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BERICHT/018: Demokratiebarometer - Die Vermessung freier Gesellschaften (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 131/März 2011
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Die Vermessung freier Gesellschaften
Das Demokratiebarometer bietet ein differenziertes Bild

von Wolfgang Merkel und Marc Bühlmann


Folgte man seiner Intuition, würde man Finnlands Demokratie durchaus eine bessere Note geben als Italiens Demokratie unter Berlusconi. Nur - dies systematisch zu begründen ist nicht einfach. Die etablierten Demokratie-Rating-Agenturen Freedom House oder Polity helfen da nicht weiter. Bis vor kurzem wiesen sie auch Italien nur Bestnoten zu. Die USA scheinen a priori für die besten Bewertungen fest gebucht. Nahezu alle älteren Demokratien der OECD-Welt weisen bei Freedom House in den Skalen für political rights und civil rights die Bestnote auf. Dasselbe gilt für den Demokratieindex von Polity, der diesen Demokratien ebenfalls unisono die Höchstnote verleiht. Allein der unregelmäßig erscheinende und theoretisch kaum begründete Index des Economist macht deutliche Qualitätsunterschiede auch unter den besten Demokratien sichtbar. Es war also an der Zeit, ein Messinstrumentarium zu erarbeiten, das wissenschaftlichen Standards genügt und hinreichend sensibel ist, Qualitätsunterschiede für die besten Demokratien über Raum und Zeit zu erfassen.

Ein Forscherteam des WZB und der Universität Zürich hat nun ein Demokratiebarometer vorgelegt, das diese Standards erfüllt. Mit 100 Indikatoren wurden die weltweit besten 30 Demokratien systematisch vermessen. Dabei traten erhebliche Unterschiede in der Gesamtqualität der Demokratien und deren jeweiligen Stärken und Schwächen zutage.


Das Konzept

Demokratiemessungen müssen ihr Ausgangskonzept der Demokratie normativ wie theoretisch ausweisen. Daran fehlt es etwa bei Freedom House, Polity oder dem Economist. Das Team des Demokratiebarometers hat sich für ein Konzept "mittlerer Reichweite" entschieden. Das bedeutet, weder den Minimalisten, die schon freie und allgemeine Wahlen als hinreichend für die Demokratie ansehen, noch den Maximalisten zu folgen, die auch Politikergebnisse wie soziale Gerechtigkeit mit in die Definition von Demokratie einschließen.

Die Demokratiedefinition, die als Grundlage des Demokratiebarometers entwickelt wurde, bezieht zwar möglichst viele Institutionen, Organisationen, Verfahren und Akteure mit ein, schließt jedoch konkrete Politikergebnisse aus. Berücksichtigt werden die formalen gesetzlichen Grundlagen, aber auch die tatsächliche demokratische Praxis. So ist es beispielsweise nicht nur relevant, dass Wahlen frei, allgemein und fair sind. Es ist auch von erheblicher demokratischer Bedeutung, wer wählt und welche sozialen Ausgrenzungsmuster gegebenenfalls zu erkennen sind. Wenn etwa untere Schichten, Frauen, ethnische oder religiöse Minderheiten sich dauerhaft weniger bei Wahlen und anderen politischen Partizipationsformen beteiligen oder stark unterproportional in Parlament und Regierung repräsentiert sind, schlägt das negativ zu Buche, weil es die politische Gleichheit effektiv beeinträchtigt. Je besser alle Bürger beteiligt werden, desto demokratischer, heißt hier die demokratische Regel - und vice versa.

Auf der Basis dieses Konzepts hat das Projektteam über mehrere miteinander verknüpfte Schritte ein theoretisch fundiertes Messinstrument der Demokratie entwickelt. Ausgangspunkt bilden dabei drei fundamentale Prinzipien: Freiheit, (politische) Gleichheit und Kontrolle. Demokratische Systeme müssen eine Balance zwischen den Prinzipien "Freiheit" und "Gleichheit" herstellen und sich dazu einer dritten Dimension bedienen, der Kontrolle. Herrschaftskontrolle ist einer der Kardinalunterschiede zwischen der Demokratie und der Autokratie mit ihrer tendenziell unkontrollierten Machtausübung.

Diese drei Grundprinzipien der Demokratie diktieren, welche Funktionen eine Demokratie zu erfüllen hat. Neun zentrale Demokratiefunktionen sind zu sehen:

Demokratiequalität

Prinzip Freiheit
mit den Funktionen:
- Individuelle Freiheiten
- Rechtsstaatlichkeit
- Öffentlichkeit

Prinzip Kontrolle
mit den Funktionen:
- Wettbewerb
- Gewaltenkontrolle
- Regierungsfähigkeit

Prinzip Gleichheit
mit den Funktionen:
- Transparenz
- Partizipation
- Repräsentation

Demokratiebarometer-Konzeptbaum (Ausschnitt)
Quelle: www.democracybarometer.org/baroapp/public/static/index


Theoretisch ist es zwar wünschenswert, alle Funktionen gleichzeitig optimal erfüllt zu sehen. In der Praxis ist das jedoch kaum möglich, da einzelne Funktionen bisweilen auch in einer Spannung zueinander stehen.

Von diesen neun Funktionen werden wiederum Komponenten und dann Subkomponenten abgeleitet, die schließlich mittels verschiedener Indikatoren gemessen werden. Insgesamt besteht das Demokratiebarometer also aus drei Prinzipien, neun Funktionen, 18 Komponenten, 51 Subkomponenten und 100 Indikatoren. So wird etwa die Funktion Gewaltenkontrolle in die beiden Komponenten wechselseitige Kontrolle von Parlament und Exekutive sowie "zusätzliche Instrumente der Gewaltenkontrolle" zerlegt. Unter solchen zusätzlichen Instrumenten werden die Kontrollmöglichkeiten des Verfassungsgerichts, die Ausprägung des Föderalismus sowie die Finanzautonomie der nachgeordneten Gebietskörperschaften mit in die Bewertung einbezogen. Zur endgültigen Messung dieser Subkomponenten wurden zehn Indikatoren ausgewählt. Darunter sind einfache Indikatoren wie der Anteil der Ausgaben der Gebietskörperschaften an den staatlichen Gesamtausgaben, aber auch eingeführte komplexe Indikatoren wie der Balance of Powers Index, der mehrere einzelne Sachverhalte zusammenfasst.


Der internationale Vergleich

Vergleicht man die Demokratiequalität der Länder in einem einzigen aggregierten Index, lassen sich für den Zeitraum 1995 bis 2005 folgende, teilweise überraschende Ergebnisse festhalten. Der Vergleich zeigt deren unterschiedliche Stärken und Schwächen. Sie sind häufig mit spezifischen historischen Traditionen, institutionellen Pfaden oder den jeweiligen Wertepräferenzen der Bürger zu erklären. Einige Ergebnisse wie die schlechte Platzierung Italiens waren zu erwarten. Andere Ergebnisse überraschen, wie der gute 3. Rang Belgiens und die Plätze 26 bzw. 27 für Großbritannien und Frankreich. Überraschend ebenfalls: Die Schweiz ist nur Mittelmaß (Rang 14) und liegt hinter Deutschland (Rang 11). Einige dieser Ergebnisse sollen hier kurz vorgestellt werden.


Demokratiequalität im Zeitvergleich (1995-2005)
Land
1995
2000
2005
1995-2005
Dänemark
Finnland
Belgien
Island
Schweden
Norwegen
Kanada
Niederlande
Luxemburg
USA
Deutschland
Neuseeland
Slowenien
Schweiz
Irland
Portugal
Spanien
Australien
Ungarn
Österreich
Tschechische Republik
Italien
Zypern
Malta
Japan
Großbritannien
Frankreich
Polen
Südafrika
Costa Rica
1
2
3
6
5
4
8
7
11
9
10
14
12
19
13
15
17
16
20
18
21
22
23
24
26
28
25
27
29
30
2
1
3
4
5
6
7
8
9
10
12
11
15
13
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30
1
2
3
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5
6
7
8
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21
22
23
24
25
26
27
28
29
30

Belgien
Die große Schwäche der Demokratie Belgiens ist offensichtlich: Aufgrund der linguistischen Spaltung des Landes und des Parteiensystems ist die belgische Demokratie von der Instabilität seiner Regierungen betroffen. Dies wird als negativ im Demokratiebarometer vermerkt, ebenso wie einige rechtsstaatliche Defizite. Gut schneidet Belgien aber bei anderen wichtigen Demokratiefunktionen ab, wie dem politischen Wettbewerb, den die vielen Parteien garantieren. Der Zugang zur parlamentarischen Repräsentation ist offen und nicht durch das Wahlsystem und die institutionelle Diskriminierung neuer politischer Formationen verengt. Legislative und Exekutive kontrollieren sich wechselseitig besser als in den meisten Demokratien. Die Öffentlichkeit ist pluralistisch und die Gesellschaft über starke Verbände ausgesprochen artikulationsfähig. Die Gesetze zur Parteienfinanzierung und zur Informationsfreiheit sind klar und garantieren eine hohe Transparenz. Die Partizipation ist intensiver als in den meisten anderen Ländern und sozial viel weniger selektiv. Die unteren Schichten partizipieren stärker als in den meisten anderen Ländern. Dies ist auch auf die Wahlpflicht zurückzuführen.

Schweiz
Die Schweiz erweist sich in der Garantie individueller Freiheiten, aktiver Öffentlichkeit, Wettbewerb und Regierungsfähigkeit als ein demokratisches Musterland. Gewaltenkontrolle, Transparenz und Partizipation werden aber nur sehr schlecht umgesetzt. In der Schweiz kann die Legislative die Regierung kaum kontrollieren; der Judikative mangelt es im Vergleich mit anderen Demokratien an Unabhängigkeit. Die Parteienfinanzierung bleibt wenig transparent. Bis 2005 gab es keine gesetzliche Garantie der Informationsfreiheit. Die politische Beteiligung ist in der Schweiz besonders ungleich. Ein großer Teil der Schweizerinnen und Schweizer beteiligt sich nicht an der Politik. Diejenigen aber, die sich politisch beteiligen, sind vor allem die Gebildeten, Wohlhabenden, Älteren und überproportional Männer. Vom Ideal einer Demokratie politisch Gleicher, in der alle Bürgerinnen und Bürger sich politisch engagieren und deren Interessen und Werte gleichmäßig in die staatlichen Entscheidungen einfließen, ist die Schweiz weiter als die meisten anderen Demokratien entfernt.

Großbritannien
Die britische Demokratie, das Mutterland des Parlamentarismus, hat mehr Schwächen als Stärken. Aufgrund des Mehrheitswahlrechts kommt es zu starken Verzerrungen zwischen Wählerstimmen und tatsächlichen Parlamentssitzen. Die Exekutive dominiert; das Parlament spielt bei funktionierender Fraktionsdisziplin nur eine sekundäre Rolle. Eine verfassungsgerichtliche Kontrolle von Legislative und Exekutive existiert nicht. Das Mehrheitswahlrecht führt zu einem Zwei- bis Drei-Parteienkartell, gegen das kleine und neue Parteien kaum eine Chance haben. Das Presseangebot ist weniger vielfältig und ideologisch weniger ausbalanciert als in den meisten anderen Demokratien. Das Vertrauen in Rechtsstaat und Polizei nimmt ab, die staatliche Überwachung höhlt die individuellen Schutzrechte der Bürger aus.

Deutschland
Deutschland nimmt im Demokratiebarometer einen komfortablen 11. Rang ein. In keiner der neun demokratischen Funktionen gibt es einen dramatischen Einbruch. Zwei Schwachstellen vermitteln die Daten allerdings für die Funktionen der Repräsentation und der Öffentlichkeit. Bei der Repräsentation liegt Deutschland nur auf dem 22., bei der Öffentlichkeit auf dem 19. Rang. Im internationalen Vergleich sind in Deutschland Frauen in Parlament und Regierung zahlenmäßig schwächer vertreten als im Durchschnitt der anderen 30 Länder. Der faktische Zugang von ethnischen Minderheiten, vor allem von Immigranten zum Wahlrecht und dann zu den gewählten repräsentativen Versammlungen ist enger und hürdenreicher als im Durchschnitt der anderen Länder. Fortschritte hat Deutschland hier allerdings mit der Reform des Staatsbürgerrechts seit dem Jahr 2000 zu verzeichnen. Die Sphäre der Öffentlichkeit, also die Arena, in der sich die Gesellschaft artikuliert und selbst reflektiert, ist in Deutschland unterdurchschnittlich entwickelt. Dies betrifft vor allem die kollektive Organisierung über Gewerkschaften, Berufsverbände, Nichtregierungsorganisationen, aber auch das Angebot der Medien, das über die Auflage der Zeitungen pro Einwohner und den Import ausländischer Presserzeugnisse gemessen wird.

Ebenfalls erwartungsgemäß ist das durchschnittliche Abschneiden Deutschlands bei jenen Funktionen, die das Prinzip der "politischen Gleichheit" messen. Während der Zugang zu politischen Entscheidungen leicht asymmetrisch ist und deren Transparenz geringer ist als im Länderdurchschnitt, schneidet Deutschland bei den Indikatoren, die die politische Partizipation erfassen, sichtbar besser ab.

Das Charakteristikum der deutschen Demokratie ist ihre Durchschnittlichkeit. Auch über den Vergleichsraum von 1995 bis 2005 besticht sie durch Beständigkeit. Bei den Prinzipien der Freiheit und Gleichheit gilt diese beständige Durchschnittlichkeit besonders. Entgegen einer landläufigen Meinung ist die individuelle Freiheit in Deutschland aber keineswegs geringer ausgeprägt als die politische Gleichheit. Nur bei der Herrschaftskontrolle ist Deutschland deutlich besser positioniert als die meisten Vergleichsländer. Dies ist vor allem auf die Vorkehrungen des Grundgesetzes zurückzuführen, das der Exekutive unter anderem mit dem Bundesverfassungsgericht, dem Bundestag sowie dem Föderalismus und seiner zweiten Kammer wirksame Kontrollen und Vetospieler an die Seite gestellt hat. Das Kennzeichen der deutschen Demokratie ist Stabilität, Ausgeglichenheit und Durchschnittlichkeit. Dies ist nicht wenig, sieht man sich etwa die Beschädigungen an, die Silvio Berlusconi und George W. Bush ihren Demokratien zugefügt haben.

Eine Krise der Demokratie, also ein kontinuierlicher Rückgang der Demokratiequalität, wie bisweilen von den Medien suggeriert, lässt sich bei systematischer Betrachtung nicht erkennen. Im Gegenteil: Fasst man die Demokratiequalität aller 30 Länder zusammen, so zeigt sich von 1995 bis 2000 eine Zunahme der Demokratiequalität, die zwischen 2000 und 2005 zwar wieder leicht abnahm, aber 2005 noch immer auf einem höherem Niveau lag als 1995.

Werden wiederum alle Länder gemeinsam betrachtet, zeigt sich eine Zunahme der Qualität von Transparenz und Repräsentation. Dies lässt sich unter anderem auf eine immer bessere Einbindung der Frauen in den politischen Prozess und die zunehmende Transparenz zurückführen, wie sie von den Bürgern, Rechnungshöfen, Ombudsleuten, NGOs und Medien geradezu erzwungen wird. Auf der anderen Seite verliert die Rechtsstaatlichkeit aufgrund zunehmender Ungleichbehandlung von Minderheiten an Boden. Auch hier treten in den einzelnen Ländern starke Unterschiede hervor. Positive Entwicklungen zeigen sich etwa in jüngeren Demokratien wie Südafrika und Zypern, die hinsichtlich des Ausbaus und des Schutzes individueller Freiheiten stark aufholen, während in den USA des George W. Bush oder dem Italien des Silvio Berlusconi ein Rückgang zu verzeichnen ist.

Dies ist allerdings nur die Oberfläche. Die eigentliche Forschung beginnt erst jetzt. Mit dem Demokratiebarometer, das von 2012 an sogar 60 Länder umfassen wird, verfügt die wissenschaftliche Öffentlichkeit über einen Datensatz, mit dem nun etwa die politische, wirtschaftliche und soziale Leistungsfähigkeit von Demokratien im Zusammenhang der jeweiligen Stärken und Schwächen der Demokratien systematisch untersucht werden kann.


Wolfgang Merkel (WZB) und Marc Bühlmann (Universität Zürich) haben während der ersten drei Jahre das Projekt Demokratiebarometer geleitet. Auf Zürcher Seite hat Anfang 2011 Daniel Bochsler die Leitung übernommen. Dem Team gehören außerdem als feste Mitarbeiter an: Lisa Müller und Sonia Hänn (beide Universität Zürich) sowie Heiko Giebler und Bernhard Weßels (WZB). Das Projekt wird auf 12 Jahre vom Schweizer Nationalfonds finanziert und gehört dem Forschungsverbund NCCR (National Center of Competence and Research) der Universität Zürich an. Die hier vorliegende Zusammenfassung geht auf die Vorarbeiten des gesamten Teams zurück.


Literatur

Bühlmann, Marc/Merkel, Wolfgang/Müller, Lisa/Giebler, Heiko/Weßels, Bernhard: "Demokratiebarometer. Ein neues Instrument zur Messung von Demokratiequalität". In: Zeitschrift für vergleichende Politikwissenschaft, 2011, im Erscheinen.

Demokratiebarometer (2011): http://www.democracybarometer.org/baroapp/public/static/index (Stand: 15.02.2011).


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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 131, März 2011, Seite 34 - 37
Herausgeberin:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
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Tel.: 030/25 49 10, Fax: 030/25 49 16 84
Internet: http://www.wzb.eu

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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. September 2011