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PARTEIEN/117: Der Aufstieg der Piratenpartei und das Unbehagen an der politischen Klasse (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 10/2012

Freibeuter des Politischen
Der Aufstieg der Piratenpartei und das Unbehagen an der politischen Klasse

Von Herfried Münkler



Piraten, das sind diejenigen, die von der Arbeit der anderen leben. Sie pflügen nicht und säen nicht, sie mauern und zimmern nicht, sondern liegen an den Transportwegen der Güter und Waren auf Lauer, um sich mit List und Gewalt anzueignen, was andere geschaffen haben. Freilich, diejenigen, die von ihnen überfallen und ausgeraubt werden, sind auch nicht die ursprünglichen Produzenten der Güter, sondern Kaufleute und Schiffseigner, die aus der Kenntnis von Handelsrouten und Preisunterschieden Gewinne ziehen. Piraten, so könnte man sagen, sind ein mehr oder weniger drückender Tribut, der auf dem Seehandel lastet. Aber es muss Seehandel geben, damit Piraterie entstehen kann.

Nun sind Händler und Kaufleute freilich nicht immer gut angesehen. Sie nützen Knappheit und Mangel aus, um überhöhte Gewinne einzustreichen, so der Vorwurf. Die Großhändler und Bankiers werden reich, während die Produzenten arm bleiben. Von diesem antikapitalistischen Ressentiment profitieren die Piraten. Sie werden zum Faktor ausgleichender Gerechtigkeit stilisiert: Wenn die Pfeffersäcke die Bauern und Arbeiter in anderen Erdteilen ausplündern und die Käufer daheim mit überzogenen Preisen übers Ohr hauen, dann geschieht ihnen nur recht, wenn eines ihrer Schiffe von Piraten gekapert wird und mitsamt Ladung verschwindet. Die Romantisierung der Piraten von den Störtebecker-Geschichten bis zu den jüngeren Hollywoodfilmen beruht auf dem Ressentiment gegen die Großhändler und Bankiers sowie die mit ihnen verbündeten korrupten Politiker. So avancierten die Piraten zur Verkörperung einer Freiheit, die man im normalen Leben nicht haben konnte. Und in diese imaginierte Freiheit mischte sich noch der Traum von ewiger Jugend sowie Abwechslung und Abenteuer.

Man muss diese Romantisierung des Piratentums im Blick haben, um zu verstehen, warum eine politische Partei sich "Piraten" nennt und innerhalb kürzester Zeit großen politischen Zuspruch gewinnen kann. Mit der Selbstetikettierung als Räuber und Strauchdiebe wäre dies nicht möglich gewesen. Letztere überfallen einsame Wanderer und arme Leute, um ihnen den Rest ihrer Habseligkeiten abzunehmen. Piraten dagegen legen sich mit den Reichen und Mächtigen an. Sie gelten als die Rächer der kleinen Leute. Von dieser Vorstellung profitieren auch die politischen Piraten. Sie sind Sammler der Unzufriedenheit mit Bankern und Managern sowie einer politischen Klasse, die es nicht schafft, dem frivolen Treiben des großen Geldes Einhalt zu gebieten.

Piraterie in ihrer politromantischen Überformung ist also ein Gerechtigkeitsversprechen ohne inhaltliche Präzision und bestimmte Zukunftsperspektive. Dementsprechend haben sich auch die Piraten des deutschen Festlands nicht auf ein aussagekräftiges Programm und koalitionsfähige Aussagen festlegen lassen. Sie spüren, dass sie, sobald sie es täten, einen erheblichen Teil ihrer Attraktivität verlören. Die wahltaktische Kapitalisierung der Piratenromantik wird durch eine politische Programmatik nur gestört. Insofern haben die Piraten alles richtig gemacht, als sie entsprechenden Aufforderungen aus den Reihen ihrer Konkurrenten die kalte Schulter zeigten. Piraten bauen keine neue Gesellschaft, sondern profitieren von der Gunst des Augenblicks.

Aber womöglich haben die politischen Piraten doch mehr zu bieten als ihre Namensgeber zur See. Die Bemerkung der zeitweiligen Bundesgeschäftsführerin Marina Weisband, die Piraten böten kein detailliertes politisches Programm, sondern ein alternatives politisches Betriebssystem, hat aufhorchen lassen. Was konnte damit gemeint sein? - Beschleunigung von Verfahren durch liquid democracy war die eine Antwort, Ersetzung gesellschaftlicher und politischer Teilhabe qua Eigentum durch die Herstellung eines allgemeinen und unbegrenzten Zugangs die andere. Die bestehende Parteiendemokratie hätte sich danach ebenso überlebt wie eine Gesellschaftsordnung, deren Grundlage privates Eigentum war. Die Piraten, so die message, kannten den Ausweg aus der Sackgasse der postdemokratisch erstarrten kapitalistischen Gesellschaft, ohne deswegen mit den alten sozialistischen Rezepten und dem ewigen Ruf nach dem Staat kommen zu müssen. Im Gegenteil: Vor allem dem Drang des Staates, immer mehr wissen und die Bürger überwachen zu wollen, sagten sie den Kampf an. Die Forderungen nach freiem Internetzugang, kostenloser Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs und schließlich einem gesicherten Grundeinkommen sind Ideen, die dem klassischen Piratenwesen alle Ehre machen: Der Handel auf den Weltmeeren findet nun einmal statt, es kommt bloß darauf an, ihn freibeuterisch zu nutzen. Es wird kurzerhand vorausgesetzt, dass die Güter und Leistungen, um deren Gebrauch und Nutzung es geht, vorhanden sind. Dagegen steht die Grundidee der bürgerlichen Eigentumsgesellschaft, dass das Nutzbare erst geschaffen werden muss und Eigentumstitel immer auch Anreize sind, sich tatkräftig an der Herstellung des Nutzbaren zu beteiligen. Die Voraussetzung der Teilhabe ist hier die Herstellung.

Die Antwort der Piratenpartei auf dieses Problem hat nichts mit der herkömmlichen Piraterie zu tun, sondern verweist auf ein altes Rechtsinstitut des Dorfes: die Allmende. Bei der Allmende handelt es sich um Gemeineigentum, das von allen genutzt werden kann und so den Ärmeren eine Überlebenschance bietet. In diesem Sinn ist die Piratenpartei der Interessenvertreter eines neuen Prekariats, des Prekariats der Dienstleistungsgesellschaft, bei dem die Verwertung der eigenen Arbeitskraft nicht ausreicht, um ein gesichertes Leben zu führen. Internet und öffentlicher Nahverkehr sind somit die Allmende der modernen Gesellschaft.


Der nützliche Schrecken

Das Problem der Allmende ist die Geschichte ihres Niedergangs: Während sie von allen genutzt wurde, fand sich niemand, der sie pflegte und in sie investierte. So wurde sie "überweidet", und zuletzt war sie nur noch ein zertrampeltes Stück Land. Der Sieg des Privateigentums war in Europa - auch - eine Reaktion auf die Tragödie der Allmende. Genau das, so die Antwort der Piraten, sei im Internetzeitalter anders, und Wikipedia, das aus dem kollektiven Wissen der Netzgemeinde entstandene Lexikon, das kostenlos allen zur Verfügung stehe, sei ein Beispiel dafür. Das ist ein beachtlicher Einwand, auch wenn man anmerken muss, dass das Internetlexikon insofern einen Sonderfall darstellt, als es bei ihm nicht zur Übernutzung wie beim Weideland kommen kann. Aber ist Wikipedia wirklich das Produktionsmodell künftiger Gesellschaften? Das wird man bezweifeln müssen.

Und wie steht es um die liquid democracy? Wir beobachten seit einiger Zeit, dass der Entscheidungsbedarf der Politik immer schnelleren Rhythmen folgt, denen gegenüber die demokratischen Verfahren in Rückstand geraten. Die Märkte - und nicht mehr die Parlamente - geben den Rhythmus der Politik vor. Die Folge dessen ist ein Bedeutungsverlust des Parlaments gegenüber der Regierung. Das Bundesverfassungsgericht hat sich in mehreren Urteilen darum bemüht, dem Parlament wieder zu seinem Recht zu verhelfen und eine Entschleunigung des Politikprozesses eingefordert. Die Piraten dagegen setzen auf Beschleunigung. Die Abstimmung im Netz soll die politischen Entscheidungsverfahren wieder an die Dynamik der Märkte heranführen. Aber was sollen das für Entscheidungen sein, bei denen die Beratung praktisch wegfällt und auf den Mouseclick am PC reduziert wird?

Vermutlich wird eine "Gefällt mir"-Demokratie die Partizipation der Bürger nicht stärken, sondern schwächen. Die Macht wandert zu denen, die die Fragen stellen und damit die Antworten präformieren. Doch allen Einwänden zum Trotz - die Piraten sind ein politisches Experiment, bei dem eine Reihe von Fragen neu gestellt werden. Vor allem aber sind sie eine Herausforderung der politischen Klasse, denn diese neigt zu Selbstgefälligkeit und Arroganz. Ab und zu muss ihnen ein gehöriger Schrecken in die Glieder fahren, ganz so, wie das im Seehandel die Piraten getan haben. Die Piraten haben der deutschen Demokratie einen großen Dienst erwiesen. Sie sind der Schrecken, den die politische Klasse von Zeit zu Zeit braucht.


Herfried Münkler (* 1951) ist Professor am Institut für Politikwissenschaft der Humboldt-Universität in Berlin. Zuletzt bei Rowohlt Berlin erschienen: Die Deutschen und ihre Mythen.
(herfried.muenkler@rz.hu-berlin.de)

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 10/2012, S. 64-66
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. November 2012