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PARTEIEN/094: Rot-Grün-Rot und die Außenpolitik (spw)


spw - Ausgabe 1/2011 - Heft 182
Zeitschrift für Sozialistische Politik und Wirtschaft

Rot-Grün-Rot und die Außenpolitik

Von Ulrich Cremer


Soll 2013 ein rot-grün-rotes Regierungsbündnis noch angepeilt werden, sind einerseits atmosphärische Lockerungsübungen und andererseits inhaltliche Debatten auf diversen Politikfeldern vonnöten, denn eine Koalition entsteht nicht in den Koalitionsverhandlungen, sondern vorher. Die formalen Verhandlungen gießen einen entsprechenden Prozess nur in ein Vertragswerk. Sofern die Verhandlungen sich darum drehen, wechselseitig Erklärungen zu Mauerbau und DDR (seitens DIE LINKE) oder Distanzierung von der Zustimmung zu den Kriegskrediten 1914 und damit zusammenhängend die zwingend erforderliche Umbenennung der Friedrich-Ebert-Stiftung (seitens der SPD) oder die Distanzierung von ihrer eigenen Zustimmung zum völkerrechtswidrigen Kosovo-Krieg (seitens der GRÜNEN), ist das Scheitern vorprogrammiert und man kann den Versuch nach 10 Minuten beenden.

Tritt man jedoch ernsthaft in einen Verständigungsprozess ein, dürfte die Sollbruchstelle etwaiger zukünftiger Koalitionsverhandlungen zwischen SPD, GRÜNEN und DIE LINKE in der Außenpolitik liegen. Genauso war es in den 90er Jahren, als die spätere Rot-Grüne Regierung vorbereitet wurde. Umso überraschender ist der fast völlig fehlende Debattenzusammenhang. Z.B. fehlt das Feld Außenpolitik im Gründungsaufruf des Cross-Over-Instituts "Institut Solidarische Moderne" komplett. Vor 1998 war das anders, da gab es unter Federführung des Friedensforschers Dieter S. Lutz den erfolgreichen Versuch, über einen Gesprächskreis die sehr kontroversen Positionen und widerstrebenden Akteure in Diskussionszusammenhänge zu verwickeln.(1)

Karsten Voigt, 1983-1998 außenpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion (danach 1999-2010 Koordinator der Bundesregierung für die deutsch-amerikanische Zusammenarbeit) hatte 1994 als die "wichtigsten umstrittenen Punkte" folgende Themen ausgemacht:

- "deutsche NATO-Politik
- schrittweise Abschaffung von Bundeswehr und Wehrpflicht
- keine Beteiligung an militärischen out-of-area-Einsätzen und Verzicht auf deutsche 'Krisenreaktionskräfte'
- keine neuen Vorhaben der Rüstungsbeschaffung
- Ausstieg aus dem 'Eurokorps'
- deutsche Rüstungsexporte ausschließlich in Länder der Europäischen Union"

(2)

2010, also 16 Jahre später, hat Voigt die Liste pragmatisch auf drei Punkte verkürzt. Er fordert von DIE LINKE eine Zustimmung zum Lissabonv-Vertrag ein, ein klares Bekenntnis zur NATO und eine Absage an jegliche nationalen Alleingänge (friedenpolitischer Natur selbstverständlich, z.B. ein nicht eingebetteter Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan)(3)

Die Geschichte ist eben nicht stehen geblieben, heute geht es um keine Keimzelle (Eurokorps) mehr, sondern um eine ausgewachsene EU Armee, EU Battle Groups, konkrete EU-Militäreinsätze, eine EU-Sicherheitsstrategie und die entsprechende vertragliche Fixierung im Lissabon-Vertrag. Die Krisenreaktionskräfte der Bundeswehr sind aufgebaut und im Einsatz. Die Bundeswehr nimmt u.a. auf dem Balkan und in Afghanistan an konkreten Militär- bzw. Kriegseinsätzen teil.

Die Wehrpflicht ist inzwischen ausgesetzt worden, so dass dieser Konfliktpunkt entschärft ist. Hochaktuell bleibt natürlich, wie eine Regierungskoalition sich zu einer interventionsfähigen Armee stellt. Die Abschaffung der Bundeswehr wird von DIE LINKE nicht gefordert, aber sie tritt in ihrem Programmentwurf für "den Umbau der Streitkräfte auf der Basis strikter Defensivpotenziale"(4) (also für eine angriffsunfähige Armee) ein.

Das Thema Rüstungsbeschaffung hat sich gleichzeitig relativiert, da auch eine nicht-angriffsfähige Armee Defensivwaffen beschaffen muss. Das Konzept der nichtangriffsfähigen Armee knüpft an entsprechende SPD-SED-Konzepte der 80er Jahre an und könnte zwischen den beiden sozialdemokratischen Parteien SPD und DIE LINKE eine Brückenfunktion haben. Schwerer dürften sich damit die GRÜNEN tun, die nie diese Konzeption vertraten.


Afghanistan-Krieg

Das Thema Afghanistan-Kriegsbeteiligung wird sich bis 2013 kaum entschärfen, haben sich doch die NATO-Staaten auf eine Laufzeitverlängerung für den Krieg bis mindestens 2014 verständigt. Auch danach soll es weitergehen, auch wenn dann keine deutschen Kampftruppen mehr am Hindukusch im Einsatz sein sollen. Der Fortschrittsbericht der Bundesregierung von Dezember 2010 weiß, dass "die afghanische Regierung die internationale Gemeinschaft und damit möglicherweise Deutschland um die Unterstützung durch Ausbildungskräfte und Schlüsselfähigkeiten der Bundeswehr... auch über 2014 hinaus bitten" wird.(5) Bemerkenswert: während sich die deutsche Regierung nicht auf den Beginn des Abzugs im Jahr 2011 festnageln lassen will, steht bereits heute fest, dass die "souveräne" afghanische Regierung in vier Jahren eine Fortsetzung des NATO-Einsatzes fordern wird. Dieses "Hilfeersuchen" wäre dann in der nächsten Legislaturperiode zu entscheiden.

Dass bei der Bundestagsabstimmung im Januar 2011 die Zahl der Nein-Stimmen bei SPD und GRÜNEN nur marginal angestiegen ist, zeigt in aller Schärfe, dass es in beiden Parteien festgefügte Mehrheiten für den Krieg gibt. Hinter vielen Enthaltungen verbirgt sich ein prinzipielles JA zum Afghanistankrieg. Insbesondere bei den GRÜNEN ist die Begründung des Krieges als "humanitäre Intervention" nahezu unerschüttert, so dass hier der Widerstand gegen den Truppenabzug am vitalsten sein dürfte.

Die Oppositionsarbeit von SPD und GRÜNEN beschränkt sich bisher im Wesentlichen darauf, eine Evaluation des Einsatzes oder angesichts bestimmter Einzelereignisse eine Regierungserklärung zu fordern. Ein frühzeitigeres Abzugsdatum mögen SPD und GRÜNE nicht nennen, um in der NATO anschlussfähig zu bleiben. So wird gewissermaßen die "Bündnisfähigkeit" am Hindukusch verteidigt. Die aus den Reihen der GRÜNEN erhobene Forderung, bis zum 19. August 2011, dem afghanischen Unabhängigkeitstag, abzuziehen, ist aktuell nicht mehrheitsfähig.(6)

Bis 2013 sind vor diesem Hintergrund vier Szenarien möglich:

1) "Erneuter Strategiewechsel": Die NATO stockt die Truppenzahl von 150.000 auf über 200.000 auf. Begründung wie üblich: Der Abzug wäre nicht verantwortbar, denn dann kehrten die Taliban zurück; die afghanischen Sicherheitskräfte wären noch nicht so weit zu übernehmen. Die weitere Aufstockung werde zu einer positiven militärischen Entwicklung in 2014 führen.

2) Die NATO zieht 2011 oder 2012 tatsächlich symbolisch ein paar Einheiten ab. Die Zahl sinkt z.B. um 10% auf 135.000 SoldatInnen. Mehr erlaube die Lage nicht, da der Aufbau der afghanischen Sicherheitskräfte hinter Plan sei(7) usw.

3) NATO zieht signifikant Truppen ab, so dass die Abzugsperspektive eine gewisse Glaubwürdigkeit erhielte. 2013 würden nur noch 50.000 Soldaten stationiert sein. Diese hätten sich auf einige Stützpunkte zurückgezogen, die offensive Kriegsführung wäre eingestellt worden. Mehrere lokale Waffenstillstände wären ausgehandelt worden und hielten. Die Aufständischen verhandelten ernsthaft über den Eintritt in eine nationale afghanische Einheitsregierung.

4) Der Abzug aller NATO-Truppen wäre abgeschlossen.

Leider ist Szenario 4 nahezu ausgeschlossen. Die beiden ersten Szenarien sind am realistischsten. Deswegen böte der Afghanistan-Krieg für eine rot-grün-rote Regierungsbildung 2013 erheblichen Sprengstoff. DIE LINKE müsste erreichen, dass ihr Regierungseintritt, den Abzug der NATO/Bundeswehr aus Afghanistan herbeiführt bzw. beschleunigt. Ein echtes Enddatum für den Abzug müsste im Koalitionsvertrag festgelegt werden, unabhängig bzw. im Widerspruch zu den US-Plänen für Afghanistan. Dabei wäre es natürlich guter Ton, einen einseitigen Abzug der Bundeswehr in der NATO auch vorher anzukündigen und zu erklären, um Andere zum Nachahmen zu bewegen. Es liegt auf der Hand, dass eine solche Einigungslinie nur möglich ist, wenn sich die gesellschaftlichen Mehrheiten gegen den Afghanistan-Krieg auch in entsprechenden Mehrheiten in SPD und GRÜNEN niederschlügen. Das wiederum ist nur denkbar, wenn die gesellschaftliche Mehrheit sich engagiert und nicht nur bei Meinungsumfragen ihr NEIN zu Protokoll gibt.

Die Alternative: DIE LINKE schleift ihre friedenspolitischen Ansprüche und übernimmt die Position von SPD und GRÜNEN, beim Krieg solange mitzumachen wie dieser eben dauert. Das würde ein Karsten Voigt dann sicher als "Regierungsfähigkeit" und "Beendigung der Realitätsverweigerung" feiern.


NATO

Im 2010er Programmentwurf von DIE LINKE heißt es: "Wir fordern die Auflösung der NATO und ihre Ersetzung durch ein kollektives Sicherheitssystem unter Beteiligung Russlands."

Exakt diese Position hatten die GRÜNEN auch vor der Regierungsbeteiligung 1998 vertreten: 1994 wurde das Ziel der "Entmilitarisierung der Politik" betreten und dieses "bedeute auch die Auflösung der NATO". Denn diese sei "strukturell ungeeignet, die komplizierten neuen zivilen und politischen Aufgaben einer gesamteuropäischen Friedensordnung in Europa wahrzunehmen." "Strukturen gemeinsamer Sicherheit müssen an die Stelle der Bündnisstrukturen treten und ermöglichen ihre Auflösung."(8) Auch im 1998er Wahlprogramm hieß es noch: "Die langfristig angelegte antimilitaristische Strategie von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zielt darauf ab, Militärbündnisse und nationale Armeen in eine gesamteuropäische Friedens- und Sicherheitsordnung aufzulösen. Sie muss die NATO ablösen..." (S. 143)

Diese Positionen fanden und finden - wenig überraschend - bei Karsten Voigt kein Verständnis. 2010 resümiert er: "Die 1990 auch von Teilen der SPD gegenüber einer NATO-Mitgliedschaft bevorzugte Mitgliedschaft in einem neuen, ganz Europa umspannenden, kollektiven Sicherheitssystem, ist heute illusionärer denn je, da fast alle Nachbarn Deutschlands der NATO angehören und weit davon entfernt sind diese Mitgliedschaft aufzugeben."(9) Hier schimmert die bekannte Taktik auf, die eigenen Positionen hinter anderen Akteuren zu verstecken.

Der Eintritt in die Bundesregierung war es den GRÜNEN wert, ihre kritische NATO-Position abzuräumen. Sie trugen sogar mehrheitlich den NATO-Angriffskrieg gegen Jugoslawien (Kosovo-Krieg) mit, der nicht einmal völkerrechtlich legitimiert war. Heute finden sich in den GRÜNEN Programmen keine NATO-kritischen Passagen mehr. Mancher GRÜNER Spitzenpolitiker ist sich auch nicht zu schade, vor dem Hintergrund der eigenen Positionsentwicklung seit 1998 gegenüber DIE LINKE den Erziehungsberechtigten zu mimen und ihnen aufgrund ihrer außenpolitischen Haltungen die "Regierungsfähigkeit" abzusprechen.

Der LINKEN würde heute übrigens erheblich mehr abgefordert als den GRÜNEN 1998, da damals die NATO den Kosovokrieg noch nicht geführt und auch ihren Afghanistan-Kriegseinsatz noch nicht begonnen hatte. Ihre Interventionskapazitäten waren noch nicht auf den heutigen Stand gebracht, sie hatte weniger Mitglieder und Verbündete. Die neue NATO nahm damals erst langsam Fahrt auf. Übernahme der NATO-Mainstream-Position bedeutete für DIE LINKE heute Akzeptanz aller Fehlentwicklungen, die sie bzw. ihre Vorläuferorganisationen jahrelang bekämpft haben. Bei einem Bündnis auf Augenhöhe kann man eine solche bedingungslose Kapitulation eigentlich nicht ernsthaft verlangen.

Umgekehrt kann man in der Realpolitik kaum erwarten, dass SPD und GRÜNE mit wenigen Jahren Abstand ihre eigenen kriegspolitischen Fehltritte öffentlich bedauern. Positionen wie die von Ulrich Kasparick (SPD-MdB 1998-2009 und Ex-Staatssekretär) sind kurzfristig kaum mehrheitsfähig: "Ich habe den Mandaten für den Einsatz der Bundeswehr zugestimmt. Es gibt keine Entscheidung, die ich mehr bereue, als diese. Denn durch dieses Mandat wurde der 4. September 2009 [= NATO-Luftangriff auf Tanklaster mit 90 Toten] überhaupt erst möglich. Ich trage, gemeinsam mit meinen KollegInnen, die dem Mandat für die Bundeswehr ebenfalls zugestimmt haben, die politische Verantwortung für diese Toten... Wir haben mit unserem Mandat den 4. September 2009 ermöglicht. ... Deshalb gibt es nur den Weg des Abzugs der Truppen."(10)

Die realpolitische Positionsbestimmung zur NATO hat zunächst einmal davon auszugehen, dass es gültige Verträge gibt, die Deutschland bei rot-grün-rotem Regierungsantritt an die NATO bindet. Es sind zahlreiche (friedenspolitisch gesehen: negative) Fakten geschaffen worden, die den Ausgangspunkt darstellen. Dazu zählt seit November 2010 die neue NATO-Strategie von Lissabon.

Statt einfach die aktuelle NATO-Politik fortzusetzen, hätte ein rot-grün-rotes Regierungsbündnis mit friedenspolitischem Anspruch folgende Optionen, die die bestehenden NATO-Militäreinsätze beenden und die NATO als Militärpakt schwächen würden:

a) Austritt aus dem Militärpakt NATO. Diese Position hatten die GRÜNEN in den 80er Jahren bezogen. Im 1987er Wahlprogramm hieß es: "Wir begreifen eine Strategie der einseitigen Abrüstung als Prozess der Herauslösung der Bundesrepublik aus der NATO, die die Aufrüstungsspirale stetig vorangetrieben hat und vorantreibt... Wir müssen raus aus der NATO, weil es mit der NATO keinen Frieden geben kann und Schwächung, Desintegration und schließlich Aufhebung dieses Bündnisses unabdingbar ist, um Frieden zu schaffen. Die NATO ist nicht reformierbar." Im gleichen Jahr bekräftigte eine GRÜNE BDK: "DIE GRÜNEN bleiben daher bei ihrer Forderung nach einem Austritt der Bundesrepublik aus der NATO. Friedenspolitik kann nicht auf Basis von Militärblöcken betrieben werden."(11) Einen Zeitpunkt für den Austritt hatten die GRÜNEN damals nicht genannt, das damalige Konzept hatte eher langfristigen, prinzipiellen Charakter. Zwar war es auf die Blockkonfrontation des Kalten Krieges bezogen, aber prinzipiell wäre die Grundposition auch heute mögliche Basis für eine Anti-NATO-Konzeption.

b) Mitglied in der NATO bleiben und gleichzeitig auf die formale Auflösung der Organisation hinarbeiten, wie immer die Zwischenschritte aussehen könnten.

c) Mitglied bleiben, einzelne Entwicklungen blockieren, Gelder kürzen, auf diese Weise die NATO schwächer und unwichtiger machen, sie "absterben" lassen, ohne sie formal aufzulösen. Einen ähnlichen Prozess hat die OSZE in den letzten 12 Jahren durchgemacht, sie besteht zwar noch, hat aber immer weniger politischen Einfluss. Diese Position böte den aktuellen NATO-BefürworterInnen eine Möglichkeit zur Gesichtswahrung. Parallel müssten alternative Sicherheitsstrukturen aufgebaut werden, z.B. die OSZE aus ihrem Dornröschen-Schlaf wieder geweckt werden.

Unvorstellbar, dass SPD und GRÜNE sich eine dieser Optionen zu eigen machen würden. Also werden solche Strategiebeschreibungen kaum in einem Koalitionsvertrag Karriere machen. Denkbar wäre aber ein Forderungskatalog, der beschriebe, was sich bei der NATO ändern soll. Der könnte neben dem Abzug aus Afghanistan z.B. solche Elemente enthalten:

- Die NATO darf sich die US-Präventivkriegsdoktrin nicht zu eigen machen;
- die Pläne für die NATO Response Force und das Konzept NATO-eigener Truppen werden aufgegeben;
- Aufgabe der "Raketenabwehr"-Pläne
- keine Aufnahme weiterer Länder in die NATO;
- der Kosovokrieg sollte von der NATO als Völkerrechtsbruch qualifiziert werden, verbunden mit einer Erklärung, dass man sich fortan an das Völkerrecht und die UN-Beschlüsse hält und keine Militäraktionen mehr auf eigene Faust starten wird;
- Verzicht den Aufbau weiterer Cyberwar-Angriffspotentiale
- Entflechtung der zivil-militärischen Zusammenarbeit und Respektierung der Neutralität der zivilen Hilfsorganisationen.



EU

Eine noch härtere Nuss stellt das Verhältnis einer rot-grün-roten Regierung zum EU-Militär da. Dieses Problem bestand 1998 noch nicht in der gegenwärtigen Schärfe, schließlich wurden die entsprechenden Entwicklungen erst von der Schröder/Fischer-Regierung erfolgreich vorangetrieben. Damit besteht das Problem, dass eine friedenspolitische Positionierung für SPD und GRÜNE die Negation der eigenen Politik der letzten 12 Jahre bedeutet. Dafür dürften diese kaum reif sein. Hier ist auch kreative Kompromiss-Suche gefragt, denn umgekehrt dürfte auch hier DIE LINKE nicht einfach so die eigenen Positionen verraten wollen.

Juristisch ist die Thematik in der Ratifizierung des Lissabon-Vertrages und dessen internationalen Gültigkeit verborgen. Dieser bildet heute den Ausgangspunkt. DIE LINKE hält in ihrem Programmentwurf diesen Vertrag für ungeeignet, um eine "Friedensunion" zu erreichen. Sie will "eine europäische Verfassung, die eindeutig auf die Sicherung des Friedens, zivile Konfliktlösungen und Abrüstung verpflichtet."

Was die "Militarisierung der EU" betrifft, so warnten auch die GRÜNEN in den Jahren vor Regierungsantritt genau vor der Entwicklung, die sie später selbst forcieren sollten: In ihrem 1998er Wahlprogramm stritten sie für "eine EU, in der... militärischen Interventionen eine Absage erteilt wird." Kritisiert wurde, dass mit dem damaligen Amsterdamer Vertrag "die enge Bindung der WEU und die Aufnahme gemeinsamer militärischer Aktionen bis hin zu militärischen Kampfeinsätzen die Tür weiter geöffnet (wurde) in Richtung auf einen Militärmacht EU. Dies lehnen wir strikt ab. Die EU benötigt keinen 'militärischen Arm'." (S. 138f)

Die Änderung des Lissabon-Vertrages geht ohnehin nicht von heute auf morgen, aber eine rot-grün-rote Koalition müsste sich schon auf gemeinsame Reformschritte für die EU einigen, soll die deutsche EU-Sicherheitspolitik nicht als "business as usual" weitergehen.

Alle inhaltlichen Festlegungen funktionieren nur, wenn auch entsprechendes Personal zur Umsetzung an den wichtigen Stellen platziert ist. Die Nominierung Joschka Fischers als Außenminister durch die GRÜNE Partei 1998 ist hier ein warnendes Beispiel: Er war nie in den entsprechenden GRÜNEN Diskussionen verankert und akzeptierte das eigene Parteiprogramm im außenpolitischen Bereich nicht. Insofern konnte man von ihm natürlich auch keine Umsetzung desselben erwarten.


Miteinander reden

Wenn rot-grün-rot nicht auf absehbare Zeit als Perspektive abgeschrieben werden soll, ist es dringend erforderlich, einen entsprechenden Diskussionszusammenhang zu außenpolitischen Fragen zu etablieren - mit offenem Ausgang, vielleicht liegen die Positionen einfach zu weit auseinander, aber der Versuch sollte zumindest unternommen werden.


Uli Cremer ist Mitglied der GRÜNEN FRIEDENSINITIATIVE und Autor des 2009 erschienenen Buches "Neue NATO: die ersten Kriege". 2003 initiierte er gemeinsam mit Niels Annen die Hamburger Erklärung gegen die Beteiligung am Irak-Krieg, die von vielen MdB und sogar einem damaligen SPD-Ministerpräsidenten unterschrieben wurde: Sigmar Gabriel.


ANMERKUNGEN:

(1) Siehe Grundlagenpapier und Teilnehmerliste "Parteiübergreifender Gesprächskreis zur Europäischen Friedens-und Sicherheitspolitik", Hamburg/ Bonn, November 1996

(2) Wolfgang Bruckmann/Karsten D. Voigt: Verantwortbar und regierungsfähig? Eine kritische Betrachtung der außen- und sicherheitspolitischen Vorstellungen von Bündnis 90/DIE GRÜNEN, Bonn Dezember 1994, S. 5

(3) http://www.aicgs.org/analysis/c/voigt051310.aspx,
gefunden: 14.5.2010

(4) http://die-linke.de/programm/programmentwurf/iv_linke_reformprojekte_schritte_gesellschaftlicher_umgestaltung/4_wie_schaffen_wir_frieden_abruestung_kollektive_sicherheit_und_gemeinsame_entwicklung/abruestung_und_strategische_nichtangriffsfaehigkeit/

(5) Fortschrittsbericht Afghanistan zur Unterrichtung des Bundestages, Dezember 2010, S.34

(6) Ein entsprechender Aufruf erschien am 26.1.2010 in der taz und wurde von über 280 GRÜNEN Mitgliedern unterstützt. Siehe: www.gruene-friedensinitiative.de

(7) Entgegen den einem aufgestockten Kommunikationsetat (von 100 auf 290 Mio. $) geschuldeten Erfolgsmeldungen dürfte es in der Wirklichkeit um Quantität und Qualität der afghanischen Sicherheitskräfte Anfang 2011 nicht zum Besten stehen. Details siehe: Cremer/Achlelpöhler: Abzug nach Gutsherrenart, in Sozialismus 2/2011, S. 3

(8) Grünes Bundestagswahlprogramm 1994: "Nur mit uns", S. 55

(9) http://www.aicgs.org/analysis/c/voigt051310.aspx, gefunden: 14.5.2010

(10) http://ulrichkasparick.wordpress.com/2010/04/24/4-9-2009-bis-zu-142-tote-darunter-viele-zivilisten-man-will-uns-weismachen-dieser-krieg-sei-notig/

(11) zitiert nach: NATO-Broschüre der GRÜNEN "To be or NATO be", Bonn/ Hamburg, Juli 1988, S. 76, im Internet abrufbar unter:
http://www.gruenefriedensinitiative.de/bibliothek/1988_gruene_nato.pdf


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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 1/2011, Heft 182, Seite 46-51
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. März 2011