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PARTEIEN/101: Mehr Demokratie wagen! Die Organisationsreform der SPD (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 6/2011

Parteien auf dem Prüfstand
Mehr Demokratie wagen! Die Organisationsreform der SPD

Von Oskar Niedermayer (unter Mitarbeit von Daniel Totz)


Seit Anfang der 90er Jahre hat die SPD bereits vier Reformdebatten geführt. Herausgekommen sind stets sinnvolle Vorschläge, die zum größten Teil jedoch nicht den Weg in den Parteialltag gefunden haben. Warum sollte es diesmal anders sein?


Zwei Gründe sprechen dafür, dass die aktuelle Reformdiskussion der SPD auch in den Parteialltag ausstrahlt: Zum einen machen die katastrophalen Rahmenbedingungen eine Parteireform heute notwendiger denn je: Die SPD hat seit 1990 fast die Hälfte ihrer Mitglieder verloren und ist seit 2008 nicht mehr die mitgliederstärkste Partei Deutschlands. Zudem fuhr sie bei der Bundestagswahl 2009 das mit Abstand schlechteste Wahlergebnis ihrer gesamten Nachkriegsgeschichte ein. Zum anderen ist die Herangehensweise diesmal eine gänzlich andere: Wurden früher Projekt- oder Arbeitsgruppen auf der Ebene des Parteivorstandes installiert, so hat man sich dieses Mal für eine basisorientiert-partizipative Vorgehensweise entschieden. Dies trägt zum ersten Mal der Tatsache Rechnung, dass sich weit reichende Reformen von fragmentierten Freiwilligenorganisationen wie Parteien nicht so einfach von oben verordnen lassen, sondern nur gelingen können, wenn die gesamte Partei "mitgenommen", also durch frühzeitige Basispartizipation eine breite Reformakzeptanz erzeugt wird.


Basispartizipation

Der erste Schritt der Reform von März bis Mai 2010 bestand daher in einer Befragung der über 9.000 Ortsvereine und etwa 400 Unterbezirke/Kreisverbände der Partei. Die Ergebnisse wurden Ende Mai 2010 im Rahmen einer UB/KV-Konferenz vorgestellt. Anschließend hatten die verschiedenen Gliederungsebenen bis zum Herbst Zeit, die Ergebnisse zu diskutieren. Danach identifizierte der Parteivorstand die folgenden, im Rahmen der Reform konkret zu bearbeitenden Bereiche: Beteiligung von Nichtmitgliedern, Mitgliederwerbung und -betreuung, Integrierter Ortsverein, Aufgaben der Gliederungsebenen, Verhältnis Haupt- und Ehrenamt sowie Beitragsgestaltung und Finanzordnung. Diese Themen wurden in sogenannten "Werkstattgesprächen" diskutiert, an denen Vertreter der verschiedenen Gliederungsebenen und externe Experten teilnahmen. Darüber hinaus wurde ein Beirat gebildet, in dem Wissenschaftler und Experten anderer Organisationen wie z.B. der Gewerkschaften mit einer Steuerungsgruppe des Parteivorstands über die Ziele und Maßnahmen der Reform diskutierten. Nach Abschluss der Werkstattgespräche wurde vom Parteivorstand Ende März 2011 die Einsetzung einer organisationspolitischen Kommission mit Vertretern aus allen 20 Bezirken/Landesverbänden beschlossen, um auf der Basis der bisherigen Arbeitsergebnisse konkrete Reformvorschläge zu entwickeln. Darüber hinaus wird von der Generalsekretärin ein organisationspolitisches Grundsatzprogramm entworfen. Ende Mai 2011 wurden im Rahmen einer zweiten Reformkonferenz die Unterbezirke und Kreisverbände nochmals in den Diskussionsprozess einbezogen. Jetzt haben die Parteigliederungen bis zum November 2011 Zeit, die Vorschläge der organisationspolitischen Kommission zu diskutieren. Schließlich soll das neue organisationspolitische Grundsatzprogramm auf dem ordentlichen Bundesparteitag im Dezember 2011 vorgestellt und beschlossen werden.

Die primären Ziele der Organisationsreform bestehen darin, durch eine die Beteiligung von Nichtmitgliedern und Mitgliedern erweiternde Reform der Diskussions- und Entscheidungsprozesse und durch die Verbreiterung der Mitgliederbasis einen Beitrag zur Stärkung der innerparteilichen Demokratie, der gesellschaftlichen Verankerung und der Kampagnenfähigkeit der SPD zu leisten. Im Folgenden soll einer der wichtigsten und schwierigsten Reformbereiche, die Beteiligung von Nichtmitgliedern, herausgegriffen und ein Vorschlag hierzu skizziert werden, den der Verfasser im Beirat vorgestellt hat. Wie die Ortsvereinsbefragung zeigt, wird eine systematische Erweiterung der Beteiligung von Nichtmitgliedern an den Diskussionsprozessen, die den Sach- und Personalentscheidungen der Partei vorangehen, von der Parteibasis durchaus bejaht. Partizipationsorientierte Bürgerinnen und Bürger sind allerdings zu einem parteibezogenen Engagement oft nur zu bewegen, wenn sie in irgendeiner Weise tatsächlich an den sie interessierenden Entscheidungen beteiligt werden. Dies kollidiert jedoch mit den Interessen der aktiven Parteimitglieder, die hierdurch ihre Mitgliederrolle entwertet sehen und Entscheidungsbeteiligungen von Nichtmitgliedern daher mit großer Mehrheit ablehnen.


Mitgliedertyp "Unterstützer"

Ein möglicher Ausweg aus diesem Dilemma basiert auf drei Komponenten: Einführung eines neuen Mitgliedschaftstyps, eines mehrstufigen Entscheidungsprozesses und Schaffung einer Win-Win-Situation, in der beide Gruppen (alter und neuer Mitgliedstyp) profitieren. Der neue Mitgliedertyp, "Unterstützer" genannt, sollte in den Mitgliederrechten eindeutig auf eine bestimmte Aufgabe begrenzt, zeitlich befristet und beitragsfrei sein.

Zur Institutionalisierung der Entscheidungsbeteiligung von Unterstützern in Sachfragen sollte auf allen Ebenen der Parteiorganisation die Möglichkeit geschaffen werden, auf Beschluss des Vorstands oder auf Antrag eines bestimmten Mitgliederquorums Arbeitsgruppen zu bilden. Diese AGs sollten sich relevanter Themen annehmen und dazu innerhalb eines bestimmten Zeitrahmens eine SPD-Position erarbeiten, die zunächst innerhalb der AG entschieden und dann dem jeweiligen Parteitag - auf der Ortsvereinsebene der Mitgliederversammlung - zur Entscheidung vorgelegt wird. Nichtmitglieder erhalten bei einer Registrierung für diese AG (mit Klarnamen, Adresse und Unterschrift sowie der schriftlichen Erklärung, keiner anderen Partei anzugehören) den Unterstützerstatus und damit volle Mitentscheidungsrechte bei den Entscheidungen, die in dieser - und nur in dieser - Arbeitsgruppe getroffen werden. Zudem erhält eine auf UB/KV-, Landes- oder Bundesebene angesiedelte Arbeitsgruppe je nach der Anzahl der in ihr aktiven Vollmitglieder und Unterstützer analog zum Delegiertenschlüssel für die territorialen Parteigliederungen eine Anzahl von Delegierten aus der Gruppe der Vollmitglieder für den jeweiligen Parteitag. Allerdings haben diese Delegierten nur bei den von der AG bearbeiteten Sachentscheidungen ein Stimmrecht. Das gleiche Verfahren könnte bei der Diskussion und Entscheidung über kommunalpolitische Programme der Partei angewendet werden.

Um gleichzeitig die Rolle der Vollmitglieder aufzuwerten, sollte für sie ein exklusiver sachpolitischer Mitwirkungsbereich geschaffen werden, indem ihnen vor der Verabschiedung jedes bundesweiten Wahl- oder Grundsatzprogramms im Zuge einer Mitgliederbefragung die Gelegenheit gegeben wird, sich zu dem Programmentwurf zu äußern. Die konkreten Änderungswünsche sollten dann von der Antragskommission gebündelt und auf dem Programmparteitag zur Abstimmung gestellt werden. Zusätzlich ist es sinnvoll, zu einzelnen relevanten Sachentscheidungen der Partei, die auf eine klare Ja/Nein-Alternative reduziert werden können, vermehrt Mitgliederentscheide durchzuführen. Daher sollten die Hürden zur Herbeiführung solcher Entscheide herabgesetzt werden.


Teilnahme an Entscheidungsprozessen

An den Entscheidungen zur Besetzung innerparteilicher Wahlämter sollten Unterstützer generell nicht beteiligt werden. Zudem sollten die Vorsitzenden auf der UB/ KV-, Landes- und Bundesebene prinzipiell durch Urwahl seitens der Mitglieder und nicht durch Delegiertenwahlen bestimmt werden.

Bei der Auswahl der Direktkandidaten für Landtags- und Bundestagswahlen sowie der Nominierung von Kandidaten für Bürgermeister- und Landratswahlen hingegen ist eine Beteiligung von Unterstützern bis zu einem gewissen Grad sinnvoll. Hierdurch zeigt die Partei, dass sie sich gegenüber der Gesellschaft öffnet; sowohl die Partei als auch der schließlich nominierte Kandidat erhalten eine größere Medienaufmerksamkeit, die innerparteilichen Sellektionskriterien für die Kandidaten werden durch Außenkriterien ergänzt, und der Auswahlprozess begünstigt die Bewerber mit den besseren Wahlkampf-Qualitäten.

Im Rahmen der Nominierungsprozesse, in denen tatsächlich ein Kandidatenwettbewerb stattfindet, sollte daher eine Reihe von öffentlichen Vorstellungsveranstaltungen durchgeführt werden, die das jeweilige Wahlgebiet in einer sinnvollen Weise abdecken. Im Rahmen dieser Versammlungen könnte sowohl den Vollmitgliedern als auch den schon vor Beginn des Auswahlprozesses registrierten Unterstützern die Möglichkeit gegeben werden, durch ihre Unterschrift auf ausliegenden Listen für einen der Kandidaten zu stimmen. Das Ergebnis dieser Listenwahlen könnte sodann der Nominierungsversammlung als Empfehlung vorgelegt werden. Würde eine solche Empfehlung sich eindeutig für einen Kandidaten aussprechen, so würde damit - auch angesichts der zu erwartenden Medienaufmerksamkeit - durchaus ein hoher Druck auf den Nominierungsparteitag ausgeübt. Die eigentliche Entscheidung über die Kandidatennominierung würde aber bei den Delegierten verbleiben.

Durch die Tatsache, dass Unterstützer sich nur durch den Eintrag in die bei den Vorstellungsveranstaltungen ausliegenden Listen an der Kandidatennominierung beteiligen können, wird sichergestellt, dass sich Personen beteiligen, die tatsächlich ein hohes Interesse an der Teilnahme am Entscheidungsprozess haben, und daher auch bereit sind, dafür ein gewisses Ausmaß an Zeit und Mühe aufzuwenden. Die gegen eine Beteiligung von Nichtmitgliedern angeführte Gefahr eines möglichen Missbrauchs der Kandidatennominierung durch den politischen Gegner erscheint daher relativ gering. Zudem ist zu erwarten, dass in der heutigen Mediengesellschaft eine durch den politischen Gegner organisierte Welle von Unterstützeranträgen sehr schlecht vor der Öffentlichkeit zu verbergen wäre und beim Bekanntwerden auf den politischen Gegner zurückschlagen würde.

Abschließend muss betont werden, dass die innerparteilichen Willensbildungsprozesse in Sach- und Personalfragen durch die hier vorgeschlagenen Reformmaßnahmen komplizierter, zeitaufwändiger und kostenintensiver sowie in ihren Ergebnissen weniger vorhersehbar werden. Die Partei muss entscheiden, ob sie diese Nachteile in Kauf nimmt, um dem Credo ihres großen Vorsitzenden Willy Brandt zu folgen und mehr Demokratie zu wagen.


Oskar Niedermayer (* 1952) ist Professor für Politische Wissenschaft an der Freien Universität Berlin und Mitglied des Beirats zur SPD-Parteireform.
niederm@zedat.fu-berlin.de

Daniel Totz (* 1985) studierte Politikwissenschaft und Geschichte an der Universität Hannover und der FU Berlin und ist seit 2009 in verschiedenen Bereichen im Willy-Brandt-Haus tätig.
daniel.totz@googlemail.com


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 6/2011, S. 15-18
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Siegmar Gabriel,
Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka, Thomas Meyer und Peter Struck
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. Juli 2011