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PARTEIEN/102: Die Grünen - Eine neue Volkspartei ante portas? (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 6/2011

Die Grünen: Eine neue Volkspartei ante portas?

Von Lothar Probst


Noch ist nicht ausgemacht, in welche Richtung sich die Grünen entwickeln werden. Hohe Umfragewerte und ein erster grüner Ministerpräsident allein reichen noch nicht aus. Erst die praktische Politik wird zeigen, ob die Grünen eine Volkspartei auch im klassischen Sinne sein können.


In den Medien, aber auch in der Politikwissenschaft wurde in den letzten Jahren angesichts des schrumpfenden Wählerzuspruchs für CDU/CSU und SPD und deren drastisch sinkender Mitgliederzahlen ein Abgesang auf die Volksparteien angestimmt. Buchtitel wie Im Herbst der Volksparteien von Franz Walter (2009) verkündeten das unaufhaltsame Ende einer Ära, in der die Volksparteien als Stabilitätsanker die Erfolgsstory des deutschen Parteiensystems schlechthin repräsentierten. Peter Lösche schrieb nach der Bundestagwahl 2009, auf den Wandel des deutschen Parteiensystems eingehend: "Im Mittelpunkt dieses Wandels steht das Ende der Volksparteien, jenes Parteitypus, der jahrzehntelang die bundesrepublikanische Politik so nachdrücklich geprägt hat". Karl-Rudolf Korte sprach gar von den "Volksparteiruinen".

Es mutet angesichts dieser eindeutigen Diagnosen in der Tat ziemlich paradox an, dass zumindest die Medien seit einem halben Jahr eine "neue Volkspartei" entdeckt haben, obwohl sie sich in der Vergangenheit selbst an den Untergangsszenarien für eben diesen Parteientyp kräftig beteiligten. Als im Herbst letzten Jahres der demoskopische Höhenflug der Grünen nach den Auseinandersetzungen um Stuttgart 21 einsetzte, begann jedenfalls ein Teil der Medien, über die Grünen als neue Volkspartei zu debattieren, DER SPIEGEL widmete diesem Thema im November gar die Titelstory. Der Medienhype ebbte zwar Anfang dieses Jahres, als sich die Umfragewerte für die Grünen wieder "normalisierten" und die Ökopartei bei der Bürgerschaftswahl in Hamburg nur ein mäßiges Ergebnis erzielte, schnell wieder ab, aber seit dem Wahlausgang in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz ist die Diskussion quer durch alle Medien wieder voll im Gange. Nüchtern betrachtet rechtfertigen aber bisher weder die demoskopischen Umfragewerte von über 20% auf Bundesebene noch die Wahlergebnisse in diesem Wahljahr die Medienspekulationen über den Aufstieg der Grünen zur Volkspartei. In Baden-Württemberg ist die CDU mit 39% und rund 14 Prozentpunkten Vorsprung vor den Grünen immer noch eindeutig die vorherrschende Volkspartei geblieben, in Rheinland-Pfalz liegen SPD und CDU mit jeweils 21 Prozentpunkten vor den Grünen, und in Hamburg hat die SPD erst vor wenigen Wochen bewiesen, dass man mit dem Abgesang auf die "alten" Volksparteien etwas differenzierter umgehen sollte.


Keine "klassische" Volkspartei

Auch aus politikwissenschaftlicher Sicht stellt sich die Frage, ob die Grünen tatsächlich auf dem Weg zur "Volkspartei" sind oder ob es sich beim gegenwärtigen Höhenflug nicht eher um ein flüchtiges Phänomen mit begrenzter Haltbarkeitsdauer handelt. Gemessen an der klassischen Definition sind die Grünen bisher alles andere als eine Volkspartei. "Volkspartei ist eine Selbstbezeichnung von Großparteien wie der SPD, CDU und CSU, die durch Ausweitung ihrer Wählerbasis nach möglichst vielen Stimmen für strategische Mehrheiten streben. Ihre politische Rhetorik und werbende Selbstdarstellung stützt sich dabei auf den Anspruch, schichtübergreifend und weltanschaulich verbindend breite Wählerschichten in sich aufzunehmen und in ihrer Interessenvielfalt ausgleichend vertreten zu wollen", so Dieter Nohlen in seinem Politiklexikon. Ihrem Selbstverständnis folgend war bisher kaum ein Streben festzustellen, "schichtübergreifend breite Wählerschichten in sich aufzunehmen" sowie deren "Interessenvielfalt ausgleichend vertreten zu wollen". Allerdings muss diese klassische Definition nicht unbedingt die Realitäten im heutigen deutschen Parteiensystem widerspiegeln. Paul Nolte hat bereits 2009 argumentiert, dass ein Fünf-Parteien-System nicht zwangsläufig das Ende der Volksparteien, sondern sogar ihre Vermehrung bedeuten könnte. Dabei unterstellte er der Linkspartei in Ostdeutschland und den Grünen in Westdeutschland ein starkes "integratives Moment". Beiden Parteien würde "in ihrer Milieugebundenheit und aufgrund eines stark moralisch gefärbten Zuspruchs schon seit langem die Integration von Besserverdienenden und Nichtsverdienenden, von Linken und Konservativ-Bürgerlichen" gelingen.

Ohne einem inflationären Gebrauch des Volksparteienbegriffs, der wie bei Nolte auf nähere Kriterien verzichtet, das Wort zu reden, lässt sich dennoch feststellen, dass empirisch gesehen die Grünen bei den letzten Wahlen tatsächlich in eine andere Dimension vorgestoßen sind. In Baden-Württemberg sind sie immerhin mit 23% zur stärksten Partei bei den Arbeitslosen geworden. Auch 19% der Arbeiter haben für die Grünen votiert. Bei den Selbstständigen liegen sie mit 31% rund 20 Punkte vor der SPD (11%) und der FDP (10%). In der Altersgruppe der 35- bis 44-jährigen Frauen erreichten die Grünen 37%. Des Weiteren konnten sie im relevanten Umfang nicht nur Stimmen von der SPD (140.000), sondern in gleicher Größenordnung auch von der CDU und FDP (zusammen 148.000) dazu gewinnen. Das positive Bild für die Grünen wird durch den Zustrom von 266.000 Nichtwählern sowie den Gewinn von mehreren Direktmandaten abgerundet (alle Zahlenangaben beruhen auf der Analyse von infratest dimap zur Landtagswahl in Baden-Württemberg). Unter dem Strich kann man feststellen, dass die Grünen in einem im Prinzip strukturkonservativen Bundesland wie Baden-Württemberg in Wählerschichten vorgedrungen sind, die für sie vor wenigen Jahren noch unerreichbar schienen.

Es fällt auf, dass trotz dieser Erfolge die grüne Parteielite bemüht ist, die von den Medien forcierte Zuschreibung als "Volkspartei" weit von sich zu weisen. Stephan Löwenstein schrieb in der FAZ vom 30.3. 2011: "Wer auf der Suche nach einem Wort ist, mit dem er Grüne zuverlässig erschrecken kann, der sollte es mit 'Volkspartei' versuchen". Ganz so bescheiden, wie sie jetzt tun, sind die Grünen aber schon seit längerem nicht mehr. Bereits im letzten Jahr hörte man von Renate Künast neue Töne, als sie in einem Interview sagte: "Dass wir die linke Mitte sind, heißt nicht, dass wir allein die kurzfristigen Interessen der Mitte vertreten. Sondern uns geht's um's Ganze, wir machen Politik für's ganze Land" (DIE WELT vom 24.06.2010). Hier klang bereits der Anspruch durch, sich endgültig vom Image einer ökologischen Nischenpartei zu entfernen. Zumindest in Baden-Württemberg ist dies - wenn auch unter Ausnahmebedingungen - geglückt.

Mit ihrer neuen Rolle im Parteiensystem als Mittelpartei wächst den Grünen automatisch mehr Verantwortung zu, wenn sie die hinzugewonnenen Wähler nicht verprellen wollen. Sie werden nachweisen müssen, dass man als führende Regierungspartei in der Lage ist, integrativ zu wirken und unterschiedliche Wählerinteressen zu berücksichtigen. Wie weit dieser Weg ist, zeigt die Tatsache, dass die Wähler in Baden-Württemberg ihnen bisher nur in der Energie- und Verkehrspolitik hohe Kompetenzwerte zuweisen, während 59% der Meinung sind, dass sich die Grünen zu wenig um Wirtschaft und Arbeitsplätze kümmern. Es wird also nicht zuletzt an dem "Experiment" der grün-roten Landesregierung in Baden-Württemberg hängen, ob es gelingt, die diesbezüglichen Zweifel zu zerstreuen.


Lothar Probst (* 1952) ist Leiter des Arbeitsbereiches Wahl-, Parteien- und Partizipationsforschung am Institut für Politikwissenschaft der Universität Bremen.
Homepage: www.lotharprobst.de


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 6/2011, S. 28-30
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Juli 2011