Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → FINANZEN

FRAGEN/001: UNCTAD-Chef Panitchpakdi - Auslandsüberweisungen an ärmste Länder erreichen Rekordhöhe (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 30. November 2012

Entwicklung: Auslandsüberweisungen an ärmste Länder erreichen Rekordhöhe - UNCTAD-Chef Panitchpakdi im Interview

von Isolda Agazzi



Genf, 30. November (IPS) - Die Geldüberweisungen der Migranten an die ärmsten Länder der Welt (LDCs) haben im vergangenen Jahr den bisherigen Höchststand von 27 Milliarden US-Dollar erreicht. Dies geht aus einem Bericht der UN-Konferenz für Handel und Entwicklung (UNCTAD) hervorgeht. Mit deren Generalsekretär der Organisation, Supachai Panitchpakdi, sprach IPS darüber, wie Arbeitsmigranten das nachhaltige Wachstum in ihren Heimatländern künftig noch stärker vorantreiben können.

Laut dem am 26. August in Genf veröffentlichten Report, der die Entwicklung in den 48 LDCs untersucht, rangieren die privaten Auslandsüberweisungen in diese Staaten an zweiter Stelle hinter der offiziellen Entwicklungshilfe (ODA), die 2010 etwa 42 Milliarden Dollar betrug.

Der Wert der Überweisungen war fast doppelt so hoch wie die ausländischen Direktinvestitionen (FDIs), die 2011 etwa 15 Milliarden Dollar ausmachten. In den LDCs entsprechen die von Arbeitskräften aus dem Ausland an ihre Familien überwiesenen Beträge 4,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) dieser Ländergruppe und 15 Prozent der LDC-Exporteinnahmen. Die Anteile sind dreimal höher als in anderen Entwicklungsländern.

Obwohl die Zahlen beeindruckend sind, bringen sich die Regierungen nach Ansicht von Panitchpakdi um die wichtige Chance, diese Finanzströme in Wirtschaftsstrategien zu integrieren, die eine langfristige Entwicklung fördern könnten. Es folgt das Interview in Auszügen:

IPS: Warum sind Auslandsüberweisungen in die LDCs in den vergangenen Jahren plötzlich so stark gestiegen?

Supachai Panitchpakdi: Auf der Konferenz der am schwächsten entwickelten Staaten im vergangenen Jahr in Istanbul haben wir die Notwendigkeit betont, die Abhängigkeit von Entwicklungshilfe zu verringern. Das heißt, es müssen alternative Wege zur Mobilisierung auswärtiger Gelder beschritten werden. Nach der Wirtschaftskrise sind Überweisungen eine wichtige Einkommensquelle für die ärmsten Länder der Welt geworden. Sie sind 'rezessionssicher', da sie aus patriotischen Motiven vorgenommen werden und meist aus anderen südlichen Staaten kommen.

Diese privaten Geldtransfers dienen zunächst dazu, die Familien der Migranten in der Heimat zu unterstützen. Nur wenige Länder versuchen, diese Gelder zum Nutzen der gesamten Wirtschaft zu verwenden. Einige Arbeitsmigranten haben es geschafft, sich beruflich selbstständig zu machen, doch ihr Potenzial wird nicht vollständig ausgeschöpft.

IPS: Was kann die UNCTAD tun, damit sich aus einer verpassten Gelegenheit doch etwas Gutes entwickelt?

Panitchpakdi: Die UNCTAD ist in einer einzigartigen Lage, die Regierungen der LDCs davon zu überzeugen, spezielle Strategien einzuführen, um die privaten Überweisungen in die nationale Politik zu integrieren. Die Geldströme sollten an neue Industriestrategien gebunden werden. Entwicklungsinstitutionen sollten zusätzliche Finanzmittel für heimkehrende Arbeitskräfte bereitstellen, um diese dazu zu ermutigen, ihr Wissen und ihre Ersparnisse für den Aufbau neuer Produktionskapazitäten zu verwenden.

Die Regierungen sollten in der Lage sein, Kleinunternehmen zu schützen, indem sie die Handelsliberalisierung stufenweise voranbringen. Ein solcher Schutz mag heute etwas naiv erscheinen, doch die Regierungen müssen in bestimmten Regionen noch immer kleine und mittelständische Firmen fördern - allerdings nicht für immer. Wir glauben nach wie vor an den freien Handel.

IPS: Sollten Industriestaaten angesichts der Tatsache, dass 80 Prozent der Arbeitsmigranten aus den LDCs in andere Entwicklungsländer gehen, nicht ihre Einwanderungsbestimmungen ändern und ihre Grenzen für ungelernte Arbeitskräfte öffnen?

Panitchpakdi: Die vollständige Liberalisierung des Handels würde das globale BIP nur um ein Prozent erhöhen. Die komplette Liberalisierung des Arbeitsmarktes könnte hingegen einen Zuwachs von 100 Prozent nach sich ziehen. Denn die Produktivität eines Menschen kann sich verdoppeln, wenn er ins Ausland geht.

Seit Kurzem wird das Thema Migration aus einem anderen Blickwinkel betrachtet. Je mobiler die Arbeit wird, desto mehr steigt die Produktivität. Und es gibt keine Verdrängung mehr, weil Arbeitsmigranten meist in anderen Bereichen tätig werden als Einheimische.

IPS: Ist der hohe Stellenwert der Geldüberweisungen nicht auch ein Eingeständnis, dass Handel und Investitionen in den LDCs fehlgeschlagen sind?

Panitchpakdi: Es stimmt, dass auswärtige Direktinvestitionen und private Überweisungen in unterschiedliche Richtungen gelaufen sind. In den schwächeren Ländern fließen die FDIs nur in den Bergbausektor, wo keine Arbeitsplätze geschaffen werden. Da die Länder ausländische Investoren anziehen wollen, indem sie Löhne und Steuern senken sowie Bestimmungen lockern, verlieren die Staaten Einkünfte.

Die UNCTAD ist außerdem besorgt über die Beteiligung transnationaler Konzerne an diesen Geschäften. Das Problem bei den FDIs liegt darin, dass sie an Bedingungen geknüpft sind und durch Gewinnstreben motiviert sind. Private Geldtransfers unterliegen dagegen keinen Bedingungen. Und da jeder fünfte Einwohner der LDCs mit Universitätsabschluss im Ausland lebt, vor allem in Industrieländern, wären eine Verbesserung und Steigerung der auswärtigen Direktinvestitionen der einzige Weg, den Braindrain in den schwächsten Ländern zu verhindern.

Die Abwanderung qualifizierter Arbeitskräfte ist die Kehrseite der Geldüberweisungen. Zwei Millionen gut ausgebildeter Menschen aus den LDCs leben im Ausland. Der Verlust an Wissen und Know-how in den Heimatländern, etwa in Schlüsselbereichen wie Gesundheit und Bildung, könnte letztlich die Vorteile der Geldtransfers überwiegen. In den USA leben beispielsweise mehr äthiopische Universitätsprofessoren als in ihrem Ursprungsland.

Um den Braindrain - die Abwanderung von Talenten - in einen Braingain - die Zuwanderung gut ausgebildeter Menschen - zu verwandeln und die Überweisungen unabhängig vom Bildungsniveau der Migranten der Entwicklung zugutekommen zu lassen, empfiehlt UNCTAD, die Kosten für Geldtransfers zu senken. Diese Kosten sind in den LDCs mit durchschnittlich zwölf Prozent außergewöhnlich hoch. Viele Menschen sind dadurch dazu gezwungen, das Geld auf informellen Wegen, etwa über Freunde, zu schicken.

Wenn die Staaten die Kosten durch die Schaffung einer wettbewerbsfähigen Umgebung reduzierten, würden die Gelder im Kreislauf der Banken verbleiben. Transfers in afrikanische Länder südlich der Sahara werden beispielsweise zu 65 Prozent über 'Western Union' und MoneyGram' abgewickelt.

Zahlreiche Akteure könnten zu dieser Diversifizierung beitragen, etwa Poststellen in ländlichen Regionen, Mikrofinanzinstitutionen, Dienstleister im Bereich staatlicher Geldüberweisungen und sogar Mobilfunkanbieter.

Arbeitskräfte, die aus dem Ausland wieder nach Hause zurückkehren, sollten außerdem die Möglichkeit erhalten, Konten in fremden Währungen zu führen. (Ende/IPS/ck/2012)


Links:
http://unctad.org/en/Pages/Home.aspx
http://www.ipsnews.net/2012/11/qa-turning-remittances-into-national-profits-in-ldcs/

© IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
vormals IPS-Inter Press Service Europa gGmbH

*

Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 30. November 2012
IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
vormals IPS-Inter Press Service Europa gGmbH
Marienstr. 19/20, 10117 Berlin
Telefon: 030 28 482 361, Fax: 030 28 482 369
E-Mail: redaktion@ipsnews.de
Internet: www.ipsnews.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Dezember 2012