Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → FINANZEN

REDE/008: Merkel - Regierungserklärung zum Europäischen Rat und zum Eurogipfel, 26.10.2011 (BPA)


Presse- und Informationsamt der Bundesregierung
"REGIERUNGonline" - Wissen aus erster Hand

Regierungserklärung von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel zum Europäischen Rat und zum Eurogipfel am 26. Oktober 2011 in Brüssel vor dem Deutschen Bundestag am 26. Oktober 2011 in Berlin


Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Vor gut drei Jahren löste die Insolvenz der Investmentbank Lehman Brothers den größten Börsencrash der Nachkriegszeit aus. Was als amerikanische Immobilienkrise begann, entwickelte sich rasch zu einer globalen Finanzkrise. Gemeinsame Anstrengungen der Bundesregierung und des Bundestages haben damals verhindert, dass Deutschland in eine tiefe Rezession geriet. Den Bürgerinnen und Bürgern hat die Krise dennoch viel abverlangt: wirtschaftliche Einbußen, aber auch Geduld und Vertrauen.

Heute können wir festhalten: Unsere gemeinsamen Anstrengungen haben sich gelohnt; denn Deutschland ist stärker aus der globalen Finanzkrise hervorgegangen, als es in sie hineingegangen ist. Wir können uns über ein beachtliches Wirtschaftswachstum freuen. Und vor allen Dingen ist die Arbeitslosigkeit so gering wie seit 20 Jahren nicht mehr.

Klar ist aber auch: Deutschland kann es auf Dauer nicht gut gehen, wenn es Europa schlecht geht. Deshalb ist jetzt das wichtigste Anliegen der Bundesregierung, dass auch Europa stärker aus der Krise hervorgeht, als es in sie hineingekommen ist. Das bedeutet nicht mehr und nicht weniger als: Europa muss eine Stabilitätsunion werden. Was heißt das?

Das bedeutet erstens: Wir müssen die akute Krise bewältigen. Dazu müssen wir tragfähige Lösungen für die Länder finden, die eine zu hohe Verschuldung aufweisen, und damit die Fehler der Vergangenheit korrigieren. Gleichzeitig müssen wir verhindern, dass sich die Krise immer weiter auf andere Länder ausbreitet.

Genauso wichtig wie das Erstgesagte ist zweitens: Wir müssen Vorsorge für die Zukunft treffen. Dazu müssen wir die Ursachen dieser Krise entschlossen an ihrer Wurzel packen. Das ist die übermäßige Verschuldung, aber auch die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit einiger Euro-Mitgliedstaaten. Das bedeutet nichts anderes, als dass wir die Fundamente der Wirtschafts- und Währungsunion maximal verstärken müssen.

Jede dieser beiden von mir genannten Herausforderungen ist für sich genommen schon relativ groß. Wir müssen jedoch auf diese Herausforderungen gleichzeitig überzeugende Antworten finden, wenn die Wirtschafts- und Währungsunion ihre Belastungsprobe bestehen und dauerhaft gestärkt aus ihr hervorgehen will. Ich glaube, wir sind uns einig: Dies ist die größte Belastungsprobe der Wirtschafts- und Währungsunion, die es je gegeben hat.

Bei der Formulierung der Antworten sind wir am vergangenen Wochenende in den Beratungen der Finanzminister und der Staats- und Regierungschefs ein gutes Stück vorangekommen, und ich werde mich heute Abend dafür einsetzen, dass wir insgesamt zu tragfähigen Entscheidungen kommen. Die Probleme, mit denen wir es zu tun haben, haben ihren Ursprung zum Teil weit vor Ausbruch der aktuellen Krise. Dieses wurde jedoch interessanterweise sowohl von den Märkten, aber eben leider auch von der Politik viel zu lange ignoriert.

Die Wahrheit ist: Jahrelang war es möglich, Schulden zu machen, ohne dass es Sanktionen der Märkte in Form von erhöhten Zinsen gab oder die Sanktionen im Stabilitäts- und Wachstumspakt, die eigentlich dafür vorgesehen sind. Jahrelang war es möglich, notwendigen Reformen auszuweichen und in der Wettbewerbsfähigkeit zurückzufallen. Zur Wahrheit gehört auch, dass die für die Angleichung der Wettbewerbsfähigkeit innerhalb der Europäischen Union vorgesehenen Fonds - die Strukturfonds und der Kohäsionsfonds - teilweise zu Fehlwirkungen geführt und gerade nicht das gewünschte Ergebnis gezeitigt haben. Mit diesem jahrelangen Reformstau haben wir jetzt zu kämpfen. Deshalb wäre es völlig unseriös, zu behaupten, das könne man über Nacht einfach auflösen.

Aber es gibt auch positive Nachrichten. Vor allem Irland ist wieder auf einem guten Weg, Portugal ist fest entschlossen, sein Anpassungsprogramm durchzusetzen, und die griechische Regierung hat in den letzten Monaten mit dringend notwendigen Reformen begonnen. Es ist auch einmal der Erwähnung hier wert, dass den Menschen in Griechenland viel abverlangt wird. Sie verdienen unseren Respekt, und sie verdienen vor allen Dingen eine tragfähige Zukunftsperspektive in der Euro-Zone.

Dennoch: Es ist noch sehr viel zu tun, um die Probleme Griechenlands in den Griff zu bekommen. Die so genannte Troika aus Vertretern von Europäischer Kommission, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds überwacht die Umsetzung des Programms und bewertet, ob Griechenland seine Schuldenlast grundsätzlich tragen kann. Aus dem inzwischen vorliegenden neuesten Bericht der Troika müssen wir jetzt die richtigen Schlüsse ziehen. Der Bericht zeichnet auf der Basis der Erfahrungen von inzwischen anderthalb Jahren ein realistisches Bild der Lage Griechenlands. Das ist insbesondere das Verdienst des IWF und seiner neuen Direktorin, Christine Lagarde, der ich an dieser Stelle ausdrücklich danken möchte.

Der Troika-Bericht verdeutlicht, dass Griechenland erst am Anfang eines langen und schwierigen Weges steht. Er verdeutlicht auch, dass der Privatsektor einen erheblichen Beitrag leisten muss, um die Schuldentragfähigkeit Griechenlands nachhaltig zu verbessern. Das Ergebnis lautet auch: Die Maßnahmen, die wir am 21. Juli 2011 im Europäischen Rat auf der Grundlage der damals vorliegenden Ergebnisse beschlossen haben, sind heute nicht mehr tragfähig. Das Ergebnis der heutigen Beratungen muss sein - das ist das Ziel -, dass die Schuldentragfähigkeit Griechenlands so ausgestaltet wird, dass Griechenland im Jahr 2020 auf einen Schuldenstand von 120 Prozent Verschuldung des Bruttoinlandsprodukts kommt. Das geht nicht, ohne dass sich der private Sektor in erheblich größerem Umfang an den Lasten beteiligt, als das am 21. Juli 2011 vorgesehen war.

Ein Schuldenerlass allein - das will ich hier ganz deutlich sagen -, egal wie er ausgestaltet ist, löst allerdings die Probleme Griechenlands nicht. Schmerzhafte und notwendige Strukturreformen müssen konsequent umgesetzt werden. Sonst stehen wir trotz Schuldenerlass nach kurzer Zeit wieder da, wo wir heute stehen. Das muss immer klar sein. Deshalb ist das Prinzip, das wir von Anfang an anwenden, richtig: Hilfen kann es nur geben, wenn der Empfänger Eigenverantwortung übernimmt. Hilfen müssen immer an strenge Bedingungen geknüpft sein. Auf diesem Weg müssen wir Griechenland mit Sicherheit noch eine ganze Zeit begleiten. Ich glaube - auch darüber werden wir heute sprechen -, es reicht nicht aus, dass alle drei Monate eine Troika kommt und wieder geht. Es wäre wünschenswert, dass eine permanente Überwachung in Griechenland stattfindet.

Genauso sind wir verpflichtet, alles dafür zu tun, dass Griechenland die Möglichkeit gegeben wird, wieder zu wachsen. Das bedeutet natürlich auch: Investitionen unter wahrscheinlich verbesserten Voraussetzungen. Deshalb gibt es eine EU-Mission unter Leitung des Deutschen Horst Reichenbach. Deshalb gab es die Reise des Bundeswirtschaftsministers nach Griechenland - mit einer Vielzahl potenzieller Investitionen deutscher Unternehmen im Gepäck. Und deshalb gibt es auch ein Treffen der Vertreter deutscher und griechischer Kommunen in der nächsten Woche. Sie wollen darüber beraten, wie sie sich gegenseitig helfen können.

Ich sage ausdrücklich - ich glaube, ich sage das in Ihrer aller Namen - : Wir wollen, dass Griechenland schnell auf die Beine kommt. Wir werden in allen Bereichen das tun, was uns möglich ist, im Sinne der deutsch-griechischen Partnerschaft.

Ein Schuldenschnitt für Griechenland, das heißt eine Beteiligung der privaten Gläubiger, bedeutet, egal wie er aussieht, dass wir gleichzeitig auch eine Lösung finden müssen, um systemische Risiken zu vermeiden, das heißt, um zu vermeiden, dass andere Länder aufgrund dieses Vorgangs angesteckt werden.

Deshalb müssen wir zwei Wege beschreiten.

Wir müssen dafür sorgen - das ist der eine Weg -, dass die Banken das Vertrauen ineinander nicht verlieren. Deshalb wurde am vergangenen Wochenende eine stärkere Rekapitalisierung der Banken von den Finanzministern auf der Grundlage der Vorschläge der europäischen Bankenaufsicht beschlossen. Diese ist unbedingt notwendig und wird ein ganz wichtiges Element sein, um eine solche Ansteckung zu verhindern. Wenn wir diese Rekapitalisierung der Banken durchführen, dann gilt die folgende Reihenfolge - das ist klar -: Zuerst sind die Banken aufgefordert, die Kapitalisierung aus eigener Kraft zu leisten, an zweiter Stelle müssen die Nationalstaaten helfen, und nur dann, wenn die Stabilität des Euro insgesamt in Gefahr ist, weil ein Nationalstaat das nicht leisten kann, kann es in Betracht kommen, dass die EFSF dazu herangezogen wird. Das ist die Reihenfolge.

Ein zweites wichtiges Element, um die Ansteckungsgefahr zu verhindern, ist der sogenannte Schutzwall, über den wir jetzt sehr viel gesprochen haben. Sie können es auch Firewall nennen, wenn Sie des Englischen mächtig sind; ich wollte mich allerdings deutsch ausdrücken, was sicherlich hilfreich ist.

Hierzu müssen wir - das ist der zweite Weg - alle anderen Länder von den Ansteckungsgefahren, die von Griechenland ausgehen können, abschirmen. Dazu sage ich: Unabdingbar, bevor wir solche Abschirmungen vornehmen, ist erst einmal, dass jedes Land, das davon betroffen sein könnte, seine Hausaufgaben macht und mit zusätzlichen Maßnahmen versucht, eigene Solidität zu beweisen. Auch darüber wird zuerst gesprochen.

Nun geht es um die Formen der Abschirmung; darüber ist schon viel geredet worden. Die EFSF hat jetzt eine effektive Kapazität von 440 Milliarden Euro; das haben wir hier beschlossen. Deutschland übernimmt dabei Garantien in Höhe von 211 Milliarden Euro. Dabei bleibt es: sowohl hinsichtlich des Gesamtvolumens der EFSF als auch der Obergrenze der deutschen Garantien.

In unserer heutigen Beratung geht es darum, dass die EFSF mit dieser Kapazität eine möglichst große Wirkung bei der Verhinderung von Ansteckungsgefahren erzielt. Die Wirkung dieser Abschirmung muss groß genug sein. Es hat eine umfassende öffentliche Diskussion dazu gegeben. Ich sage noch einmal - das ist ganz wichtig in diesem Zusammenhang -: Alle Modelle, die eine Beteiligung der Europäischen Zentralbank voraussetzen, sind vom Tisch und heute nicht Gegenstand der Beratung. Sie widersprechen den europäischen Verträgen. Ich habe klargemacht, dass solche Lösungen mit der Bundesregierung nicht infrage kommen.

Nun werden zwei Optionen ohne Beteiligung der Europäischen Zentralbank verfolgt:

erstens die Teilabsicherung neuer Staatspapiere des betreffenden Euro-Staates und

zweitens die Schaffung der Möglichkeit zur Beteiligung von privaten und öffentlichen Investoren an der Finanzierung von Maßnahmen, also an der EFSF.

Beide Optionen können nur im Rahmen der für die EFSF vereinbarten Instrumente Anwendung finden. Damit ist auch sichergestellt, dass die geltenden klaren Prinzipien der EFSF immer Anwendung finden. Der Mitgliedstaat muss einen Antrag auf Hilfe stellen, es wird ein Memorandum of Understanding ausgehandelt, und darin wird eine strenge Konditionalität der Hilfen vereinbart.

Der Deutsche Bundestag und die Bundesregierung müssen der Gewährung einer Hilfe im Einzelfall und damit der Anwendung einer der beiden Optionen zustimmen, und zwar in der Form, die die Vorschläge für das parlamentarische Vorgehen beinhalten. Über beide Optionen wird der Bundestag heute politisch im Grundsatz befinden, über beide Optionen werden wir heute Abend im Rahmen des Treffens der Staats- und Regierungschefs noch einmal politisch im Grundsatz beraten und sie beschließen. Selbstverständlich werden die Leitlinien, wenn sie vorliegen, anschließend entsprechend dem parlamentarischen Verfahren hier im Deutschen Bundestag beraten.

Darüber hinaus besteht auf europäischer Ebene Konsens, mit dem Internationalen Währungsfonds Gespräche darüber zu führen, wie der IWF über das heutige Maß hinaus zur Stabilisierung der Euro-Zone beitragen kann, und zwar mit Blick sowohl auf seine Expertise als gegebenenfalls auch auf seine Finanzierungsinstrumente.

Ich möchte noch einmal darauf hinweisen, weil es für die Beschlussfassung von heute wichtig ist: Wer auch immer möchte, dass sich private Gläubiger an der Schuldentragfähigkeit Griechenlands beteiligen, der muss Sorge dafür tragen, dass eine Abschirmung, ein Schutz gegenüber Ansteckungsgefahren mit beschlossen wird. Alles andere ist grob unverantwortlich.

Ich habe es gesagt: Die Bundesregierung will, dass die Wirtschafts- und Währungsunion zu einer Stabilitätsunion wird. Deshalb müssen wir neben der Bewältigung der akuten Krise natürlich auch Vorsorge für die Zukunft treffen, und zwar dadurch, dass die Euro-Mitgliedstaaten mehr gemeinsame Verantwortung übernehmen. Dazu haben wir bereits erste Schritte gemacht, zum Beispiel mit dem Euro-Plus-Pakt, mit dem die Staats- und Regierungschefs der Euro-Zone freiwillige Verpflichtungen eingegangen sind, Strukturreformen durchzuführen. Das bedeutet: Wettbewerbsfähigkeit ist jetzt auch in der Europäischen Union Chefsache. Mit dem neuen, gerade in Kraft getretenen Verfahren zur Vermeidung und Korrektur makroökonomischer Ungleichgewichte können Wettbewerbsschwächen früher erkannt und auch behoben werden. Auch die Struktur- und Kohäsionsfonds müssen in Zukunft mehr dahin gehend eingesetzt werden, dass sie wirklich der Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit dienen.

Aber ich sage auch - darauf werden wir im weiteren Verfahren achten -: Wirtschaftliche Ungleichgewichte sind noch nicht als solche schlecht. Wenn ein Überschuss entsteht, weil ein Land wettbewerbsfähiger als ein anderes ist, dann darf das natürlich nicht infrage gestellt und nivelliert werden, genauso wie unterschiedliche Zinsen Ausdruck unterschiedlicher Stärke sind.

Wir haben den Stabilitäts- und Wachstumspakt verschärft. Sanktionen setzen früher ein. Sie sind effektiver. Der Pakt bekommt jetzt sehr viel mehr Biss. Insofern haben wir hier eine Trendumkehr eingeleitet.

Zudem haben der französische Präsident und ich vorgeschlagen - auch darüber werden wir sprechen -, dass sich Parlamente, wenn die Europäische Kommission im Rahmen des Europäischen Semesters bei der Überprüfung der Haushalte Kritik äußert, freiwillig verpflichten, diese bei der Umsetzung im nationalen parlamentarischen Verfahren zu berücksichtigen, und dass sich alle Euro-Mitgliedstaaten verpflichten, eine Schuldenbremse in ihrer Verfassung aufzunehmen. Die Diskussion darüber ist in vollem Gange. Ich finde es absolut bemerkenswert, dass ein Land wie Spanien noch kurz vor den Wahlen seine Verfassung geändert hat, um eine solche Schuldenbremse aufzunehmen.

Wir verschärfen und verbessern damit europäische Verfahren. Diese ergänzen und verstärken wir durch Selbstverpflichtungen, wie ich es eben gesagt habe. Wir schöpfen damit den Rahmen der geltenden europäischen Verträge weitestgehend aus. Die Probleme, vor denen wir heute stehen, müssen und können heute in diesem Rahmen gelöst werden. Aber ich sage auch: Wir brauchen mehr. Es ist meine feste Überzeugung, dass wir über diesen Ansatz hinausgehen müssen.

Es ist im Übrigen auch so: Wenn die internationale Öffentlichkeit auf uns in Europa schaut, dann will sie auch wissen, wie die Entwicklung der Europäischen Union mittelfristig weitergeht, weil sie Sicherheiten braucht, dass der Euro-Raum zusammensteht, seine Wettbewerbsfähigkeit verbessert und die Stabilitätskultur stärkt.

Deshalb werden wir die europäischen Verträge ändern müssen. Dafür hat sich der Bundesaußenminister am Samstag, und dafür habe ich mich am Sonntag eingesetzt, und zwar dahin gehend, dass wir - das wird sich auch in den Schlussfolgerungen widerspiegeln - den Präsidenten des Rates bitten, uns im Dezember Vorschläge zu machen, wie die Stabilitätskultur besser verankert werden kann. Dabei geht es nicht um eine umfassende Reform des Vertrags von Lissabon - damit hätte man sich zu viel vorgenommen -, es geht auch nicht um eine Vergemeinschaftung weiter Teile der Wirtschafts- und Finanzpolitik, sondern im nächsten Schritt geht es darum, erst einmal im Hinblick auf Länder, die permanent und immer wieder den Stabilitäts- und Wachstumspakt verletzen, eine Möglichkeit zu schaffen, durchzugreifen und auf ihre Verletzungen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes wirklich Einfluss zu nehmen.

Denn - weil hier gerade wieder gemurmelt wird - es ist so: Es kann nicht sein - das ist über 50 Mal passiert -, dass gemeinsame Verabredungen im Stabilitäts- und Wachstumspakt nicht eingehalten werden. Wir wissen jetzt, dass eine Nichteinhaltung in einem der 17 Mitgliedstaaten - Griechenland ist nicht der größte - zur Gefährdung der Stabilität des Euro insgesamt führen kann. Deshalb müssen Verletzungen dieser Stabilitätskultur schärfer geahndet werden, zum Beispiel durch ein Klagerecht beim Europäischen Gerichtshof, wenn sich ein Land permanent nicht an die Vorgaben hält.

Ich bin mir sehr sicher, dass die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland, die sich mit Recht viele Sorgen machen, genau dies verstehen. Sie wollen nicht einfach mehr Europa, aber sie wollen mehr Sicherheit für die Stabilitätskultur in Europa.

Ich glaube, erst dann, wenn wir in diesem Sinne mehr Europa schaffen, wenn wir Europa also weiterentwickeln, haben wir die politische Dimension dieser Krise verstanden. Dann haben wir auch verstanden, dass wir die Konstruktionsschwächen beziehungsweise die Konstruktionsmängel bei der Schaffung der Wirtschafts- und Währungsunion entweder jetzt oder gar nicht beseitigen. Wenn wir sie jetzt beseitigen, dann nutzen wir die Chance dieser Krise. Ansonsten würden wir versagen.

Ich bin mir durchaus bewusst: Eine Vertragsänderung birgt immer Risiken. Sie ist ein mühsamer Weg. Alle 27 Mitgliedstaaten müssen zustimmen. Dennoch ist sie der notwendige und beste Weg, eine Spaltung der Europäischen Union in Euro- und Nicht-Euro-Staaten zu verhindern. Wenn uns das nicht gelingt, dann wird sich die Notwendigkeit ergeben, dass die Euro-Staaten untereinander verbindliche Verträge abschließen. Das will ich nicht. Das fände ich nicht vernünftig, weil noch viele Länder dem Euro beitreten wollen. Deshalb muss man bereit sein, diesen Weg zu gehen.

Da wir in einer solch existenziellen Krise in Europa sind, frage ich: Wo steht eigentlich geschrieben, dass eine Vertragsänderung immer eine Dekade dauern muss? Wer auf der Welt wird uns für handlungsfähig halten, wenn wir uns hinstellen und sagen: "Nach dem Lissabonner Vertrag darf es nie wieder eine Änderung geben"? Die ganze Welt ändert sich, also muss auch Europa veränderungsbereit sein.

So wie wir im Zusammenhang mit der deutschen Einheit in sechs Monaten einen Zwei-plus-Vier-Vertrag hinbekommen haben, wird es doch wohl auch möglich sein - der Euro sollte uns so viel wert sein -, dass wir gemeinsam Vertragsänderungen ins Auge fassen.

Angesichts der Dimension bei der Bekämpfung der Krise ist nicht zu vergessen: Entstanden ist sie maßgeblich auch durch zu wenig Regulierung. Deshalb bleibt die Regulierung der Finanzmärkte eine der großen Aufgaben, die bei weitem noch nicht erledigt ist.

Deswegen hat sich auch der Europäische Rat am Sonntag noch einmal damit beschäftigt und betont, dass wichtige Vorschläge zur Regelung der Derivate, der Einlagensicherung und der Eigenkapitalanforderungen an Banken jetzt zügig angenommen werden müssen. In diesem Zusammenhang möchte ich noch einmal betonen, dass sich die Bundesregierung für die Einführung einer Finanzmarkttransaktionsteuer einsetzt, und zwar in den nächsten Tagen zunächst einmal beim G-20-Gipfel in Cannes. Wir sind auch dankbar dafür, dass die Europäische Kommission einen Vorschlag dafür vorgelegt hat. Die Finanzminister werden diesen Vorschlag Anfang November beraten, und Deutschland wird alles tun, damit dieser Vorschlag der Europäischen Kommission ein Erfolg wird.

Wahr ist aber auch: Viele Fragen erfordern nicht nur eine nationale oder europäische Antwort, sondern globale Antworten. Dafür ist die G20 das geeignete Gremium. Die G20 verkörpert immerhin zwei Drittel der Weltbevölkerung und 80 Prozent der Weltwirtschaftskraft. Deshalb war der Ausgangspunkt der G20-Beratungen im Übrigen auch eine bessere weltweite Regulierung der Finanzmärkte.

Man kann sagen: Wir haben einiges geschafft. Ein wichtiger Schritt wird jetzt in Cannes gegangen werden: Systemrelevante Banken werden nicht mehr so, wie es in der Krise der Fall war, behandelt, dass nämlich letztlich der Steuerzahler dafür eintreten muss. "Too big to fail" gibt es nicht mehr, und international wird ein Restrukturierungsprozess für die systemischen Banken vereinbart, so wie wir das in Deutschland mit dem Restrukturierungsgesetz für Banken bereits vorgeschlagen haben. Das hat lange gedauert, aber es ist gut, dass wir das jetzt in Cannes beschließen können.

Gleichzeitig werden wir den Auftrag erteilen, dass das, was für die Banken gilt, auch für die "Schattenbanken" gelten muss, zum Beispiel für die Hedgefonds; denn auch sie stellen genauso ein systemisches Risiko für die Finanzmärkte dar. Dieser Auftrag wird von dem sogenannten Financial Stability Board als Nächstes bearbeitet werden.

In Europa haben wir bereits die Hedgefonds geregelt. Aber weltweit ist das noch nicht in ausreichendem Maße geschehen. Deshalb muss auch das Thema Steueroase wieder auf den Tisch; denn wir hatten uns seitens der G20 zu Beginn vorgenommen, dass jedes Instrument, jeder Platz und jeder Akteur einer Regulierung unterworfen wird. Da reicht es nicht, dass wir das national oder in Europa tun, sondern das muss weltweit geschehen. Allerdings sage ich auch: Mit Einzelmaßnahmen in Deutschland, zum Beispiel dem Verbot von Leerverkäufen, haben wir gute Erfahrungen gemacht; denn jetzt wird das ganze Thema wenigstens in Europa diskutiert. Nun müssen wir es noch weltweit nach vorne bringen.

Was auch sehr wichtig ist: G20 wird nur dann funktionieren, wenn nicht jedes Jahr neue Beschlüsse gefasst werden. Im letzten Jahr in Toronto hatten wir uns verpflichtet, dass alle Industrieländer bis 2013 ihr Staatsdefizit halbieren. Deutschland wird das schaffen, aber längst nicht alle Industrieländer in der G20. Ich halte nichts davon, jedes Jahr nach Konjunkturlage gerade das zu beschließen, was passt. Vielmehr glaube ich, dass die G20 die Verpflichtung hat, auf einem langen Pfad das Beschlossene durchzuhalten und der Ursache vieler der Schwierigkeiten entgegenzuwirken. Verschuldung gibt es nicht nur in Europa, sondern Verschuldung gibt es auch in anderen Teilen der Welt, zum Beispiel in Japan oder in den Vereinigten Staaten von Amerika. Deshalb glaube ich: Es reicht nicht, wenn wir uns gegenseitig immer nur ermahnen, sondern es geht vor allen Dingen darum, dass wir gemeinsam handeln.

Wer in diesen Tagen im Lande unterwegs ist und mit den Bürgerinnen und Bürgern spricht, wer die Demonstrationen in New York, Brüssel, Frankfurt oder Berlin verfolgt, der weiß, wie sehr die Schuldenkrise die Menschen bewegt. Ich sage: Dafür habe ich großes Verständnis. Die Lage ist sehr ernst. Die Krise zu bewältigen, erfordert Ausdauer. Wir alle betreten Neuland. Die Ursachen der Krise habe ich dargestellt. Sie sind komplex. Einfache Lösungen, den einen Paukenschlag, wird es nicht geben. Die Themen werden uns noch Jahre beschäftigen.

Ihnen liegen heute die Unterlagen mit Details zur Maximierung der Kreditvergabekapazität der EFSF vor, die derzeit nach bestem Wissen und Gewissen vorgelegt werden können. In der öffentlichen Debatte über diese Maximierung ist viel von einem größeren Ausfall- und Haftungsrisiko, das Deutschland mit der Maximierung der EFSF möglicherweise eingeht, die Rede. Ob das so sein wird, kann letztlich niemand abschließend abschätzen. Ich sage aber ausdrücklich: Ausschließen können wir es nicht. Deshalb ist es richtig und gut, dass wir dies in unserem Entschließungsantrag so verankert haben.

Ich möchte darüber sprechen, weil wir hier an einem Punkt sind, an dem wir, die wir alle politische Verantwortung tragen, eine schlichte politische Frage beantworten müssen. Sie lautet: Wie gehen wir in einer solchen Situation, wie wir sie jetzt haben, mit Risiken um? Anders gefragt: Wann halten wir Risiken für vertretbar? Können wir im konkreten Fall das Risiko, das wir mit der Maximierung der EFSF eingehen, für vertretbar halten oder nicht? Das ist heute die konkrete Frage. Wenn ich das Risiko für nicht vertretbar halte, dann darf ich es natürlich nicht eingehen. Wenn ich es aber nach Abwägung aller Argumente für und wider für vertretbar halte, dann muss ich das Risiko eingehen. Genau das zeichnet politisches Handeln aus und unterscheidet es von anderem Handeln.

Bezogen auf die Maximierung der EFSF können wir festhalten:

Erstens. Der deutsche Anteil bleibt bei 211 Milliarden Euro.

Zweitens. Verträge werden nicht gebrochen.

Drittens. Die wirtschaftlich stärkste Nation sind wir. Aber - auch das sage ich - wir sind nicht der Nabel der Welt. Die Welt schaut auf Europa und Deutschland. Sie schaut darauf, ob wir bereit und fähig sind, in der Stunde der schwersten Krise Europas seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs Verantwortung zu übernehmen.

Viertens. Dem möglichen Ausfall- und Haftungsrisiko steht der ökonomische Gewinn gegenüber, den Deutschland wie kein anderes Land vom Euro hat.

Fünftens. Mein Fazit lautet deshalb: Das Risiko, das mit der jetzt beabsichtigten Maximierung der EFSF verbunden ist, ist vertretbar. Ich gehe sogar noch einen Schritt weiter: Es wäre nicht vertretbar und nicht verantwortlich, das Risiko nicht einzugehen. Eine bessere Alternative, eine vernünftigere Alternative liegt mir nach Prüfung aller Möglichkeiten nicht vor.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich danke Ihnen für Ihre bisherige Unterstützung und kritische Begleitung auf unserem Weg, den Euro zu schützen und zu stärken. Es ist mir ein persönliches Anliegen, in enger Abstimmung mit dem Deutschen Bundestag - mit Regierungs- und Oppositionsfraktionen - Lösungen zum Wohle unseres Landes zu finden.

Ich bin überzeugt: Mit unserem umfassenden Ansatz, so wie ich ihn dargestellt habe, zur Bewältigung der akuten Krise einerseits und kluger Vorsorge für die Zukunft andererseits wird es uns gelingen, die Wirtschafts- und Währungsunion wieder zur Stabilitätsunion zu machen. Unseren Bürgerinnen und Bürgern sage ich: Es gilt: Was gut ist für Europa, das ist auch gut für Deutschland. Dafür steht ein halbes Jahrhundert Frieden und Wohlstand in Deutschland und in Europa.

Gestatten Sie mir angesichts der Lage - nicht nur der ökonomischen Lage wegen der Schuldenkrise, sondern auch der politischen Lage in einzelnen Staaten Europas - zum Schluss ein persönliches Wort. Niemand sollte glauben, dass ein weiteres halbes Jahrhundert Frieden und Wohlstand in Europa selbstverständlich ist. Es ist es nicht. Deshalb sage ich: Scheitert der Euro, dann scheitert Europa. Das darf nicht passieren.

Wir haben eine historische Verpflichtung, das Einigungswerk Europas, das unsere Vorfahren nach Jahrhunderten des Hasses und des Blutvergießens vor über 50 Jahren auf den Weg gebracht haben, mit allen uns zur Verfügung stehenden verantwortbaren Mitteln zu verteidigen und zu schützen. Die Folgen, wenn das nicht gelänge, kann niemand von uns absehen. Es darf nicht geschehen - das ist meine tiefe Überzeugung -, dass später einmal gesagt werden kann, dass die politische Generation, die im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts in Europa politische Verantwortung getragen hat, vor der Geschichte versagt hat.

Als umso wertvoller empfinde ich das politische Signal, das heute der Deutsche Bundestag mit einem gemeinsamen Antrag von CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen an die Menschen in Deutschland, nach Europa und in die Welt aussendet. Er sendet damit eine Botschaft aus, die weit über die finanzpolitischen Aussagen des Antrags hinausreicht. Er sendet die Botschaft aus, dass Deutschland parteiübergreifend das europäische Einigungswerk schützt und für dieses Ziel zusammensteht. Dafür danke ich allen, die daran mitgewirkt haben. Sie können sicher sein, dass ich diese Botschaft auch für die nicht einfachen Verhandlungen heute mit nach Brüssel nehme.


*


Quelle:
Bulletin Nr. 111-1 vom 26.10.2011
Regierungserklärung von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
zum Europäischen Rat und zum Eurogipfel am 26. Oktober 2011 in Brüssel
vor dem Deutschen Bundestag am 26. Oktober 2011 in Berlin
Presse- und Informationsamt der Bundesregierung
Dorotheenstraße 84, 10117 Berlin
Telefon: 030 18 272-0, Fax: 030 18 10 272-0
E-Mail: internetpost@bpa.bund.de
Internet: www.bundesregierung.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Oktober 2011