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THEORIE/170: Natur als Markt - zur wissenschaftlichen Weltanschauung des Liberalismus (Sozialismus)


Sozialismus Heft 2/2009

Die Natur als Markt
Zur "wissenschaftlichen Weltanschauung" des Liberalismus

Von Edelbert Richter


Der Grund für die Linke, sich mit Darwin auseinanderzusetzen, liegt nicht in erster Linie am diesjährigen Jubiläum, auch nicht nur am Interesse an den unmittelbaren politischen Folgen seiner Theorie, denn diese haben wir, wie es scheint, seit 1945 hinter uns. Ein Grund kann in diesem Zusammenhang allerdings sein, noch einmal zu prüfen, ob die (alte) Linke ihre eigene, stark darwinistisch geprägte Vergangenheit wirklich aufgearbeitet hat und sich über den Zusammenhang von Natur- und Gesellschaftsvorstellungen im Klaren ist. Dem geht Edelbert Richter in einer kritischen Sichtung der politischen und ideologischen Stränge in der Wirkungsgeschichte Darwins nach.


Darwin und die Linke

In der Gegenwart ist die Linke die Partei, die sich am entschiedensten für eine friedliche Lösung internationaler Konflikte und zugleich für Maßnahmen gegen die Umweltzerstörung, also für ein friedlicheres Verhältnis zur Natur einsetzt. Dass beides existenzielle Probleme sind, ist jedermann klar, ebenso, dass sie engstens miteinander zusammenhängen. Beide Probleme, ihr Zusammenhang und entsprechende Lösungsvorschläge sind, jedenfalls seit den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts, auch schon bekannt. Dennoch überwiegt der Eindruck, dass wir die Thematik immer noch buchstabieren und bei der Antwort immer noch ganz am Anfang stehen. Henry Kissinger, nationaler Sicherheitsberater und Außenminister der USA in den 1970er Jahren, hat schon vor über 30 Jahren den Ressourcenkrieg gegen arabische Staaten angedroht, den wir jetzt haben - nach über 30 Jahren erfolgreicher Arbeit an Alternativen!

Gehen die Zusammenhänge, die in der Theorie doch sonnenklar sind, im Handeln wieder verloren? Handelt es sich bei Theorie und Erfahrung um zwei Sphären, die nun einmal nichts miteinander zu tun haben? Dann müsste man befürchten, dass es der Linken auch nur gelingt, jene Probleme und ihren Zusammenhang zu erkennen, solange sie in der Opposition ist. Sobald jedoch Handeln und Erfahrung beginnen, stellt sich womöglich heraus, dass der Frieden zwischen den Staaten und der Frieden mit der Natur gerade nicht auf einen Nenner zu bringen sind, sondern sich sogar widersprechen; und zwar weil einerseits die Natur selber und andrerseits die menschliche Geschichte von einem ganz anderen Gesetz beherrscht sind: dem des "Kampfes ums Dasein" mit Gewinnern und Verlierern.

Damit sind wir eben bei Darwin und der außerordentlichen Rolle, die seine Lehre in der alten Linken gespielt hat. In der Aufklärungs- und Bildungsarbeit der SPD vor dem Ersten Weltkrieg nahm sie eine Schlüsselstellung ein. So wurde den angehenden Referenten als erstes zur Lektüre empfohlen: Charles Darwin, Entstehung der Arten (Stuttgart 1860); Edward Aveling, Die Darwinsche Theorie (Stuttgart 1887); Hesse, Abstammungslehre und Darwinismus (Leipzig 1918); Ernst Haeckel, Die Welträtsel (Bonn 1899); Wilhelm Bölsche, Die Abstammung des Menschen (Stuttgart 1904), Stammbaum der Tiere (Stuttgart 1904), Im Steinkohlenwald (Stuttgart 1906). Besonders empfohlen wurde Bölsches "Liebesleben in der Natur" (Leipzig 1898), das vor allem vom Kleinbürgertum der Zeit hochgeschätzte Werk. "Schon Ende der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts wurde der Darwinismus im atheistisch-aufklärerischen Gewand durch die 'Neue Welt', die als 'sozialistische Gartenlaube' gekennzeichnet werden kann, in Zehntausende von Arbeiterhaushalten getragen." (Steinberg 1967: 140) Die Kehrseite dieser weltanschaulichen Orientierung war, dass die Masse der sozialdemokratischen Arbeiter (bei allem praktischen Engagement) in der Theorie der Gesellschaft weit weniger zuhause war, sodass 1918, als es ernst wurde, "sich die erdrückende Mehrheit trotz fünfzigjähriger Existenz der deutschen Sozialdemokratie unter Sozialismus nichts Klares vorstellen" konnte (Arthur Rosenberg, zit. in: Steinberg 1967: 141f.).

Die konstitutive Bedeutung, die die Evolutionstheorie dann für die leninistische Weltanschauung gehabt hat, ist unbestritten. Erst in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts gab es im Leninismus den (leider gescheiterten) Versuch, die Weltanschauungsfixierung überhaupt aufzubrechen und von der gesellschaftlichen Praxis her zu denken.

Die viel beschworene "objektive Gesetzmäßigkeit", die nach altlinker Lehre Natur und Geschichte beherrschte, war natürlich nicht einfach die des Daseinskampfes. Eine solche pauschale Verwendung Darwins tauchte zwar in der Frühzeit der deutschen Arbeiterbewegung auf (vgl. Friedrich Albert Lange, "Die Arbeiterfrage in ihrer Bedeutung für Gegenwart und Zukunft beleuchtet", Duisburg 1865), wurde aber von Marx scharf zurückgewiesen. Freilich hatten Marx und Engels selber diesen Gedanken durchaus nahegelegt, indem sie immer wieder betonten, Darwins Werk enthalte "die naturhistorische Grundlage" ihrer eigenen Auffassung, nämlich vom Klassenkampf als Motor der geschichtlichen Entwicklung (vgl. etwa Marx' Briefe an Engels 1860 und an Lassalle 1861, in: MEW 30: 131 u. 578). Aber was sie Lange hauptsächlich vorwarfen, war die mangelnde Konkretisierung des behaupteten Gesetzes. "Die These, dass der Kampf ums Dasein in der menschlichen Gesellschaft den Charakter von Klassenkämpfen annimmt, war in der Partei weit verbreitet und wurde auch von Bebel verfochten, der stets bestrebt war, die Übereinstimmung von Darwinismus und Sozialismus zu vertreten, und es bedauerte, dass viele prominente Darwinisten dem Sozialismus kein Interesse und Verständnis entgegenbrachten." (Steinberg 1967: 56)

Das alles hat Hannah Arendt dazu verführt, der Marxschen Theorie - obwohl "großartig erfüllt mit den besten abendländischen Traditionen" - einen Gesetzesfetischismus vorzuwerfen, der die Tendenz zum "Totalitarismus" enthalte: Wie beim Rassismus laufe es "auf ein Gesetz der Ausscheidung von Schädlichem oder Überflüssigem zugunsten des reibungslosen Ablaufs einer Bewegung hinaus, aus der schließlich gleich dem Phönix aus der Asche eine Art Menschheit erstehen soll." Entscheidend sei dabei, dass der Gegensatz zwischen Geschichte und Natur, d.h. moralischem Gesetz und Naturgesetz aufgehoben sei und "sich ein unwiderstehlicher Bewegungsprozess sowohl der Natur wie der Geschichte bemächtigt" habe (Arendt 1986: 951f.).

Hier werden jedoch alle, die Marx wirklich gelesen haben, Einspruch erheben und auch denen, die ihn nicht gelesen haben, wird zumindest der bekannte Vergleich zwischen der Arbeit der Biene und des Baumeisters aus dem "Kapital" einfallen (MEW 23: 193), der belegt, dass Marx zweifellos zwischen Natur und Geschichte unterscheidet. Entsprechend auch Engels in den Skizzen zur "Dialektik der Natur": "Hier schon - bei gesellschaftlich produzierten Entwicklungsmitteln - die Kategorien aus dem Tierreich total unanwendbar." (Engels 1873-1886: 565) Auch die Nachfolger haben doch mehrheitlich immer den Unterschied betont: Darwins Selektionsprinzip gelte nur für die Natur und höchstens für die "Vorgeschichte" der Menschheit gelte noch ein ähnlich brutales Gesetz. Die Pointe lag aber gerade darin, dass sich in ihr zugleich die Endgeschichte anbahnt, die durch Bewusstheit und Solidarität gekennzeichnet sein wird.

Freilich konnte man, wenn man von diesem Ziel aus dachte und Darwins Abstammungslehre ernstnahm, der Theorie noch eine andere Wendung geben: Ist der Unterschied zwischen Mensch und Natur doch nicht gravierend, dann ist eine solidarische Menschheit ja nur möglich, wenn die Grundlage dafür schon in der Natur gegeben ist, diese also gerade nicht hauptsächlich von jenem Gesetz des Kampfes und der Selektion bestimmt ist, sondern primär von dem der Kooperation. Das war der Ansatz von Kautskys materialistischer Geschichtsauffassung, mit der er gegen die Tendenz kämpfte, Darwin zur Rechtfertigung der bestehenden Konkurrenzverhältnisse zu benutzen (vgl. Kautskys 1876 unter Pseudonym im sozialdemokratischen "Volksstaat" veröffentlichten Aufsatz "Der Sozialismus und der Kampf ums Dasein", in: Steinberg 1967: 49). Dabei musste er Darwins Lehre zwar korrigieren, konnte aber auch an dessen Schilderung der sozialen Triebe bei Tieren anknüpfen. Nach Engels' Auffassung waren allerdings beide Thesen, sowohl die vom allgemeinen Kampf ums Dasein als auch die vom harmonischen Zusammenwirken in der Natur, nur teilweise berechtigt, absolutgesetzt aber "einseitig und borniert" (Engels 1873-1886: 564f.).

Dass Kautsky mit seinem Naturvertrauen in die Gefahr geriet, die bestehenden Konkurrenzverhältnisse nun gerade zu verharmlosen und die künftige solidarische Gesellschaft zu einer (buchstäblich) bombensicheren Sache zu erklären, war ihm offenbar nicht bewusst. Ebenso, dass er dem Altliberalismus in die Falle gegangen war, der ja ebenfalls von einer harmonischen Naturordnung ausgegangen war.

Am wichtigsten aber: Wenn man die Dinge wie Kautsky harmonisierte, dann war man den "Kampf ums Dasein" dennoch keineswegs los, denn diese Metapher bezog sich bei Darwin ja nicht nur auf die Auseinandersetzung zwischen den Lebewesen bzw. Populationen, sondern zumal auf die Auseinandersetzung mit der Umwelt. Und diese Umwelt wurde in Anknüpfung an den klassischen Ökonomen Thomas Robert Malthus (1766-1834) auch beim Menschen als letztlich unüberwindliche Schranke verstanden! Darwin hat damit in gewisser Hinsicht schon das vorweggenommen, was wir heute als ökologische Krise bezeichnen. Dass der Mensch so in die Natur eingeordnet wurde, hat die alte Linke zwar am Anfang noch verstanden (vgl. das oben erwähnte Buch von Lange und Karl Kautsky, "Der Einfluss der Volksvermehrung auf den Fortschritt der Gesellschaft", Wien 1880), aber ohne wiederum die Kritik von Marx und Engels an Malthus wirklich ernst zu nehmen, d.h. streng zu unterscheiden zwischen der bloß relativen Grenze, die die kapitalistische Gesellschaft der menschlichen Entwicklung setzt, und der absoluten Naturgrenze. Dann jedoch ist sie ins andere Extrem gefallen, hat nur noch die gesellschaftliche Grenze gesehen und die Naturgrenze ignoriert. Nun wollte sie nur noch fortschrittlich wie die Liberalen sein und überließ die Zivilisationskritik den Konservativen und Reaktionären, die natürlich umgekehrt alles Elend auf Naturursachen zurückführten und die gesellschaftlichen Ursachen ignorierten. Da der Linken diese Waffe der Zivilisationskritik, über die Marx und Engels noch verfügten, aber abhanden gekommen war, stand sie der Zivilisationskritik der Waffen, die mit dem Imperialismus einsetzte, mehr oder weniger hilflos gegenüber. Dass sie diesem Sozialdarwinismus schon im Denken nichts mehr entgegenzusetzen hatte, war der tiefere Grund ihres Versagens in der Außenpolitik! Der Selbstwiderspruch der Linken war, dass sie dem Glauben an den industriellen Fortschritt genauso verfallen war wie die Liberalen, zugleich jedoch Frieden wollte: Wie sollte das zusammengehen?


Kurze Erinnerung

Man hat die durchschlagende, wahrhaft ungeheure Wirkung, die Darwins Lehre gehabt hat, auf die Einfachheit ihres Grundgedankens zurückgeführt. Lassen wir die wissenschaftlichen Debatten also beiseite und versuchen wir, ihn zu vergegenwärtigen. Von zwei Tatsachen geht Darwin aus: Einerseits tendiert die Fortpflanzung der Lebewesen meist zu einem so starken Überschuss an Nachkommen, dass die jeweilige Population eigentlich in geometrischer Reihe anwachsen müsste. Andrerseits stellt sich jedoch heraus, dass dieses Wachstum keineswegs zustande kommt, sondern dass im Allgemeinen die Zahl der Individuen einer Art in einem bestimmten Lebensraum konstant bleibt. Wie erklärt sich diese Paradoxie? Offenbar daraus, dass die Umwelt dem Expansionsdrang des Lebens harte Grenzen setzt. Und das bedeutet, dass es einen Konkurrenzkampf der Lebewesen um Raum, Nahrung und Geschlechtspartner geben muss, den nur die am besten Angepassten überstehen. Der "Kampf ums Dasein" (ob nun metaphorisch gemeint oder nicht) führt zur Auslese der Besten, die strenge Notwendigkeit zur Zweckmäßigkeit der Organismen.

Damit war zunächst die Erhaltung der Arten begreiflich gemacht, und zwar ohne christliche Theologie oder griechische Teleologie. Die wunderbare Zweckmäßigkeit der Organismen und ihres Zusammenspiels, die die Theologie bewogen hatte, auf die höhere Intelligenz eines Schöpfers zu schließen, und die die klassische Philosophie bewogen hatte, in den Arten ewige Ideen zu sehen, war auf einen kausalen Mechanismus reduziert. Dieser Bruch mit der metaphysischen Tradition war wohl der Hauptgrund für die Faszination, die Darwin ausgeübt hat. Waren aber derart Gott und die Ideen entthront, so waren Zeit und Geschichte schon an ihre Stelle gesetzt und es konnte mit den gleichen Prinzipien des Kampfes ums Dasein und der Selektion auch die Entstehung der Arten verständlich gemacht werden. Dazu musste Darwin nur die (schon vorhandene) Vorstellung einer Einheit alles Lebendigen in der Zeit aufnehmen und die Voraussetzung hinzufügen, dass jedes Individuum tatsächlich einzigartig sei. Wenn nämlich kein Individuum einer Art dem anderen gleicht, wenn es vielmehr ständig zu Abweichungen von der Norm kommt, dann gibt es zwar viele Missbildungen, aber andrerseits auch besser angepasste Neubildungen, die sich durchsetzen und die betreffende Art als ganze womöglich verändern. So sind die Arten keine konstanten Größen mehr, sondern geraten in Fluss und können in neue übergehen. Der Überfluss, den die Natur aufbietet, ist daher nicht überflüssig, sondern notwendig um der Selektion der Tüchtigen und der Fortentwicklung der Arten willen. Geht man von den Spitzenprodukten der Evolution aus, so muss man die Natur als unbestechliche und effiziente Zuchtmeisterin loben. Schaut man allerdings auf die zahllosen Wesen, die sie als Versuchskaninchen braucht, die nur auf die Welt kommen, um als untauglich erkannt zu werden und wieder zu verschwinden, so zeigt die Natur ein ganz anderes, stümperhaftes und grausames Gesicht. Sind die Umwege, die sie geht, um zum Ziel zu kommen, nicht doch sehr weit? Sind die Opfer, die sie verlangt, nicht maßlos? Jede Art schickt ein solches Überangebot an Individuen ins Rennen, dass deren Wert nur minimal sein kann. Er steigt erst, nachdem die Mehrheit von ihnen in der Konkurrenz ausgeschieden ist: Elend und Tod der Vielen als Voraussetzung des Lebens von Wenigen.


Darwin und Malthus

Die Frage, was aus Darwins Lehre für die Gesellschaft der Menschen folgt, ist bekanntlich weitläufig diskutiert worden, und sehr unterschiedliche Antworten sind auch politisch schon gegeben worden.

Sie reichen von der direkten Übertragung der Lehre (oder was man darunter verstand) auf die Gesellschaft (Sozialdarwinismus im weitesten Sinne) bis zur entschiedenen Bestreitung dieser Möglichkeit. Dass das Spektrum der Antworten so breit sein konnte, hat zunächst einen einfachen historischen Grund, der oft übersehen wird: Die Trennung zwischen Naturwissenschaften und Geistes- bzw. Gesellschaftswissenschaften, wie wir sie kennen, hat sich erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts herausgebildet, war zu Darwins Zeit also noch gar nicht strikt durchgeführt (vgl. Vogt 1997: 117f). Natürlich war klar, dass es sich um unterschiedliche Wirklichkeitsbereiche handelte, aber die institutionelle Nötigung, die eigene Disziplin nicht zu überschreiten, war - zumal bei einem Privatgelehrten wie Darwin - durchaus nicht gegeben. Vielmehr konnte er genau das, was angesichts der heutigen Überspezialisierung wieder gefordert wird, ungeniert tun, nämlich über den Tellerrand schauen und Querverbindungen zwischen den Bereichen herstellen.

Die Antwort auf jene Frage ist aber insofern kein Geheimnis, als das, was aus der Lehre folgt, ihr eigentlich schon zugrunde liegt, bereits in ihrem Ansatz enthalten ist! Das Problem ist gar nicht, ob und wie man diese Theorie der Natur denn auf die Gesellschaft übertragen kann, sondern umgekehrt die Übertragbarkeit einer Gesellschaftstheorie auf die Natur. Denn es ist bekannt und unbestreitbar, dass Darwin seine entscheidende Innovation der ökonomischen Doktrin Malthus verdankt. Er sagt es selbst ganz offen: "Da daher mehr Individuen erzeugt werden, als möglicher Weise fortbestehen können, so muss in jedem Falle ein Kampf um die Existenz eintreten, entweder zwischen den Individuen einer Art oder zwischen denen verschiedener Arten, oder zwischen ihnen und den äußeren Lebensbedingungen. Es ist die Lehre von Malthus in verstärkter Kraft auf das gesamte Tier- und Pflanzenreich übertragen." (Darwin 1920: 83) Andrerseits wird bereits im ersten Kapitel von Malthus' berühmt-berüchtigtem "Essay on the Principle of Population" von 1798 dieses Gesetz auf die Natur bezogen: "Im Tier- und Pflanzenreich hat die Natur den Lebenssamen mit verschwenderischer Hand ausgestreut, ist aber verhältnismäßig sparsam mit dem Platz und den Nahrungsmitteln umgegangen, die notwendig sind, um ihn großzuziehen. Wenn die Lebenskeime, die diese Erde enthält, sich frei entfalten könnten, würden sie im Laufe einiger tausend Jahre Millionen Welten füllen. Die Notwendigkeit, dieses gebieterische, alles durchdringende Naturgesetz, hält sie in den vorgeschriebenen Grenzen. Die Pflanzen und Tiere unterliegen diesem einschränkenden Gesetz, und auch der Mensch kann ihm durch keine Anstrengung der Vernunft entfliehen." (Malthus 1905: 14)

Gegen die These, dass Darwin in diesen entscheidenden Punkten von Malthus abhängig sei, ist nun neuerdings eingewandt worden, dass er in einem anderen Punkt nicht von ihm herkomme und dieser gerade der entscheidende sei. Gemeint ist die erwähnte nominalistische Prämisse, dass man von den variierenden Individuen ausgehen müsse und die Arten keine vorgegebenen festen Ideen, sondern nur Allgemeinbegriffe seien, unter denen wir die sich wandelnden Populationen von Lebewesen zusammenfassen (Bayertz u.a. 2007: 89ff.). In der Tat stammt dieser Gedanke nicht von Malthus und er ist auch insofern wichtig, als ohne ihn die Entwicklung der Arten nicht plausibel wäre. Das heißt aber nicht, dass man ihn gegen die Malthusschen Elemente ausspielen kann, denn ohne Übervölkerung, Begrenztheit der Ressourcen und Existenzkampf mit Gewinnern und Verlierern ist die Entwicklung doch wohl auch nicht zu begreifen. Es handelt sich also um eine Ergänzung des theoretischen Gerüsts der Evolutionslehre, wie sie später z.B. durch die Genetik noch einmal erfolgt ist.

Um noch einmal auf Engels zurückzukommen: Ganz im Gegensatz zu dem, was wir oben zitiert haben, heißt es bei ihm auch: "Die ganze Darwinsche Lehre vom Kampf ums Dasein ist einfach die Übertragung der Hobbesschen Lehre vom bellum omnium contra omnes und der bürgerlichen ökonomischen von der Konkurrenz, sowie der Malthusschen Bevölkerungstheorie aus der Gesellschaft in die belebte Natur. Nachdem man dies Kunststück fertiggebracht (dessen unbedingte Berechtigung, besonders was die Malthusianische Lehre angeht, noch sehr fraglich), ist es sehr leicht, diese Lehren aus der Naturgeschichte wieder in die Geschichte der Gesellschaft zurückzuübertragen, und eine gar zu starke Naivität, zu behaupten, man habe damit diese Behauptungen als ewige Naturgesetze der Gesellschaft nachgewiesen." (Engels 1873-1886: 565) Was Engels hier ironisch eine Naivität nennt, kann man auch unverfroren als einen Fall von Magie oder ideologischer Selbstrechtfertigung bezeichnen: Weil es überall, auch schon in der Natur so zugeht wie bei uns, ist es so, wie es bei uns zugeht, auch in Ordnung. - Das, was von der Natur behauptet wird, mag ja zum Teil durchaus stimmen, es macht sich dennoch verdächtig, weil es wiederum aus der eigenen Gesellschaft hergeholt ist. Und selbst wenn alles zuträfe, hätte es für die Gesellschaft letztlich keine Bedeutung, weil in ihr andere Gesetze gelten. (Das noch einmal gegen Hannah Arendts Fehlinterpretation von Engels.)

Das ist aber noch gar nicht die Pointe von Engels' Einschätzung. Sondern gerade sofern die Übertragung von der Gesellschaft auf die Natur gelungen ist, hat Darwin unbewusst eine "bittere Satire" auf seine Zeit und speziell England geschrieben (ebd. 324). Und die Rückübertragung, die dann ja auch legitim ist, zeigt nur, auf welchem Tiefstand die Gesellschaft heute angelangt ist: "Die große Industrie endlich und die Herstellung des Weltmarkts haben den Kampf universell gemacht und gleichzeitig ihm eine unerhörte Heftigkeit gegeben. Zwischen einzelnen Kapitalisten wie zwischen ganzen Industrien und ganzen Ländern entscheidet die Gunst der natürlichen oder geschaffenen Produktionsbedingungen über die Existenz. Der Unterliegende wird schonungslos beseitigt. Es ist der Darwinsche Kampf ums Einzeldasein, aus der Natur mit potenzierter Wut übertragen in die Gesellschaft. "Der Naturstandpunkt des Tiers erscheint als Gipfelpunkt der menschlichen Entwicklung." (Engels 1878: 255, Herv. E.R.) Genauer zeigt die Übertragung, in welchem Selbstwiderspruch sich die gegenwärtige Gesellschaft bewegt, denn sie ist ja nicht Natur, verfügt ja über ein zivilisatorisches Potenzial wie nie zuvor. Was setzt Engels bei seiner Stellungnahme zu Darwin also voraus? Erstens, dass Gesellschaftsbild und Naturbild zusammenhängen. Zweitens, dass es sich eben um Bilder handelt, mit denen weder die Gesellschaft noch die Natur adäquat und vollständig erfasst werden; und zwar nicht nur, weil beide im Fluss befindliche, offene, vielseitigere Wirklichkeiten sind als wir denken, sondern auch, weil wir uns die Dinge gern nach unseren Interessen zurechtlegen. Dies, dass Darwin die Natur als offenen Prozess interpretiert hat, und die Bescheidenheit des Empirikers hat Engels daher immer gewürdigt. - Drittens sagt Engels implizit, dass wir erst ein besseres, zutreffenderes Bild von der Natur bekommen werden, wenn wir eine andere Gesellschaft und damit ein anderes praktisches Verhältnis zur Natur haben. Dass auch das Umgekehrte gilt, wir uns also schon heute um ein anderes Verständnis der Natur bemühen sollten, darauf deutet seine eigene Auseinandersetzung mit der damaligen Naturwissenschaft hin. Sie ist oft missverstanden und belächelt worden, hatte aber eine ökologische Intention, die man hätte weiterverfolgen sollen. Darwin ist nun nicht bloß durch die zufällige Lektüre von Malthus inspiriert worden. Vielmehr hat einerseits dessen Schrift zu Beginn des 19. Jahrhunderts in England (und darüber hinaus) großes Aufsehen erregt, viele Auflagen erlebt und zumal die Reformpolitik der Whigs in den 1830er Jahren stark beeinflusst. Die Reformen waren gegen die politischen Privilegien der Kirche und des Adels gerichtet und verhalfen dem Kapitalismus endgültig zum Durchbruch. Sie brachten eine Sozialpolitik der Selbsthilfe, die uns in gewisser Hinsicht bekannt vorkommt: Hatte die Bevölkerung Großbritanniens sich (wie die Volkszählung von 1831 ergab) in 30 Jahren nicht verdoppelt? Angesichts dessen konnte man sich die bisherige, allzu großzügige Armenfürsorge doch nicht mehr leisten. Denn sie ermunterte die Armen ja, sich weiter zu vermehren, was wieder neue Hilfen nötig machte, usw. Also musste die Fürsorge gekürzt und auf die wirklich Bedürftigen beschränkt werden. Sie wurden - nach Geschlecht getrennt - in Armenhäuser eingewiesen. Die anderen aber sollten ihre Faulheit überwinden, Selbstverantwortung lernen und zu Niedriglöhnen arbeiten (vgl. Engels 1845: 494f.). Man könnte nun meinen, Darwin habe Malthus' Lehre in dem Sinne auf die Natur "übertragen", dass er sie von der Gesellschaft, wo sie gerade nicht zutrifft, in den Bereich transportiert hat, wo sie hingehört. Das ist z.B. in der Arbeiterbewegung lange Zeit die vorherrschende Meinung gewesen, so dass man Malthus ablehnen und gleichzeitig Darwin begrüßen konnte. Aber hätte Darwin selber sich nicht irgendwo in diesem Sinne äußern und Malthus entsprechend kritisieren müssen? Soviel ich sehe, hat er ihn jedoch immer gelobt. Er hat an die öffentlichen und sozialen Auseinandersetzungen seiner Zeit angeknüpft und in ihnen - soweit es dem Gelehrten geziemt - auch eindeutig Partei ergriffen. Das wiederum geschah nicht ohne Grund auf seiner Seite. Denn er war dem Bekenntnis nach Unitarier, gehörte also zu den immer noch politisch benachteiligten Dissenters und stand schon von daher den Whigs nahe. Hinzukam, dass er über ein ansehnliches Vermögen verfügte und das Vorurteil seiner Klasse selbstverständlich teilte, dass es immer eine große Zahl von Armen geben müsse. Bereits während seiner Weltreise las er in den "Illustrations of political economy" (London 1832/34) von Harriet Martineau (1802-1876), die Malthus' Auffassungen popularisierte und damit zugleich Propaganda für die neue Armengesetzgebung der Whigs machte (Desmond/Moore 1995: 178f). Nach seiner Rückkehr 1836 fand er durch seinen älteren Bruder Erasmus Zugang zu den engeren malthusianischen Kreisen der Partei (ebd. 231f) und 1838 befasste er sich gründlich mit Malthus' Essay, das ihn tief beeindruckte. Er kam zu dem Ergebnis, dass niemand den Krieg zwischen den Arten so klar erfasst habe wie er, und niemand so klar gesehen habe wie er, dass es auch einen "Bürgerkrieg" innerhalb der Arten gebe (ebd. 303). Als 1859 endlich "Die Entstehung der Arten" erschien, war die wirtschaftliche Lage zwar besser, daher Malthus' Pessimismus nicht mehr in Mode, aber Darwin hatte an ihm festgehalten. Und noch in der Zusammenfassung von "Die Abstammung des Menschen" (1871) heißt es: "Der Fortschritt des Wohles der Menschheit ist ein äußerst verwickeltes Problem. Alle sollten sich des Heiratens enthalten, welche ihren Kindern die größte Armut nicht ersparen können, denn Armut ist nicht bloß ein großes Übel, sondern führt auch zu ihrer eigenen Vergrößerung, da sie Unbedachtsamkeit beim Verheiraten herbeiführt. Auf der andern Seite werden, wie Mr. Galton bemerkt hat, wenn die Klugen das Heiraten vermeiden, während die Sorglosen heiraten, die untergeordneteren Glieder der menschlichen Gesellschaft die besseren zu verdrängen streben ... Es muss für alle Menschen offene Konkurrenz bestehen, und es dürfen die Fähigsten nicht durch Gesetze oder Gebräuche daran verhindert werden, den größten Erfolg zu haben und die größte Zahl von Nachkommen aufzuziehen."(Darwin 1966: 700)


Analogien zwischen Natur- und Gesellschaftsbild

Was will Darwin also über das menschliche Zusammenleben sagen, wenn er über die Natur spricht? Wir verdeutlichen uns noch einmal genauer die verblüffenden Analogien, die er zwischen beiden Bereichen aufdeckt und die eben den Verdacht erregen, dass hier ein Naturbild zur Stützung eines bestimmten Gesellschaftsbildes konstruiert wird.

Plausibel ist ja zunächst, dass der Fortpflanzungstrieb der Lebewesen weit über das hinausgeht, was an Nachkommen realistischerweise überhaupt Erhaltungschancen finden kann. Die jeweilige Umwelt setzt dem Wachstum jeder Population feste Grenzen. Die Lebewesen können sich an die Umwelt besser anpassen, die Grenzen aber nicht überspringen. Auf den Einwand, dass das für den Menschen gerade nicht zutreffe, weil er doch kein umweltgebundenes, sondern ein weltoffenes Wesen sei, würde Darwin mit Malthus erwidern, dass auch seine Welt (die Erde) prinzipielle Grenzen habe: Sie können durch Verbesserung der Bodenfruchtbarkeit oder der Produktivkräfte überhaupt zwar hinausgeschoben, aber nicht aufgehoben werden.

Allerdings können die Menschen dieser Beschränkung bewusst Rechnung tragen, indem sie ihren Sexualtrieb zügeln - im Unterschied zu den anderen Lebewesen, die dazu nicht in der Lage sind. Das ist bei dem Theologen Malthus ein wichtiger Gesichtspunkt, der dem traditionellen Leib-Seele-Dualismus entstammt. Aber auch Darwin will mit dieser Mahnung nicht nur dem Lust- das Realitätsprinzip entgegensetzen, also vor den gefährlichen Folgen der Sexualität warnen; sondern er will offenbar diese selber gegenüber der Selbsterhaltung abwerten. Denn in der Liebe der Geschlechter ist ja ein Absehen vom Ego und eine Hingabe an die Gattung enthalten, mit der der Kapitalismus nichts anfangen kann. Was er braucht, sind bekanntlich fleißige, auf ihr eigenes Fortkommen bedachte Einzelne. In diesem Zusammenhang erscheint die Natur bei Darwin daher nicht als ein Abbild der tugendhaften bürgerlichen Gesellschaft, sondern als ihr lasterhaftes Gegenbild (vgl. etwa Desmond/Moore 1995: 508).

Da die Lebewesen jene Grenzen nicht beachten können und die Menschen - zumal die unteren Klassen - sie meist nicht beachten wollen, kommt es zu einer Übervölkerung, der gegenüber sich die Grenzen nun gewaltsam Geltung verschaffen durch Hunger, Krankheiten, Kriege, kurz: den "Kampf ums Dasein". Nehmen wir diesen Begriff im engeren Sinne, so ist die gesellschaftliche Bedeutung mit Händen zu greifen: Wenn die ganze lebendige Natur ein einziger Konkurrenzkampf ist, wie soll die Gesellschaft sich dem entziehen können? Sie könnte es durch Triebverzicht, aber da sie es faktisch nicht tut, bedeutet laissez faire immer auch laissez mourire. Das Grundgesetz des Liberalismus, dass das allgemeine Beste nicht dadurch zustande kommt, dass es gemeinsam angestrebt wird, sondern gerade dadurch, dass jeder sein eigenes Interesse verfolgt, gilt analog auch in der Natur. Denn nur durch den Existenzkampf der Individuen wird die Spezies erhalten und weiterentwickelt, nicht aus eigener, strukturierender Kraft oder durch eine höhere, schöpferische Macht. Wenn allerdings schon die Natur durch Knappheit, Enge und gnadenlose Konkurrenz gekennzeichnet ist, dann bildet sie für die Gesellschaft nicht mehr den freundlichen Rahmen, den Adam Smith noch in ihr sah. Vielmehr ist die Ökonomie jetzt mit der ökologischen Problematik konfrontiert. Der junge Engels sah deshalb mit Malthus schon das Ende des liberalen Systems gekommen (Engels 1844: 518).

In diesem Existenzkampf überleben immer nur wenige, die meisten gehen zugrunde. Es zeigt sich, dass die Lebewesen grundsätzlich ungleich sind, die Tiere in ihrer Organausstattung, die Menschen in ihrer Leistungsfähigkeit, daneben auch in ihrer Moral. Dadurch ist für Darwin die Gefahr der Nivellierung, die die Konservativen in der Herleitung des Menschen aus dem Tierreich sehen, offenbar gebannt. Die prinzipielle Ungleichheit aller Lebewesen kompensiert gewissermaßen die prinzipielle Gleichheit zwischen Mensch und Tier.

Die Ungleichheit bedeutet genauer, dass tatsächlich jedes Individuum einzigartig ist, alle variieren. So können in der Natur gerade ungewöhnliche Neubildungen zur Weiterentwicklung der Arten führen, entsprechend können nun in der Gesellschaft gerade Einzelne oder Minderheiten, die von der herrschenden Norm abweichen, eine progressive Rolle fürs Ganze spielen, z.B. die Dissenters oder die neuen Unternehmer! Diese Forderung nach Anerkennung hat das Victorianische Zeitalter mehr als eingelöst und Darwin hat indirekt dazu beigetragen.

Kampf ums Dasein bzw. Konkurrenz sind notwendig, denn nur durch sie kann die Spreu vom Weizen geschieden werden, kommt es zur Selektion der Besseren und damit zu Evolution bzw. Fortschritt. Hier ist das Zentrum der Darwinschen Lehre (vgl. Rezeption 1995: 38, 40). Er selber hat die Analogie zwischen künstlicher Auslese, wie sie die Tauben- oder Hundezüchter betreiben, und der Auslese, die die Natur vornimmt, als den schönsten Teil seiner Theorie bezeichnet (Desmond/Moore 1995: 313). Aber diese Analogie ist für uns nicht der springende Punkt, denn uns geht es um die Anwendung auf die menschliche Gesellschaft, und in dieser Hinsicht konstatiert Darwin mit Recht eine Schwierigkeit, die man Kontrastselektion genannt hat: "Wir bauen Zufluchtsstätten für die Schwachsinnigen, für die Krüppel und die Kranken; wir erlassen Armengesetze und unsere Ärzte strengen die größte Geschicklichkeit an, das Leben eines Jeden bis zum letzten Moment noch zu erhalten. Es ist Grund vorhanden, anzunehmen, dass die Impfung Tausende erhalten hat, welche in Folge ihrer schwachen Konstitution früher den Pocken erlegen wären. Hierdurch geschieht es, dass auch die schwächeren Glieder der zivilisierten Gesellschaft ihre Art fortpflanzen. Niemand, welcher der Zucht domestizierter Tiere seine Aufmerksamkeit gewidmet hat, wird daran zweifeln, dass dies für die Rasse des Menschen im höchsten Grade schädlich sein muss. Die Hülfe, welche wir dem Hilflosen zu widmen uns getrieben fühlen, ist hauptsächlich das Resultat des Instinkts der Sympathie, welcher ursprünglich als ein Teil der sozialen Instinkte erlangt, aber später zarter gemacht und weiter verbreitet wurde. Auch könnten wir unsere Sympathie, wenn sie durch den Verstand hart bedrängt würde, nicht hemmen, ohne den edelsten Teil unserer Natur herabzusetzen. Wir müssen daher die ganz zweifellos schlechte Wirkung des Lebenbleibens und der Vermehrung der Schwachen ertragen." (Darwin 1966: 148)

Lässt man diesen Text unbefangen auf sich wirken, so ist unbestreitbar, dass seine Hauptintention darin liegt, der natürlichen Auslese möglichst freien Lauf zu lassen. Nur widerwillig wird dem "Instinkt der Sympathie" und damit der Zivilisation ein Recht eingeräumt, indem es heißt, wir müssten ihre schlechten Folgen eben "ertragen". Allerdings muss man beachten, dass Darwin an anderer Stelle ethische Auffassungen vertritt, die dem tatsächlich widersprechen (vgl. Darwin, Abstammung, 1966, Kap. 5).

Aber Darwins ethische Auffassungen erscheinen wie ein Fremdkörper oder ein Zugeständnis an die öffentliche, immer noch christlich geprägte Moral oder wie ein Trost, dass doch alles nicht so heiß gegessen wird, wie es gekocht wurde. Was aber das Wichtigste ist: Es handelt sich um Individualethik, um eine Würdigung persönlicher Liebestätigkeit, die die sozialen Gegensätze zwar mildern, aber niemals aufheben oder auch nur antasten kann, sie vielmehr als beständige Tatsache voraussetzt. Insofern fügen sich diese Erörterungen durchaus in die Theorie ein, ist der Widerspruch zu deren Grundtendenz gar nicht so groß. Wenn Darwin also auch persönlich gespalten war in der Frage, ob die Natur oder die Kultur das letzte Wort haben sollte, so hat er es den Sozialdarwinisten in der Sache doch leicht gemacht, eine Entscheidung gegen die Kultur herbeizuführen.

Neuere Autoren weichen dem Problem dadurch aus, dass sie dem Wissenschaftler Darwin einräumen, er wolle doch nur sagen, was ist, die Selektionslehre habe rein deskriptiven Charakter (Rezeption 1995: 334ff). Die hier vertretene These lautet dagegen, dass selbst die Naturtheorie, für die das noch am ehesten zutreffen könnte, diesen Charakter nicht hat, und dass erst recht eine Theorie der Gesellschaft nicht rein deskriptiv sein kann, sondern eine normative Orientierung notwendig einschließt. Wäre sie bloß deskriptiv, so würde sie in diesem Fall auf die triviale und fast tautologische Weisheit hinauslaufen, dass alle die, die heute leben, offenbar auch die Lebenstüchtigen sind, sonst wären sie ja im Kampf ums Dasein schon ausgeschieden; oder dass wirklich zu leben auch die Fähigkeit zu leben voraussetzt.


Evolution gegen Revolution

Es wird weithin als Darwins großes Verdienst angesehen, dass er dem Entwicklungsgedanken, der zunächst auf die menschliche Geschichte bezogen war, auch in Bezug auf die Natur zum Durchbruch verholfen hat. Nun ist das Gesetz dieser Evolution aber die unerbittliche Selektion einer kleinen Anzahl von Lebenstüchtigen aus einer großen Anzahl von weniger oder gar nicht Lebenstüchtigen, demnach ein Prozess, in dem die meisten Wesen nur Mittel zum Zweck sind und sogar geopfert werden. Diese Wesen könnten freilich fragen, ob der Prozess dann überhaupt seinen Namen verdient oder nicht eher als permanenter maßloser Verschleiß und sinnloser Kreislauf bezeichnet werden müsste. Denn ihnen bringt er eben nichts oder nur immer neue Leiden. Darauf kann man jedoch nicht antworten, dass dies nur für die Natur gelte, die solche Fragen nicht stellt; denn dann wäre Darwins Leistung, die Natur geschichtlich gedeutet zu haben, ja wieder passé und wir fielen in die Zeit Hegels zurück, wo die Natur nur als negative Folie der Geschichte des Geistes begriffen wurde. Folglich bleibt nur die Möglichkeit, auch die menschliche Geschichte nach jenem Schema zu interpretieren, d.h. bei allem Fortschritt mit gleichzeitigen furchtbaren Rückschritten und permanentem maßlosen Verschleiß (von Menschen) zu rechnen. Damit sind wir in der Tat wieder bei Malthus, dem Mentor Darwins, der durchaus nicht gegen den Fortschritt war, aber ihn nur als ein solches Nullsummenspiel verstehen konnte. Denn genau gegen die Konzeption von Fortschritt, die in der Französischen Revolution Gestalt angenommen hatte, die von der rechtlichen Gleichheit aller ausging und durch Umverteilung der Güter einen Gewinn für alle anstrebte, richtete sich seine Abhandlung von 1798. "Der Essay gehört daher in die Gattung der gegenrevolutionären Pamphletistik, die im England der 1790er Jahre florierte."(Sieferle 1990: 82) Genau gegen die Fortschrittskonzeption, die (sozusagen) an alle dachte und die maßlosen Opfer vermeiden wollte, hat Maltbus den Naturfaktor Bevölkerungswachstum ausgespielt. Das Argument war im Grunde einfach: Man kann gar nicht an alle denken, weil "alle" bzw. die Masse der Menschen eine unkalkulierbare Größe ist, die einem (buchstäblich) über den Kopf wächst! Die Gegner, die er mit seiner Schrift widerlegen wollte, wurden von ihm auch genannt. Es waren der berühmte Programmatiker der Französischen Revolution Marquis de Condorcet und William Godwin, ein britischer Jakobiner. Beide hatten aber das Bevölkerungsproblem keineswegs übersehen, sondern schon Lösungen angeboten: Condorcet hatte vorgeschlagen, die traditionelle heuchlerische Sexualmoral zu verlassen und Empfängnisverhütung für alle zu ermöglichen. Godwin war überzeugt, dass in der gerechten und kulturvollen Gesellschaft der Zukunft die Sexualität keine große Rolle mehr spielen werde (Sieferle 1990: 83ff.). Malthus lehnte die eine Lösung als unmoralisch, die andere als utopisch ab. Was er aber eigentlich bei beiden ablehnte, war der neue sozialstaatliche Interventionismus, weil er (um wieder mit Darwin zu reden) die schöne Selektionsmechanik der bürgerlichen Gesellschaft ja durch Umverteilung, d.h. "Kontrastselektion" zerstörte.


Schluss

Um Missverständnisse zu vermeiden: Das Aufdecken der Analogien zwischen Darwins Naturbild und dem Gesellschaftsbild seiner Zeit, dem er verpflichtet war, soll nicht besagen, dass das eine auf das andere zu reduzieren wäre. Natürlich gibt es einen eigenen Diskurs der Wissenschaften mit einer spezifischen Nötigung, auf einmal gestellte Fragen Antworten zu finden. Natürlich gibt es auch die Faszination durch neue Naturerkenntnis, die dann Einfluss hat auf das Verständnis und die Gestaltung der Gesellschaft. Mir scheint der umgekehrte Einfluss jedoch immer noch unterbelichtet zu sein und das führt dann nicht nur zu einer naiven Wissenschaftsgläubigkeit, sondern zugleich zur selbstverständlichen Hinnahme sozialer und politischer Notwendigkeiten, die eigentlich gar keine sind.

Zudem gilt in ökologischer Hinsicht: Wenn wir eine Naturvorstellung haben, die derart von unserer Gesellschaftsvorstellung abhängig ist, dann ist es sehr zweifelhaft, ob wir mit der Natur an sich überhaupt schon bekannt geworden sind.


Edelbert Richter, Dr. theol., 1990-2002 MdEP und MdB (SPD), Lehrbeauftragter für Philosophie an der Universität Weimar. Dieser Beitrag ist eine gekürzte Fassung eines Kapitels aus dem Buch "Die Linke im Epochenumbruch. Eine historische Ortsbestimmung", das im April 2009 im VSA: verlag erscheinen wird.


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Malthus, Thomas Robert (1905): Eine Abhandlung über das Bevölkerungsgesetz oder eine Untersuchung seiner Bedeutung für die menschliche Wohlfahrt in Vergangenheit und Zukunft, nebst einer Prüfung unserer Aussichten auf eine künftige Beseitigung oder Linderung der Übel, die es verursacht, Jena

Marx, Karl (1872): Das Kapital. Erster Band, MEW 23, Berlin 1969

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Die Rezeption von Evolutionstheorien im 19. Jahrhundert, hrsg. von Engels, Eve M. (1995), Frankfurt/Main

Sieferle, Rolf P. (1989): Die Krise der menschlichen Natur. Zur Geschichte eines Konzepts, Frankfurt/Main

Sieferle, Rolf P. (1990): Bevölkerungswachstum und Naturhaushalt. Studien zur Naturtheorie der klassischen Ökonomie, Frankfurt/Main

Steinberg, Hans-Josef (1967): Sozialismus und deutsche Sozialdemokratie. Zur Ideologie der Partei vor dem 1. Weltkrieg, Hannover

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Quelle:
Sozialismus Heft 2/2009, Seite 50 - 57
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. März 2009