koalitionen oft als schwache Regierungen angesehen, die im Vergleich zu Einparteienregierungen instabiler sind. Außerdem ist empirisch belegt, dass sie mehr Schulden machen und ineffizientere Entscheidungswege haben. Begründet wird das mit der großen Zahl von Veto-Spielern in einer Koalition oder der Schwierigkeit, verbindliche Festlegungen zu erreichen, weil jeder Partner einen Anreiz hat, wieder aus der Koalition auszubrechen.

Eine Studie aus der WZB-Abteilung "Marktprozesse und Steuerung" integriert die Wahl, das Wählerverhalten und die mögliche disziplinierende Wirkung des Wiederwahl-Bestrebens in die Analyse von Koalitionen und ihren typischen Schwachstellen. Man kann eine Koalition als ein Team charakterisieren, das ein gemeinsames Produkt, die Regierungsleistung, erstellt. Die Forschung der politischen Verantwortlichkeit oder Rechenschaft (political accountability) untersucht, wie sich Regierungen von Wählern disziplinieren lassen. Sie verwendet die Prinzipal-Agent-Theorie. Der Wähler ist in dieser Analyse der Prinzipal, der seinen Agenten, den Politiker, mit der Regierung beauftragt. Er kann dessen Leistung beobachten, aber er kann keine direkte Kontrolle über ihn ausüben. Wohl kann er durch die Aussicht auf eine mögliche Wiederwahl einen Anreiz geben, gute Politik zu machen. In der spieltheoretischen Analyse von Politik werden Wähler als aktive Mitspieler angesehen, die ihre Wahl interessengeleitet treffen.

Der hier gewählte Zugang spiegelt die Tendenz in der modernen Wirtschaftswissenschaft wider, allen Teilnehmern an ökonomischen oder politischen Interaktionen zu unterstellen, sie würden versuchen, sich in dieser Situation optimal zu verhalten. Was die Wählermotivation angeht, betrachtet die Theorie politischer Rechenschaft das Wählen als einen rationalen und retrospektiven Akt. Wenn Wähler nach vorne schauen und bei der Wahl rational entscheiden, sind sie geleitet durch die Wahrnehmung vergangener Handlungen.

Es geht dem Wähler darum, den Politiker für gute Ergebnisse seiner Politik zu belohnen und für schlechte zu bestrafen, so dass er damit schon Verhaltensanreize schafft, bevor weitere Entscheidungen getroffen werden. Wenn Politiker also wissen, dass ihre Wiederwahl von Ergebnissen während ihrer Amtszeit abhängt, haben sie einen Anreiz, ihre Politik nach den Vorlieben der Wählerschaft auszurichten. So entsteht die paradoxe Lage, dass es vorausschauend ist, diese Anreize für Politiker zu schaffen, am Wahltag aber in die Vergangenheit geschaut wird und die politische Verantwortung für vergangenes Handeln bewertet wird. Das Sanktionsinstrument der Abwahl oder Wiederwahl hat Anreizwirkungen auf Politikentscheidungen innerhalb einer Koalition. Zu untersuchen ist, ob dadurch die festgestellten Ineffizienzen gemildert werden, ob es innerhalb der Koalition zu konstruktiven Wettbewerbswirkungen kommt oder eher zu negativen Effekten wie "Sabotage", wie sie die Turniertheorie beschreibt.

Die Wiederwahl einer Regierung ist abhängig von der vom Wähler wahrgenommenen Leistung der Regierung als Team. Dem Koalitionsteam wird sie wie ein Bonus, der ans gesamte Team geht, gewährt - oder auch verwehrt, wenn die Gesamtleistung nicht gestimmt hat. Alle Parteien einer Koalitionsregierung leisten ihren Beitrag zur Gesamtleistung der Regierung. Teil einer guten politischen Leistung könnte sein, dass sich alle für das effiziente Funktionieren des Staates einsetzen. Alle können ihr Bestes geben, müssen es aber nicht. Je mehr Regierungsmitglieder zu einer guten Politik beitragen, desto besser ist es für die Wähler.

Als schlecht könnte eine Leistung bewertet werden, wenn jedes Regierungsmitglied korrupt wäre. Diese beiden idealtypisch dargestellten möglichen Verhaltensweisen von Politikern wurden stellvertretend für viele, nicht beobachtbare Handlungsmöglichkeiten von Politikern hier modelliert, weil sie alle Wähler gleichermaßen betreffen würden. Im Modell des Prinzipals Wähler und des Agenten Politiker besteht eine Art Vertrag zwischen ihnen. In diesem ist festgelegt, dass die Wähler die Regierung wiederwählen, wenn die politischen Ergebnisse, die die Regierung beeinflussen kann, gut genug sind. Sonst wird die Opposition gewählt. Die ökonomische Vertragstheorie, die dies auch für andere Kontexte bewiesen hat, besagt, dass ein solcher Vertrag dem Koalitionsteam eine optimale Anreizstruktur bietet. Durch das Vorhandensein einer echten Wahlalternative ist die Disziplinierbarkeit auch einer Koalition aus mehreren Parteien gegeben, gleichermaßen wie bei einer Einparteienregierung. Das bedeutet, dass es einen Mechanismus gibt, durch den die festgestellten Ineffizienzen bei der Entscheidungsfindung in einer Koalition verringert werden. Das entscheidende ist dabei, dass die Regierung eine echte Opposition hat, die auch kurzfristig wählbar wäre.

Die Disziplinierbarkeit einer Koalition wird problematisch in einer Situation, in der sich eine Koalition verschiedener Parteien ergibt, zu der es keine echte mehrheitsfähige Alternative gibt, wie bei einer Großen Koalition, wie es sie etwa in Deutschland, Österreich, Israel und Italien gegeben hat und gibt.

Große Koalitionen formieren sich oft bei Auftreten von und in Abgrenzung zu extremen Parteien, die sich vom "Establishment" abgrenzen wollen. Die Mehrheit der Wähler wird wahrscheinlich diese extremen Parteien nicht wählen wollen. Daher ist die Situation dieselbe wie bei einer Regierungskoalition ganz ohne Opposition, die ohne Wahlalternative bleibt. Der Wähler ist also nicht in der Lage, denselben Plan wie oben dargestellt zu fassen, nämlich bei Unzufriedenheit die aktuelle Regierung beim nächsten Mal einfach aus dem Amt zu wählen.

Diese mangelnde Alternative und der fehlende Disziplinierungsmechanismus stellen das Kernproblem einer großen Koalition dar. Mindestens eine der beteiligten Parteien wird mit Sicherheit nach den nächsten Wahlen weiterregieren, und nur Teile der Regierung können abgewählt werden. Die große Koalition als Einheit kann in dieser Situation von den Wählern nicht als Ganzes belohnt oder bestraft werden. Der Wähler kann den Regierungspolitikern nur dann Anreize setzen, wenn er sich eine der Regierungsparteien heraussucht und für das Ergebnis des Regierungshandelns verantwortlich macht. In der hier beschriebenen abstrakten politischen Umgebung wenden Wähler eine Strategie an, die gegenüber der großen Koalition optimal ist: Die Wähler stimmen für eine bestimmte Partei, wenn die Leistungen der Regierung einen bestimmten Standard erreichen. Wenn die wahrgenommene Leistung der Regierung dahinter zurückbleibt, wählen sie bei der nächsten Wahl die andere Partei der großen Koalition.

Dies fördert Spannungen zwischen den Regierungsparteien. Denn nun hat eine Partei einen Anreiz, das Gesamtergebnis schmälern zu wollen und einen Sabotagewettkampf zu beginnen. Aber die Wähler akzeptieren die Aussicht, einen Koalitionskonflikt zu verursachen. Die Sabotageaktion mag soziale Kosten einer nicht optimalen Politik mit sich bringen. Dennoch begreifen die Wähler diese Kosten als den Preis, der zu zahlen ist, um selbst überhaupt in der Lage zu sein, der Regierung irgendeinen disziplinierenden Anreiz zu setzen. Dieses Ergebnis ist in der gegebenen Situation das Beste, was die Wähler erreichen können. Es ist möglicherweise viel schlechter als die Regierungsleistung, die sie unter einer normalen Koalitionsregierung erwarten können, aber wenigstens können sie so überhaupt ein positives Ergebnis erwarten.


Aron Kiss, ehemaliger Doktorand im Berlin Doctoral Program in Economics and Management Science und in der Abteilung "Marktprozesse und Steuerung" seit 2004, hat in Budapest und an der Humboldt-Universität zu Berlin studiert und wurde im Februar 2009 an der Freien Universität Berlin mit seiner Dissertation "Essays on Political Economy and International Public Finance" mit summa cum laude promoviert. Seit Ende 2008 arbeitet er im ungarischen Finanzministerium als "Forschender Ökonom".
kiss@wzb.eu


Literatur

Robert Barro, "The Control of Politicians: An Economic Model", in: Public Choice, Vol. 14, No.1, 1973, S. 19-42

Timothy Besley, Principled Agents? The Political Economy of Good Government, Oxford: Oxford University Press 2006, 280 S.

Kiss, Aron, "Coalitions and Political Accountability", in: Public Choice, Vol. 139, No. 3, 2009, S. 413-428

Eric Maskin, Jean Tirole, "The Politician and the Judge: Accountability in Government", in: American Economic Review, Vol. 94, No.4, 2004, S. 1034-1054


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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 125, September 2009, Seite 40 - 41
Herausgeberin:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
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Internet: http://www.wzb.eu

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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. September 2009