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MILITÄR/989: Die Rakete von Przewodów (german-foreign-policy.com)


Informationen zur Deutschen Außenpolitik - 17. November 2022
german-foreign-policy.com

Die Rakete von Przewodów

NATO gibt nach Raketeneinschlag in Polen Entwarnung. Deutsche Politiker hatten fälschlich Moskau beschuldigt und so Furcht vor einer Konfrontation der NATO mit Russland geweckt.


BERLIN/WASHINGTON/WARSCHAU - Nach dem Raketeneinschlag vom Dienstag im polnischen Przewodów gibt die NATO Entwarnung. Weder sei die Rakete, die zwei Menschen tötete, von den russischen Streitkräften abgefeuert worden, noch gebe es Anzeichen für eine russische Militäroffensive gegen ein Bündnismitglied, teilte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg gestern mit. Am Dienstagabend hatten führende Politiker aus mehreren europäischen Staaten, darunter die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im Bundestag, ohne jeglichen Beleg Russland für den Beschuss verantwortlich gemacht und damit Befürchtungen ausgelöst, es könne zu einer direkten Konfrontation zwischen der NATO und Russland kommen. Ähnliches war bereits im März der Fall gewesen, als auch in Deutschland die Errichtung einer Flugverbotszone über der Ukraine gefordert worden war - ein sicherer Weg in einen NATO-Krieg gegen Russland. Die Kriegspolitik liegt auf einer Linie mit der Forderung von Außenministerin Annalena Baerbock, Russland müsse in "eine strategische Niederlage" getrieben werden. Eine klare Mehrheit der Bevölkerung hingegen spricht sich für Verhandlungen zur Beendigung des Krieges aus.

In Alarmbereitschaft

Die Rakete, die am Dienstag auf einem Bauernhof in Przewodów im Osten Polens nahe der Grenze zur Ukraine einschlug und zwei Menschen tötete, ist nicht von den russischen Streitkräften abgefeuert worden. Dies hat NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg gestern bestätigt.[1] Der Einschlag der Rakete hatte am Dienstagabend zu größerer Unruhe geführt, insbesondere, nachdem in Polen die Regierung zu einer Notfallsitzung zusammengekommen war sowie anschließend laut Auskunft eines Regierungssprechers "einige militärische Kampfeinheiten und andere uniformierte Dienste in höhere Bereitschaft" versetzt hatte.[2] Wie mittlerweile bekannt ist, gingen US-Experten bereits zu diesem Zeitpunkt davon aus, es könne sich bei dem Einschlag aufgrund der Flugbahn der Rakete nicht um einen russischen Angriff gehandelt haben. Auch ging aus Fotos vom Schauplatz des Einschlag bald hervor, dass die Raketentrümmer exakt zu dem alten sowjetischen Luftabwehrsystem S-300 passten, das zahlreiche Staaten nutzen, darunter die Ukraine. In der Tat teilte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg, nachdem NATO-Spezialisten den Vorfall ausführlich untersucht hatten, gestern ganz ausdrücklich mit: "Unsere vorläufige Analyse legt nahe, dass der Vorfall wahrscheinlich von einer ukrainischen Luftabwehrrakete verursacht wurde".

"Russische Propaganda"

Ist es gestern schrittweise gelungen, einigermaßen Klarheit über den Raketenbeschuss von Przewodów zu gewinnen, so hatten bereits am Dienstag erste Reaktionen führender Politiker aus mehreren EU-Staaten, auch aus Deutschland, einen bemerkenswerten Willen zur Eskalation sogar an der Schwelle zum etwaigen Weltkrieg gezeigt. Noch bevor der Beschuss auch nur ansatzweise aufgeklärt war, behauptete etwa - in voller Kenntis der Konsequenzen, die ein russischer Angriff auf ein NATO-Mitglied hätte - Lettlands Verteidigungsminister Artis Pabriks auf Twitter: "Das kriminelle russische Regime hat die Raketen abgefeuert, die ... auch auf NATO-Gebiet in Polen landeten." Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba twitterte, Moskau verbreite die "Verschwörungstheorie, dass angeblich eine Rakete der ukrainischen Luftverteidigung auf polnischem Territorium niedergegangen" sei: "Niemand sollte russischer Propaganda glauben." Marie-Agnes Strack-Zimmermann, die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im Bundestag, schrieb ebenfalls auf Twitter, "russische Raketen" hätten da "offenbar Polen und damit NATO-Gebiet getroffen": "Das ist das Russland, mit dem hier einige offenkundig und absurderweise immer noch 'verhandeln' wollen."[3] Ähnlich äußerte sich der stellvertretende Vorsitzende der FDP-Fraktion im Bundestag Alexander Graf Lambsdorff.

Atomkrieg? "Nur keine Angst!"

Die offenkundige Bereitschaft, in einen Krieg der NATO gegen Russland einzutreten, ist nicht neu; sie war schon kurz nach dem russischen Überfall auf die Ukraine zutage getreten, als im März die Forderung nach der Errichtung einer Flugverbotszone über ukrainischem Territorium laut wurde. Dazu wäre es erforderlich gewesen, die in Richtung Westen gerichtete russische Flugabwehr mit eigenen Luftangriffen auszuschalten, um den Luftraum über der Ukraine für NATO-Überwachungsjets freizukämpfen; zudem hätten russische Jets, die ihrerseits in den ukrainischen Luftraum eingedrungen wären, unvermittelt abgeschossen werden müssen: Beides wäre faktisch der Beginn eines Krieges zwischen der NATO und Russland gewesen. Mitte März hatte Estlands Verteidigungsminister Kalle Laanet gefordert: "All diese Staaten, die eine Flugverbotszone kontrollieren können, müssen handeln".[4] In der Bundesrepublik hatte zur gleichen Zeit der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), Thomas Enders, erklärt, die NATO solle "zumindest über den sechs bis acht westlichen Oblasten der Ukraine" eine Flugverbotszone errichten.[5] Der damalige Botschafter der Ukraine in Deutschland, Andrij Melnyk, hatte wegen fehlenden Umsetzungswillens der Bundesregierung beklagt, "Angst" sei "jetzt der Ratgeber": "Atomkrieg - oh Gott, bloß nichts tun, damit wir nichts riskieren."[6]

"Keine Diplomatie!"

Die unbedingte Eskalationsbereitschaft korrespondiert mit einer kategorischen Ablehnung von Verhandlungen, die darauf gerichtet wären, zumindest einen Waffenstillstand zwischen Russland und der Ukraine zu erzielen. So war etwa die Forderung des Vorsitzenden der SPD-Bundestagsfraktion, Rolf Mützenich, es müsse "mehr Diplomatie" geben, auf heftigen Unmut gestoßen. Mützenich hatte am 23. Oktober dafür plädiert und darauf hingewiesen, dass im Ukraine-Krieg mit Mitteln der Diplomatie bereits wichtige Erfolge erzielt worden seien, so etwa die Einigung über den Export ukrainischen Getreides über das Schwarze Meer. Freilich war diese nicht von Berlin oder der EU, sondern von der Türkei in enger Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen ausgehandelt worden. Mützenich war für den Vorstoß nicht nur von Grünen-Politikern, sondern auch von der Vorsitzenden der SPD, Saskia Esken, aufs Schärfste attackiert worden.[7] Den strategischen Hintergrund für die Weigerung, Verhandlungen zu führen, lässt ein Papier erkennen, das Außenministerin Annalena Baerbock und ihre französische Amtskollegin Catherine Colonna schon vor einiger Zeit verfasst haben und das jetzt in Auszügen bekannt geworden ist. Darin heißt es, Russland müsse "abgeschreckt", "eingedämmt" und "international isoliert" werden; dazu müsse "der Krieg gegen die Ukraine in eine strategische Niederlage [für Russland] verwandelt werden".[8]

Nur zur Schau gestellt

Das von den Berliner Polit-Eliten verfolgte Ziel, den Ukraine-Krieg zu nutzen, um Russland als Machtfaktor auszuschalten, wird zwar von den deutschen Leitmedien, nicht hingegen von der Bevölkerung unterstützt. Schon Ende August ergab eine Umfrage in der Bundesrepublik eine Zustimmung von 77 Prozent für konkrete Bemühungen, Verhandlungen zwecks Beendigung des Krieges einzuleiten; gerade einmal 17 Prozent sprachen sich dagegen aus.[9] Sogar eine Umfrage, die im September in den Vereinigten Staaten durchgeführt wurde, ergab eine Zustimmung von 57 Prozent für diplomatische Bemühungen; nur 32 Prozent lehnten Verhandlungen ab.[10] Um größerem Unmut vorzubeugen, hat die Biden-Administration vor kurzem darauf gedrungen, der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj solle nicht mehr darauf insistieren, erst nach einem Sturz des russischen Präsidenten Wladimir Putin mit Moskau zu verhandeln; nur mit zur Schau gestellter Verhandlungsbereitschaft könne man auf Dauer die öffentliche Meinung für sich einnehmen.[11] In Washington hieß es allerdings zugleich, es gehe dabei nur um die Außenwirkung; wirklich verhandeln solle Selenskyj nicht. Der ukrainische Präsident ist der Aufforderung umgehend nachgekommen und verlangt nun nicht mehr den Sturz seines Amtskollegen. Tatsächliche Verhandlungen finden allerdings nicht statt.


Anmerkungen:

[1] Keine Anzeichen für gezielten Angriff auf Polen. Frankfurter Allgemeine Zeitung 17.11.2022.

[2] Till Fähnders, Gerhard Gnauck, Thomas Gutschker, Friedrich Schmidt, Reinhard Veser: Eine Rakete erschüttert die Nato. Frankfurter Allgemeine Zeitung 17.11.2022.

[3] Strack-Zimmermann: "Das ist das Russland, mit dem hier einige immer noch 'verhandeln' wollen". focus.de 15.11.2022.

[4] Geteiltes Echo auf Polens Vorstoß für Friedensmission. zeit.de 16.03.2022.

[5] Thomas Enders: Flugverbotszone im Westen der Ukraine einrichten. augengeradeaus.net 15.03.2022.

[6] Christian Bartlau: "Anne Will": Ukraines Botschafter Melnyk wütet gegen Ampel und Annalena Baerbock - "Ausrede!" web.de 08.03.2022.
S. dazu Der Wille zum Weltkrieg.
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8872

[7] Mützenich erntet Kritik aus der eigenen Koalition. Frankfurter Allgemeine Zeitung 25.10.2022.

[8] Thomas Gutschker: Eindämmen und abschrecken. Frankfurter Allgemeine Zeitung 15.11.2022.

[9] Mehrheit will, dass Westen Verhandlungen anstößt. n-tv.de 02.09.2022.

[10] John Haltiwanger: New poll signals Americans are growing tired of support for Ukraine without diplomacy as the war against Russia drags on. businessinsider.com 27.09.2022.

[11] Missy Ryan, John Hudson, Paul Sonne: U.S. privately asks Ukraine to show it's open to negotiate with Russia. washingtonpost.com 05.11.2022.

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Quelle:
www.german-foreign-policy.com
Informationen zur Deutschen Außenpolitik
E-Mail: info@german-foreign-policy.com

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 18. November 2022

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