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REDE/766: Merkel in der Debatte zur Situation in Deutschland, 08.09.09 (BPA)


Presse- und Informationsamt der Bundesregierung
"REGIERUNGonline" - Wissen aus erster Hand

Rede von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel in der Debatte zur Situation in Deutschland vor dem Deutschen Bundestag am 8. September 2009 in Berlin:


Sehr geehrter Herr Präsident!
Meine Damen und Herren!

Die zentrale Frage, vor der wir in den nächsten Monaten und Jahren stehen, heißt: Wird Deutschland es schaffen, nachhaltig gestärkt aus der Krise zu kommen, oder werden andere auf der Welt unseren Platz einnehmen, weil wir es versäumen, die Quellen unseres Wohlstands von Morgen zu finden und zu nutzen? Denn eines ist klar: In dieser internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise werden die Karten auf der Welt neu gemischt. Alle Länder versuchen, ihre Position zu verbessern. Das haben wir bei der Struktur der Konjunkturprogramme erlebt. Deshalb ist es wichtig, dass wir unsere Aufstellung, die Aufstellung der Bundesrepublik Deutschland für die Zukunft, finden.

Es sei mir ein kurzer Rückblick gestattet. Gestern haben wir in Bonn des Ereignisses gedacht, dass dort vor 60 Jahren der Deutsche Bundestag zum ersten Mal zusammengetreten ist. Das geschah damals in einem völlig zerstörten Land. Es war nicht sicher, ob die Aufbauarbeit gelingen wird. Sie gelang, Schritt für Schritt, und im Rückblick bezeichnen wir diese Zeit als die Zeit des Wirtschaftswunders.

Ich erinnere auch an den September vor 20 Jahren. In jenem September begannen die Montagsdemonstrationen, und die Flüchtlingsströme in Richtung Westen wurden immer größer. Niemand wusste damals, ob sich die Zukunft zum Besseren wenden würde. Die Freiheit hat gesiegt, und wir sind heute ein einiges Vaterland. Auch der Aufbau der neuen Bundesländer gelang, Schritt für Schritt und manchmal langsamer, als wir dachten; aber es ist geschafft.

Im September vor einem Jahr, vor fast genau zwölf Monaten, führte der Fall der US-Bank Lehman Brothers beinahe zu einem Zusammenbruch des internationalen Finanzsystems. Diesen Tag und die darauffolgenden Tage hat manch einer mit den Worten "Wir haben in den Abgrund geblickt" beschrieben. Das ist bildhaft beschrieben, aber es ist richtig.

Seitdem sind wir in der schwersten Wirtschaftskrise, die die Bundesrepublik Deutschland in ihrer 60-jährigen Geschichte erlebt hat. Wir hatten während der Erdölkrise in den 70er Jahren einmal einen Einbruch des Wirtschaftswachstums auf minus 0,9 Prozent - und sonst immer positive Wachstumsraten. In diesem Jahr werden es minus 5,5 Prozent bis minus sechs Prozent sein.

Aber - das ist die gute Botschaft - wir können immer klarer sehen: Offensichtlich ist die Talsohle erreicht. Das Bankensystem ist vor dem Zusammenbruch bewahrt worden, die sozialen Sicherungssysteme in unserem Lande haben gehalten, die Betriebe leisten Großartiges, und die Politik hat Handlungsfähigkeit bewiesen. Dennoch sage ich angesichts dieser Debatte auch mit Blick auf die Zukunft: Es wird noch ein langer Weg sein, bei der Wirtschaftskraft wieder das zu erreichen, was wir vor der Krise bereits erreicht hatten; denn auch 0,3 Prozent Wachstum im letzten Quartal können angesichts eines Einbruchs auf minus sechs Prozent natürlich längst nicht das Ende der Krise bezeichnen.

Wir haben aber auch erlebt: Deutschland ist stark, Deutschland ist stabil. Das ist das Deutschland des Jahres 2009, und das Deutschland des Jahres 2009 ist stärker als das Deutschland des Jahres 2005.

Wir können erst einmal festhalten, dass wir bei der Meisterung dieser Krise viele Antworten auf Fragen gefunden haben, die uns sicherlich zu allen Zeiten beschäftigen, zum Beispiel, ob der Staat in solchen Krisensituationen überhaupt eingreifen und eine aktive Wirtschaftspolitik machen darf oder nicht. Das ist ja viel diskutiert worden. Ich finde, es ist klar: Er darf es nicht nur, er muss es in bestimmten Situationen tun.

Die zweite Frage, die sich immer wieder gestellt hat und die wir immer wieder diskutiert haben, ist die Frage, ob der Staat nicht eigentlich der bessere Unternehmer wäre. Ich sage klar: Er ist es nicht, und er wird es niemals werden. Unternehmen haben ihren eigenständigen Wert.

Ich glaube auch, der Streit, welche Partei sich nun am meisten für den Erhalt von Arbeitsplätzen einsetzt, ist ein Streit, den wir nicht zu führen brauchen; denn alle, die wir hier sitzen, haben ihre Vorstellungen davon, wie man Arbeitsplätze schaffen kann. Der Streit geht um die Frage, wie wir das schaffen und welche Konzepte wir dafür für richtig halten.

Ich finde, es haben sich drei Stärken als Fundament für die Zukunft unseres Landes erwiesen:

Das sind zum Ersten die Menschen, die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes. Sie haben in dieser Krise zusammengehalten, ob in den Betrieben, bei den Belegschaften, in den Unternehmen, bei den Managern oder auch in den Eigentums- und Familienunternehmen. Viele sind jeden Abend mit Sorgen ins Bett gegangen und haben nachts vielleicht nicht schlafen können. Sie haben sich aber immer wieder dafür entschieden, die Beschäftigten zu halten und nicht leichtfertig aufzugeben. Dafür ein herzliches Dankeschön.

Die Betriebsräte haben genauso verantwortlich gehandelt. Man hätte protestieren können. Die unternehmerische Vernunft hat sich durchgesetzt, auch bei den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Man hat in vielen Fällen zusammengehalten.

Die zweite Stärke unserer Wirtschaft ist, dass sich der Mittelstand als besonders stabil erwiesen hat. Er hat es nicht einfach, aber er hat sich als das Rückgrat unseres Landes erwiesen. Das, was seit der Schaffung der sozialen Marktwirtschaft von Ludwig Erhard immer unser Credo war, dass nämlich die Wettbewerbsbeschränkung dazu da ist, dass kleine und große Unternehmen des Mittelstandes in einem fairen Wettbewerb miteinander agieren können, hat sich in dieser schwierigen Situation als die Stärke unseres Landes herausgestellt.

Ohne überheblich zu sein, dürfen wir drittens sagen: Auch die politischen Institutionen unseres Landes haben sich als handlungsfähig erwiesen. Bundesregierung, Verwaltung, Bundestag, Bundesrat: Sie alle - ich schließe die Kommunen mit ein - haben ihre Handlungsfähigkeit bei der Umsetzung des Infrastrukturprogramms gezeigt. Wir können stolz auf das sein, was unser Land in den letzten zwölf Monaten geleistet hat.

Am Anfang sind wir viel dafür kritisiert worden - gerade auch international -, wie wir unsere Konjunkturprogramme anlegen. Inzwischen gibt es ein breites Nachahmungsprogramm, ob es die Kurzarbeit, die Umweltprämie für Autos oder alle Versuche der Stabilisierung des Binnenmarktes sind. Die Maßnahmen werden in vielen europäischen Ländern und auch in den Vereinigten Staaten von Amerika angewandt.

Unser Programm war also richtig, inklusive des Infrastrukturprogramms für die Kommunen - was die Bauwirtschaft in diesen Tagen auch bestätigt -, und wir sagen: Wir arbeiten für die Zukunft. Wir machen aus dieser Krise eine Chance. Wir machen etwas Positives aus dieser Krise.

Ein Thema, das uns auch in den nächsten Monaten beschäftigen wird, ist die Kreditklemme. Viele Unternehmen haben Angst. Unternehmen, die lange Jahre eine stabile Basis hatten, bekommen heute nur unter sehr schwierigen Bedingungen von den Banken Kredite. Hier kommen viele Effekte zusammen, aber ich möchte an dieser Stelle auch noch einmal die Banken und Finanzinstitutionen unseres Landes auffordern, ihrer Aufgabe endlich wieder ein Stück mutig und verantwortungsvoll zu entsprechen.

Es war auch richtig, in unserem Konjunkturprogramm ein großes Kredit- und Bürgschaftsprogramm aufzulegen. Wir haben jetzt erste Erfahrungen mit diesem Programm. Ich kann nur sagen: Es hat sich herausgestellt, dass wir selbstverständlich jedes Unternehmen gleich behandeln. Wir behandeln die kleineren und die mittel-ständischen Unternehmen genauso wie die großen, und wir können von den etwa vier Milliarden Euro, die im August ausgereicht worden sind, sagen, dass zwei Drittel der Gelder - gemessen an der Zahl der Unternehmen ist es ein viel größerer Anteil; dort sind es über 99 Prozent - von mittelständischen Unternehmen in Anspruch genommen werden und sie die Genehmigung bekommen werden. Jedes Unternehmen hat in unserem Land die gleiche Chance. Alle Unternehmen werden von uns gleich behandelt.

Ich will aber hier keinen Rückblick machen, sondern nur an einem Faktum aufzeigen, dass wir in den letzten vier Jahren vorangekommen sind. Trotz der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise haben wir derzeit immerhin noch 1,25 Millionen mehr sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse als Ende 2005. Das ist ein Erfolg der Großen Koalition. Das stabilisiert unsere sozialen Sicherungssysteme.

Allen Unkenrufen zum Trotz haben sich unsere sozialen Sicherungssysteme als stabil erwiesen. Am Anfang unserer Regierungsarbeit sah es so aus, als hätten wir im Rentensystem eine Lücke von zwei bis drei Milliarden Euro. Durch die verbesserte Beschäftigungslage haben wir im Rentensystem heute Rücklagen von 15 Milliarden Euro. Der Gesundheitsfonds, der so vielfältig kritisiert wird, hat sich als ein ausgesprochener Stabilisator in dieser schwierigen Situation erwiesen. Das wird auch in Zukunft der Fall sein.

Worum geht es in der Zukunft? Ich glaube, wir haben in den letzten Monaten erfahren, dass die soziale Marktwirtschaft als unsere gesellschaftliche Ordnung das richtige Wertefundament für eine zukunftsfähige Wirtschaft ist. Sie gibt uns die Maßstäbe und Möglichkeiten, auch im Rahmen dieser sozialen Marktwirtschaft Weiterentwicklungen vorzunehmen und auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu reagieren.

Ich will an dieser Stelle deutlich machen: Es war richtig, dass wir uns mit der Vergütung von Managern befasst haben. - Ich weiß ja, dass Sie weitergehende Vorstellungen hatten, Herr Poß. Ich kann Ihnen Folgendes sagen - darüber werden wir uns wahrscheinlich jetzt nicht mehr einig werden -: Wenn Sie zum Beispiel die Versteuerung ab einem Verdienst von einer Million Euro fordern und glauben, damit würden Sie dem Problem gerecht werden, dann kann ich Ihnen nur sagen, dass man das in Amerika gemacht hat. Das hat zu einer extensiven Verwendung von Boni geführt, über die wir jetzt wieder sprechen, und wir versuchen, sie zu unterbinden. Das ist doch der Punkt. Das alleine hilft doch nicht. Darin sind wir halt unterschiedlicher Meinung, aber einiges haben wir zustande gebracht.

Wir haben seitens der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungen Mindestanforderungen für Boni definiert, die ihresgleichen suchen. Natürlich spüren wir alle, selbst wenn wir in einigen Fragen unterschiedlicher Meinung sind - das ist auch gut so; wenn wir jetzt im Wahlkampf sind, können wir uns unterscheiden -, dass die Frage nach Managervergütungen und Bonuszahlungen etwas mit dem tiefen Empfinden der Menschen für Gerechtigkeit in der sozialen Marktwirtschaft zu tun hat. Deshalb sind wir wahrscheinlich gemeinschaftlich der Meinung - hier helfen Ihre Forderungen nicht weiter -, dass zum Bespiel eine Bezahlung von Herrn Eick für sechs Monate Arbeit mit einem Fünfjahresvertrag nicht das ist, was dem Gerechtigkeitsgefühl der Menschen entspricht. Ich bin dabei, zu überlegen, wie zum Beispiel verhindert werden kann, dass man Gehälter für fünf Jahre bekommt, wenn man keine sechs Monate gearbeitet hat. Das halte ich für sinnvoller als eine schärfere Besteuerung von Managergehältern.

Die zweite Lehre ist, dass wir in Zukunft unsere Wirtschaftsweise stärker auf Nachhaltigkeit ausrichten müssen. Deshalb halte ich es für außerordentlich wichtig - ich will ein Lob für uns alle äußern; das hat bislang keiner in der Welt nachgemacht -, dass wir, Bund und Länder, die Kraft aufgebracht haben, eine Schuldenbremse für die Zukunft im Grundgesetz zu verankern und uns zu einer nachhaltigen Haushaltsführung zu verpflichten. Ich danke allen, die dabei mitgewirkt haben.

Ich sehe einen dritten Punkt, wenn es um die Zukunft unserer Wirtschaft geht. Wir können stolz darauf sein und uns darüber freuen, dass wir breit aufgestellt sind, dass wir eine breite Industriestruktur haben. In der jetzigen Krise hat sich gezeigt, dass die Länder, die sich einseitig orientieren und keine Vielfalt haben, sehr viel schwerer betroffen sind. Ich sage für die Zukunft: Sollte es einen ernsthaften Streit über Industriegesellschaft und Dienstleistungsgesellschaft gegeben haben, müssen wir ihn aufgeben. Wir brauchen beide. Beide müssen Säulen unseres zukünftigen wirtschaftlichen Erfolgs sein.

Deshalb ist die Debatte, ob wir weg von der Position müssen, vorne beim Export und sogar Exportweltmeister zu sein, natürlich falsch. Wir müssen alles daran setzen, innovative Produkte zu haben, um den Export als eine der wirklich wichtigen Säulen unserer Wirtschaft zu stärken. Aber richtig ist auch, dass wir gleichzeitig darauf achten müssen, dass sich der Dienstleistungsbereich entwickeln kann. So ist es richtig, darauf zu setzen, dass wir im Maschinenbau und der Feinmechanik stark sind sowie den modernen Fahrzeugbau nach vorne bringen. Deshalb haben wir in unserem Konjunkturprogramm zum Beispiel die Elektromobilität gefördert. Deshalb haben wir, die Bundesregierung, einen Plan beziehungsweise ein Konzept, das weit über diese Legislaturperiode hinausreicht, aufgestellt, aus dem hervorgeht, wie wir die Elektromobilität nach vorne bringen. Wir werden mit den betreffenden Unternehmen sprechen müssen und sie darauf aufmerksam machen, dass sie in einer so wichtigen Frage zusammenarbeiten müssen; denn es nutzt uns nichts, wenn jeder deutsche Automobilproduzent mit einem anderen Anbieter zusammenarbeitet, um die Batterieentwicklung voranzubringen. Wir wollen vielmehr - genauso wie unsere Vorfahren am Anfang des 20. Jahrhunderts die ersten Benzinautos gebaut haben - diejenigen sein, die bei der Elektromobilität vorne dabei sind.

Natürlich ist es richtig, dass wir auf Energieeffizienz und erneuerbare Energien setzen und die Medizintechnik voranbringen. Deshalb ist es umso wichtiger, dass wir vernünftige Rahmenbedingungen für die wirtschaftliche Entwicklung und die Industrie schaffen. Dazu sage ich, wenn ich in die Zukunft schaue: Wir müssen alles verhindern, was zu prozyklischen Effekten bei der Unternehmensbesteuerung führt. Wir haben eine erste Korrektur vorgenommen. Ich bin mir nicht sicher, ob wir nicht in einigen Monaten noch einmal nachsteuern müssen. Ich würde das jedenfalls für wichtig halten, weil es die Zukunft unserer Wirtschaft beeinflusst.

Wir haben in dieser Legislaturperiode - das muss weiterentwickelt werden - den Dienstleistungsbereich gestärkt. Wir haben ihn gestärkt, indem wir angefangen haben, den privaten Haushalt zu einem Arbeitgeber zu machen. Das ist eine ganz wichtige Initiative gewesen; denn in einer alternden Gesellschaft, in der wir mehr Dienstleistungen von Menschen für Menschen brauchen, muss der Haushalt als Arbeitgeber gestärkt werden. Dieser Weg ist eingeleitet - wir sind Gott sei Dank darüber hinweg, dass wir über das Dienstmädchenprivileg streiten -, und wir alle wissen: Von der Kinderbetreuung bis hin zu handwerklichen und anderen Dienstleistungen sollten wir den Haushalt stärken, weil er auch Menschen, die keine ganz gute Ausbildung haben, eine Beschäftigungschance bietet und die Arbeit im Haushalt gleichzeitig anderen Menschen dient und diesen Freude macht.

Alles in allem müssen wir vor allen Dingen wieder unsere mittelständische Basis stärken. Hier geht es darum, dass wir eine kluge Steuerpolitik betreiben. Ich glaube, dass es in der jetzigen Zeit nicht richtig ist, ein Signal für Steuererhöhungen zu setzen, weil diese auch mittelständische Unternehmen und selbstständige Personengesellschaften treffen. Die aber brauchen wir, denen dürfen wir keine Knüppel zwischen die Beine schmeißen, sondern wir müssen ihnen sagen: Ihr habt ein Zuhause bei uns, ihr dürft nicht abwandern; denn die Arbeitsplätze sollen bei uns in Deutschland entstehen.

Ich sage ganz eindeutig: Diese Bundesregierung hat mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz für wichtige Weiterentwicklungen gesorgt. Damit werden gerade die Umwelttechnologien und die neuen Energien gefördert. Das ist ein wichtiger Exportbereich. Für uns in Deutschland ist es jetzt von entscheidender Bedeutung, dass es uns gelingt, in Kopenhagen international verbindliche Verpflichtungen für die Zukunft zu vereinbaren, damit wir einen stabilen Exportmarkt haben und gleichzeitig zu einer globalen Verbesserung unserer Klimasituation beitragen. Das ist Wirtschaft und Umwelt zusammen.

Das zentrale Thema, das uns im nächsten Jahrzehnt wesentlich begleiten wird, ist die Bildungspolitik. Ich habe mich außerdem dafür eingesetzt, dass wir die Integrationsaufgabe im Bundeskanzleramt ansiedeln. Das hat sich bewährt. Es ist zu einem Nationalen Integrationsplan von Bund, Ländern und Kommunen gekommen. Da ist noch vieles umzusetzen, und das wird die nächste Legislaturperiode bestimmen. Aber der Ansatz ist richtig. Integration ist eine Schwerpunktaufgabe und muss weiterentwickelt werden. Bildung ist das zentrale Thema für die Frage des Wohlstands in der Zukunft. Darüber sind wir uns parteiübergreifend einig, wenngleich wir über die Ausgestaltung, wie häufig, unterschiedliche Meinungen haben. Ich bin dafür, dass wir uns für ein gegliedertes Schulsystem entscheiden und dass wir natürlich die Durchlässigkeit fordern, aber gleichzeitig Leistung belohnen und Leistungsanreize setzen, auch schon bei Kindern. Ich halte, mit Verlaub gesagt, nichts davon, dass man wie in Berlin Gymnasialplätze in Zukunft verlosen will. Das scheint mir die falsche Antwort auf die Frage, wie wir vorgehen, zu sein.

Wir kennen die unterschiedlichen Zuständigkeiten, aber wir wissen, dass wir in der Bildungspolitik natürlich zusammenarbeiten müssen. Deshalb habe ich - nicht zur Freude aller Ministerpräsidenten, um es vorsichtig auszudrücken - zu einem Bildungsgipfel zusammen mit der Bundesbildungsministerin und dem Bundesarbeitsminister eingeladen. Wir haben konkrete Vereinbarungen getroffen, die wichtig sind: Halbierung der Zahl der Schulabbrecher, Investition von zehn Prozent des Bruttoinlandprodukts in Forschung und Bildung bis zum Jahr 2015. Wir haben Pakte zur Förderung der Hochschulabsolventen abgeschlossen. Für die Förderung der Forschungseinrichtungen wird es jedes Jahr einen Zuwachs der Mittel von fünf Prozent geben. Da gibt es jetzt ein hohes Maß von Berechenbarkeit für die Zukunft. Wir haben gesagt, die Exzellenzinitiative muss weitergeführt werden, weil wir nur mit exzellenten Forschungs- und Hochschulinstitutionen die Zukunft wirklich gestalten können.

Ich bin dafür - ich will das ganz klar sagen -, dass wir die Schulpolitik bei den Ländern belassen. Aber ich bin dagegen, dass die Schulpolitik in den Ländern so ausgestaltet wird, dass man in Deutschland nicht umziehen kann. Deshalb war es wichtig, dass die Kultusminister sich auf gleiche Standards geeinigt haben. Außerdem bin ich dagegen, dass wir zulassen, dass Schulabsolventen von den Industrie- und Handelskammern das Zeugnis ausgestellt wird, dass sie nicht ausbildungsfähig sind. So etwas kann sich unser Land nicht leisten. Deshalb war der Bildungsgipfel ein Erfolg und muss gleich in der nächsten Legislaturperiode umgesetzt werden. Auch daran zeigt sich, dass wir unsere Arbeitswelt gerade an der Anerkennung für diejenigen ausrichten müssen, die Bildung - vom Kleinkind bis hin zur Weiterbildung in den Betrieben - vermitteln.

Wenn ich einen kritischen Punkt zu unserem Konjunkturprogramm sagen darf: Die Weiterbildungsmöglichkeiten, die wir in diesem Konjunkturprogramm angeboten haben, wurden von den Unternehmen leider sehr zögerlich angenommen. Lebenslanges Lernen wird eine Aufgabe sein, die uns in den nächsten Jahren begleitet. Hier müssen wir sehr viel mehr Druck machen. Mit dem Erreichten kann man noch nicht zufrieden sein.

Wir haben nach innen einiges auf den Weg gebracht. Es zeichnet sich ab, wo die Aufgaben der nächsten Legislaturperiode liegen. Ich bin dafür, dass wir alles tun, um den Zusammenhalt unserer Gesellschaft zu fördern. Das bedeutet Motivation für jeden. Ich sage: Die Krise ist erst vorbei, wenn wir aus der Talsohle wirklich heraus sind und wieder da sind, wo wir vorher waren. Deshalb brauchen wir auch Motivation für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Deshalb gibt es innerhalb der Großen Koalition eine unterschiedliche Auffassung darüber, ob wir gerade bei der kalten Progression, bei der Steuererhöhung durch die Hintertür, für diejenigen, die den Tag über arbeiten, die Überstunden machen, die ein bisschen mehr Gehalt haben, auch dafür Sorge tragen müssen, dass sie zum Schluss wirklich mehr im Portemonnaie und auf dem Konto haben.

Uns ist in dieser Krise bewusst geworden, dass wir als Bundesrepublik Deutschland allein nicht agieren können. Uns ist bewusst geworden, dass die Europäische Union in dieser Zeit eine ganz wesentliche Bedeutung hat. Wir sollten uns nur einmal vorstellen, was in der Finanzkrise auf uns zugekommen wäre, wenn wir keine gemeinsame Währung wie den Euro gehabt hätten - nicht auszudenken! Aber ich sage auch: Erfolgreich konnte das nur funktionieren, weil wir an bestimmten Grundprinzipien nicht gerüttelt haben. Klar ist: Mit der Union ist nicht zu machen, die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank aufzugeben, wie das in einigen Papieren aus Teilen dieses Hauses gefordert wurde.

Ich habe Herrn Trichet versprochen, dass die Europäische Zentralbank unabhängig bleibt, und ich werde mich auch dafür einsetzen, dass der Stabilitäts- und Wachstumspakt nicht angetastet wird, sondern die Leitlinie für die Zukunft unseres Landes bleiben wird.

Eine abschließende Bemerkung. Wir werden heute noch über den Lissabon-Vertrag beraten. Dieser Lissabon-Vertrag ist eine Bekräftigung unseres europäischen Engagements. Er bringt Europa näher zu den Bürgerinnen und Bürgern. Wir hatten dazu ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das besagt, dass das Parlament mehr Mitwirkungsrechte braucht. Dieses Urteil wird heute umgesetzt, und die Bundesregierung hat dabei, sofern sie gefragt war, konstruktiv mitgearbeitet.

Dieses Bundesverfassungsgerichtsurteil ist in der Europäischen Union mit großem Interesse aufgenommen worden, weil es natürlich die Frage stellt: Wie wird sich Deutschland in der Europäischen Union in Zukunft positionieren?

Ich habe zugesagt - ich werde das auch einhalten -, am 17. September, wenn wir uns zur Vorbereitung des G20-Gipfels treffen, meinen europäischen Kollegen zwei Dinge noch einmal deutlich zu machen:

Erstens. Urteile des Bundesverfassungsgerichts sind in Deutschland bindend bezüglich der Anwendung von Gesetzen, also auch des Lissabonner Vertrags.

Zweitens. Deutschland wird sein proeuropäisches Engagement beibehalten, und es wird weiter Motor der Europäischen Union sein. Das sind die beiden Botschaften für den Gipfel.

Eine letzte Bemerkung. Es ist so, dass wir uns in wenigen Tagen zum nächsten G20-Gipfel treffen werden. Die Finanzminister sind bereits am Wochenende in London zusammengekommen. Es geht darum, dass kein Finanzplatz, keine Institution und kein Produkt in der Krise ungeregelt bleiben. Was wir uns in der Krise vorgenommen haben, muss auch umgesetzt werden. Wir sind hier auf einem guten Weg, aber es gibt noch einiges zu tun.

Ein Punkt, der mir neben der Frage der Zahlung von Boni besonders am Herzen liegt, ist, dass wir nie wieder in eine Situation geraten dürfen, in der Banken Staaten erpressen können, weil sie so groß sind, dass sie glauben, den Staaten sozusagen die Pistole auf die Brust setzen zu können. Es wird an internationalen Regeln gearbeitet, was die Eigenkapitalhinterlegung anbelangt, damit Banken das von ihnen eingegangene Risiko selber tragen müssen.

Ich spüre schon wieder, dass die Ersten die verschiedenartigsten Ausreden finden, warum dies nun gerade nicht sein muss und warum Wachstum doch viel schneller zustande kommen könnte, wenn man solche Sicherungen nicht hätte. Für mich ist die Lehre - die werde ich zusammen mit dem Finanzminister beim G20-Treffen in Pittsburgh auch ganz deutlich machen -: nicht auf diese Stimmen hören, sondern auf nachhaltiges Wachstum setzen - im Sinne der Sozialen Marktwirtschaft, im Sinne der Prinzipien, die Deutschland stark gemacht haben. Das wird uns in unserer weiteren Arbeit prägen.


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Quelle:
Bulletin Nr. 93-4 vom 08.09.2009
Rede von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel in der Debatte zur
Situation in Deutschland vor dem Deutschen Bundestag am 8. September 2009 in Berlin
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. September 2009