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MEDIEN/361: Kulturzynismus als politische Gefahr (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 4/2009

MEDIENSPIEGEL
Kulturzynismus als politische Gefahr
25 Jahre Privatfernsehen

Von Albrecht von Lucke


1984 gingen in Deutschland SAT 1 und RTL plus (heute RTL Television) auf Sendung. 25 Jahre später jubilieren die Zeitgeistintellektuellen, an ihrer Spitze der unvermeidbare Medienprofessor Norbert Bolz: "Die Einführung des Privatfernsehens war ein Segen für die deutsche Kultur. Das ist eine echte Kulturrevolution, die der 68er-Bewegung ebenbürtig ist."


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In der Tat, die Einführung des Privatfernsehens steht für einen Strukturwandel der Öffentlichkeit, der in seinen politischen Konsequenzen bisher kaum hinreichend begriffen wurde. Doch für Jubel besteht kein Anlass, im Gegenteil: Die Etablierung der kommerziellen Sender bedeutet einen radikalen Bruch mit den Traditionen der Bonner Republik. Wollte man doch von einer "geistig-moralischen Wende" der Kohl-Ära sprechen, die ja vermeintlich an der Deutungshoheit der 68er scheiterte, man könnte dies mit guten Argumenten in diesem Zusammenhang tun.

Die vielleicht wichtigste politische Errungenschaft der alten Bundesrepublik bestand in ihrer funktionierenden und engagierten Öffentlichkeit. Die klärende Auseinandersetzung streitbarer Intellektueller mit den regierenden Politikern bescherte dem Land erst seine demokratische Kultur. Die Medien spielten dabei eine entscheidende Rolle, anfänglich auch und gerade das Fernsehen. In den Gründungsjahren war es etwa die Übertragung des WM-Endspiels von 1954, das maßgeblich zur Entstehung eines neuen bundesrepublikanischen Selbstbewusstseins beitrug. Manche Beobachter bezeichnen deshalb das "Wunder von Bern" als den eigentlichen mentalen Gründungsmoment der Republik.

Auch im engeren politischen Sinne war das Fernsehen prägend. Zu Anfang stellten die Übertragungen der großen Bundestagsdebatten erste Ein- und Lockerungsübungen in gelebter Demokratie dar. Und noch vor genau 30 Jahren sorgte die Ausstrahlung der ersten Fernsehserie über den Holocaust für Einschaltquoten von weit über 50%. Von den Jungen Bundesbürgern (zwischen 14 und 29 Jahren) schalteten 68% mindestens einen Teil der Serie ein; selbst bei den über 60-Jährigen war es noch fast die Hälfte. Zwei Drittel der Zuschauer zeigten sich tief erschüttert, etwa zwei Fünftel äußerten Scham darüber, dass Deutsche solche Verbrechen begangen hatten. Auf diese Weise löste eine TV-Serie die erste, die gesamte Gesellschaft ergreifende Auseinandersetzung über die Zeit des Nationalsozialismus aus. Der Begriff Holocaust wurde zum (inzwischen weltweit) geläufigen Synonym für die industrielle Judenvernichtung durch das NS-Regime. Gleichzeitig hatte dieser Vorgang unmittelbare Rückwirkungen auf die Geschichtswissenschaft, die sich ernsthaft mit ihren Vermittlungsdefiziten beschäftigen musste. Kurzum: Das Fernsehen diente der Artikulation und politischen Auseinandersetzung der Bürger, die sich allabendlich vor den beiden öffentlich-rechtlichen Kanälen versammelten.


Selbstverschuldetes Unglück

Heute wäre ein derartiges Ereignis undenkbar, ist das Fernsehen seiner volkspädagogischen Bedeutung weitgehend verlustig gegangen. Mit der Einführung des Privatfernsehens begann die radikale Kommerzialisierung, aber auch die leichtfertige Verabschiedung seiner aufklärerischen Rolle - schon weil sich die Massen nicht mehr gemeinsam vor dem einen Sender virtuell versammeln, sondern auf Dutzenden von Kanälen verlieren.

Für Norbert Bolz ist dies ein Grund zum Jubilieren: "Fernsehen ist heute eine Ware. Sender verstehen sich als Marken und konzentrieren ihr Marketing auf Kultsendungen. Die Zeit der Aufklärung und Kritik ist also vorbei. Den einzig wahren Souverän anerkennt in aller Ehrlichkeit nur das Privatfernsehen: die Quote."

Faktisch wird damit der eigentliche, demokratische Souverän von den Propagandisten des Privatfernsehens bereitwillig entmachtet - zugunsten der allabendlichen Abstimmung mit dem Zapp-Gerät der TV-Konsumenten. Man merke: Wo "Gleichheit" und "Demokratie" nichts kosten, wie beim Fernsehkonsum, werden sie von Neoliberalen gerne propagiert. Doch hinter dem Primat der Quote verbirgt sich eine erstaunliche "Tyrannei der Mehrheit". Indem die Mehrheit mit ihrer Entscheidung via Fernbedienung auch über das Niveau der Sendungen bestimmt, führte sie in den vergangenen 25 Jahren zu einer sich selbst verstärkenden Senkung der Qualität - mit Auswirkungen längst auch auf die öffentlich-rechtlichen Anbieter.

Die Ironie dabei: Anders als bei Alexis de Toqueville vorhergesagt, geht diese Tyrannei der Mehrheit letztlich nicht zu Lasten der überstimmten Minderheit, sondern eben jener Mehrheit selbst. In ihrem eigenen privaten TV-Ghetto kann die in Zeiten der Krise weiter wachsende Unterschicht sich immer mehr von jenen notwendigen Informationen abschotten, die wirkliche Teilhabe an den politischen Geschäften der Demokratie erst ermöglichen. Gleichzeitig setzen sich die Bessergebildeten medial nach "oben" hin ab - in Richtung ARD und ZDF, 3sat oder Arte.


Postaufklärerische Obszönität

Bemerkenswerterweise wird das Privat-TV heute gerade von solchen vermeintlichen Kultureliten gefeiert, die ansonsten die zunehmende Verblödung und Dekadenz beklagen - und sich selbst längst von der breiten Masse abgewendet haben. Oder wollte irgendjemand bezweifeln, dass Norbert Bolz als selbsternannter "Held der Familie" (vgl. Medienspiegel 4/2008) die erforderlichen Vorkehrungen trifft, um seine vier Kinder vor den bereits mittäglichen Schlachtfesten auf RTL II oder Pro 7, "Talkshows" genannt, zu schützen? Und auch der Supernanny, Dieter Bohlen oder irgendwelchen Dschungelcamps dürfte er seinen eigenen Nachwuchs schwerlich aussetzen.

Und hier beginnt das eigentlich Obszöne: Die post-aufklärerischen Intellektuellen bejubeln den medialen Circus Maximus, in dem die Unterschichtsangehörigen täglich gegeneinander antreten und ihre Schlachten austragen, derweil sie ansonsten nur verächtlich auf die Kostgänger des Sozialstaats herabschauen. Was Bolz von diesen Menschen wirklich hält, verriet er bereits 2007 im elitär-konservativen Merkur. In seinem Aufsatz "Die Religion des Letzten Menschen" wettert er gut nietzscheanisch gegen den "Insektentypus" des gegenwärtigen Posthistoire. Der Schuldige für die angebliche Verzwergung des Menschen ist schnell gefunden: Es ist die herrschende Dekadenz, die sich hinter Begriffen wie soziale Gerechtigkeit verberge: "Dekadenz heißt politisch: die soziale Frage." Der "Schlaf der wohlfahrtsstaatlichen Vernunft" gebäre das total-versorgende "Ungeheuer einer Welt als Kinderkrippe und Altersheim". Alles bloß Bepamperung, von der Wiege bis zur Bahre: In dieser Welt, die allzu sehr an den Kohlschen "Freizeitpark" erinnert, herrsche mit Nietzsche "die autonome Heerde", sprich, jetzt wieder ganz radikal mit Bolz: "Menschlich ist das, was der Mensch nicht mehr ist."


Brot und Spiele

Die laut Bolz realexistierenden Letzten Menschen, die, frei nach Nietzsche, nur noch in der Sonne liegen und blinzeln, wissen nach Ansicht unserer Kulturästheten schon lange nicht mehr, was wahre Sehnsucht, wahres Leid ist. Anstatt diesem Zustand jedoch Abhilfe zu schaffen, werden sie durch das Lob des Privatfernsehens geradezu stillgestellt. Mit "Brot und Spielen" überlässt man die Unterklasse ihrem Schicksal. Und zugleich ist das tägliche Bashing, ob beim Survival of the fittest im RTL-Dschungel oder bei Dieter Bohlens Pöbeltiraden, die beste Einübung in den herrschenden Sozialdarwinismus.

Im Jahre 1961 warnte Fritz Stern in seiner heute schon klassischen gleichnamigen Studie vor "Kulturpessimismus als politischer Gefahr". Heute dagegen müssen wir uns weit mehr vor dem antiaufklärerischen Kulturzynismus in Acht nehmen.


Albrecht von Lucke (* 1967) ist Redakteur der Blätter für deutsche und internationale Politik in Berlin. Im Februar ist im Wagenbach Verlag sein neues Buch erschienen: Die gefährdete Republik. Von Bonn nach Berlin: 1949-1989-2009.
albrecht.vonlucke@blaetter.de


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 4/2009, S. 56-58
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Juli 2009