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INNEN/1714: Wahrnehmung und Wirklichkeit in der deutschen Einwanderungsgesellschaft (DJI Impulse)


DJI Impulse
Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 1/2014 - Nr. 105

Wahrnehmung und Wirklichkeit in der deutschen Einwanderungsgesellschaft

Von Dietrich Thränhardt



Deutschland ist spätestens seit den 1960er-Jahren ein Einwanderungsland. Während die soziale Integration besser gelang als in vielen europäischen Nachbarländern, bleibt die Einwanderungs- und Asylpolitik immer noch sehr inkonsistent.


Seit der "Gastarbeiter"-Ära in den 1950er- und 1960er-Jahren gab es Diskrepanzen in der deutschen Einwanderungspolitik: Einerseits erhielten Zuwanderinnen und Zuwanderer gleiche Löhne, gleiche Rechte in den Sozialversicherungen und seit 1972 auch das Wahlrecht bei den Betriebsratswahlen. Die Migrantinnen und Migranten gehörten rasch zur "Kernarbeiterschaft" der deutschen Industrie und organisierten sich in den Gewerkschaften. Andererseits blieb lange Zeit der Mythos der Rückkehr erhalten - sowohl bei den staatlichen Behörden als auch bei den Einwanderinnen und Einwanderern selbst. Während der Kanzlerschaft von Helmut Kohl (1982-1998) wurde immer wieder hervorgehoben, dass Deutschland "kein Einwanderungsland" sei. Gleichzeitig kam es aber vor allem in den Jahren 1986 bis 1994 zu großen Zuwanderungen von deutschstämmigen Aussiedlerinnen und Aussiedlern aus Polen, Rumänien und der damaligen Sowjetunion, aber auch Flüchtlinge aus der Türkei und dem zerfallenden Jugoslawien, nachziehende Familienangehörige und natürlich auch EU-Bürgerinnen und -Bürger. Die Zahl der Ausländerinnen und Ausländer verdoppelte sich in diesen Jahren auf sieben Millionen.

Das Thema Migration wurde in Deutschland in vielfacher Weise negativ besetzt. Helmut Kohl stellte seit 1991 das Asylrecht in Frage. Auch der saarländische Ministerpräsident Oskar Lafontaine, 1990 Kanzlerkandidat der SPD, problematisierte den Zuzug von Aussiedlerinnen und Aussiedlern. Die Medien schilderten von Anfang an den Zuzug von Migrantinnen und Migranten als Problem. Dass sie von Jahr zu Jahr besser deutsch sprachen, sich in deutschen Vereinen ebenso wie in eigenen Gruppen engagierten, in den Unternehmen und in der Freizeit immer mehr Kontakte zur deutschen Bevölkerung zustande kamen und sich viele trotz Wahrung eigener Traditionen in der deutschen Lebenswirklichkeit immer mehr zu Hause fühlten, wurde regelmäßig in empirischen Studien dargestellt und bestätigt. Die Öffentlichkeit nahm diese positiven Entwicklungen aber kaum zur Kenntnis.

Erst nach dem Regierungswechsel im Jahr 1998 veränderte sich die Wahrnehmung über die Einwanderungsrealität. Die rot-grüne Koalition versuchte, die doppelte Staatsangehörigkeit gesetzlich zu verankern. Sie erlitt mit diesem Vorhaben nach ihrem Wahlsieg 1998 eine schwere Niederlage bei der hessischen Landtagswahl 1999. Grund dafür war nicht zuletzt die Kampagne der CDU gegen den "Doppelpass". Um ihre Kampagne abzufedern, sprach sich die CDU aber auch für mehr "Integration" aus. Seitdem existiert in Deutschland ein Konsens über die Notwendigkeit der Integration von Zuwanderinnen und Zuwanderern.

Dass Kinder von Ausländerinnen und Ausländern, die seit acht Jahren in Deutschland leben, die deutsche Staatsangehörigkeit erwerben (Geburtsrecht), ist inzwischen grundsätzlich unbestritten. Nach dem Koalitionsvertrag vom 14.12.2013 zwischen CDU/CSU und SPD fällt auch die Optionspflicht - die Kinder müssen sich also nicht mehr für die deutsche oder eine andere Staatsangehörigkeit entscheiden. Die "Green Card"-Initiative von Bundeskanzler Gerhard Schröder im Jahr 2000 zur Anwerbung von IT-Spezialisten verknüpfte Zuwanderung mit wirtschaftlicher Effizienz. Schließlich kam es im Jahr 2005 zur Verabschiedung eines Zuwanderungsgesetzes, das einen neuen einheitlichen Rechtsrahmen schuf, gleichzeitig aber dazu beitrug, die Zuwanderung zu reduzieren.


Deutschland ist wieder das wichtigste Zuwanderungsland Europas

Seit 2011 ist Deutschland wieder das wichtigste Zuwanderungsland in Europa. Im Jahr 2012 kamen 74 Prozent der Immigrantinnen und Immigranten in der EU aus anderen EU-Ländern. Ein Großteil von ihnen stammte aus den neuen Mitgliedstaaten: 69.900 aus Polen, 45.812 aus Rumänien, 26.208 aus Ungarn und 25.121 aus Bulgarien. Erst danach folgten Italien mit 21.716 und Spanien mit 20.539 Zuwanderinnen und Zuwanderern. Der freie europäische Migrationsraum - eine weltweit einmalige Errungenschaft - entfaltet seine interne Dynamik, während die Einwanderung aus Nicht-EULändern beschränkt bleibt.

Gleichzeitig hat der Auswanderungsüberschuss in Richtung Türkei zwischen 2011 und 2012 zugenommen - von 1.735 auf 4.147 Personen. Es sind also deutlich mehr Menschen aus Deutschland in die Türkei eingewandert als umgekehrt. Diese Bilanz ist allerdings noch nicht ins öffentliche Bewusstsein eingedrungen. Noch im Februar 2013 bezeichnete der damalige Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) die Türkei als das "Ursprungsland erheblicher Wanderungsbewegung nach Deutschland". Das entspricht aber nicht den Tatsachen. In den vergangenen Jahrzehnten verringerten sich sowohl die Zuwanderungs- als auch die Abwanderungszahlen zwischen Deutschland und der Türkei. Sie betragen inzwischen nur noch etwa ein Prozent der türkischstämmigen Bevölkerung in Deutschland und treten mit etwa 30.000 Hin- und Her-Wanderern gegenüber den EU-internen Wanderungen zahlenmäßig zurück.


Großer Bearbeitungsstau bei Asylanträgen

Die Tragödien vor der italienischen Insel Lampedusa, bei der mehrere Hundert Flüchtlinge ertrunken sind, haben die Situation von Flüchtlingen wieder stärker ins Bewusstsein gebracht. Zugleich gibt es vielerorts in Deutschland heftige Diskussionen über bestehende und neu zu errichtende Flüchtlingsunterkünfte. Nach der gegenwärtigen deutschen Rechtsordnung ist der Bund für die Entscheidungen über Asylanträge zuständig, die Länder und Kommunen dagegen für die Unterbringung und Versorgung. Seit 2008 hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Jahr für Jahr weniger Anträge bearbeitet, als Neuanträge eingegangen sind. Dadurch haben sich über die Jahre immer mehr unbearbeitete Asylanträge aufgestaut. Dieser Effekt entstand nicht erst mit den hohen Antragszahlen aus den Jahren 2012 und 2013, sondern schon vorher.

Das Innenministerium nahm diese Entwicklung hin. Erst der Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD vom Dezember 2013 kündigt eine entscheidende Aufstockung des Personals an. Die entstehenden Kosten fallen bisher bei den Ländern und Kommunen an. Hinzu kommen die Kosten durch die Errichtung neuer Unterkünfte. Dies verlangt viel Energie und Überzeugungsarbeit auf der örtlichen Ebene, die besser in die endgültige Integration der Flüchtlinge investiert werden könnte. Vor allem aber ist der Bearbeitungsstau der Asylanträge eine Belastung für die Flüchtlinge selbst. Sie sind unnötigerweise gezwungen, sieben statt drei Monate in überfüllten Unterkünften zu verbringen - unsicher darüber, was ihre Lebensperspektive sein wird. Zudem verändern sich mit den langen Wartezeiten auch die Zusammensetzung der Asylbewerberschaft und die Qualität des Prüfungsprozesses. Flüchtlinge mit Aussicht auf Anerkennung bleiben länger im Ungewissen, etwa Flüchtlinge aus dem Iran und aus Syrien. Für Schleuserinnen und Schleuser ergeben sich daraus Anreize, Personen nach Deutschland zu bringen, die keinerlei Aussichten auf Asyl haben - beispielweise Menschen aus Serbien oder Mazedonien. Merkwürdigerweise wurde der Bearbeitungsstau bei Asylanträgen kaum in der Öffentlichkeit diskutiert. Stattdessen kam es um die Jahreswende 2013/14 zu einer Debatte über rumänische und bulgarische "Armutszuwanderinnen und -zuwanderer".

Die gesellschaftliche Wirklichkeit und die Wahrnehmung von Migration und Integration sind keineswegs deckungsgleich. Immer wieder entstehen im öffentlichen Diskurs ausgrenzende Fremdbilder zu bestimmten Migrantengruppen. Ihre Funktion ist es, die eigene Gesellschaft im Vergleich als besonders positiv herauszustellen. Frühere Einwanderungsprozesse werden im Nachhinein als sehr viel unproblematischer dargestellt. So ist es heute kaum mehr vorstellbar, dass es in den 1960er-Jahren eine Fülle von ausgrenzenden Witzen und Geschichten über Italienerinnen und Italiener gab. Für die heutigen Einwanderinnen und Einwanderer ist das problematisch, da es Gräben aufreißt. Glücklicherweise werden viele Feindbilder und Negativklischees später wieder vergessen und im Rückblick harmonisiert.


DER AUTOR

Prof. em. Dr. Dietrich Thränhardt war 1980-2008 Professor für Vergleichende Politikwissenschaft und Migrationsforschung an der Universität Münster. Er ist Koordinator des "Mediendienstes Migration".
Kontakt: thranha@uni-muenster.de


DJI Impulse 1/2014 - Das komplette Heft finden Sie im Internet als PDF-Datei unter:
www.dji.de/impulse

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Quelle:
DJI Impulse - Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 1/2014
Nr. 105, S. 4-6
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Mai 2014