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FRIEDEN/1043: Gazas traumatisierte Kinder ... eingesperrt und vergessen (SB)



Die ehemalige Oberstabsärztin der Bundeswehr, Heike Groos, war 2003 in Afghanistan daran beteiligt, den Überlebenden eines Anschlags auf die Bundeswehr, bei dem vier Soldaten starben, erste Hilfe zu leisten. Sie hat ihre Erfahrungen in dem Buch "Ein schöner Tag zum Sterben" niedergeschrieben und schilderte im Deutschlandfunk (25.09.2009), wie sehr sie dieser blutige Vorfall psychisch mitgenommen hat. Zuerst habe sie über eine lange Zeit nichts bemerkt, doch

"dann, in einer Phase der Ruhe und als ich mich sicher und stabil fühlte, da brach das auf einmal dann über mich herein und ich war ganz, ganz schrecklich traurig. Ich hatte Schmerzen überall, richtig körperliche Schmerzen und war antriebslos, ich konnte mich zu gar nichts aufraffen, ich konnte nicht mal duschen gehen, geschweige denn einkaufen, kochen, das Haus putzen. Und das Schlimmste war eigentlich: Ich konnte keine anderen Menschen um mich ertragen, nicht mal meine besten Freunde. Ich wollte niemand um mich haben, gerade mal meine Kinder, aber mehr nicht."

Heike Groos wurde Opfer einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS), einer behandlungsbedürftigen psychischen Symptomatik, unter der eine wachsende Anzahl von Bundeswehrsoldaten leidet. Das Thema wurde mit der Ausstrahlung des Fernsehfilms "Willkommen zu Hause", in dem ein junger Bundeswehrsoldat nach der Rückkehr aus Afghanistan aufgrund seiner Traumatisierung in Konflikte mit seinem sozialen Umfeld gerät, im Februar 2009 einem breiteren Publikum bekannt. Die daraufhin in den Medien entbrannte Diskussion um die psychischen Probleme von Kriegsheimkehrern mündete in politische Forderungen nach einer Verbesserung der psychotherapeutischen Versorgung der Betroffenen.

Wenn schon gut versorgte und ausgebildete Soldaten unter psychischen und psychosomatischen Auswirkungen der Kriege zu leiden haben, in die sie geschickt werden, wie muß es dann der sehr viel verletzlicheren Zivilbevölkerung ergehen? Darüber ist weit weniger in Erfahrung zu bringen als über die Probleme der Besatzungstruppen in Afghanistan, zumal die meisten Menschen des Landes tagtäglich um ihr bloßes materielles Überleben kämpfen müssen. Das gilt auch für die 1,5 Millionen Bewohner Gazas, die nicht nur unter den Nachwirkungen des zerstörerischen Angriffs der israelischen Streitkräfte vor einem Jahr zu leiden haben, sondern deren Gebiet weiterhin einem großen Gefängnis gleicht, in dem nicht einmal die Schäden der umfassenden Bomben- und Raketenangriffe behoben werden können, da weder Israel noch Ägypten die dafür erforderlichen Hilfsgüter passieren lassen.

Im Bewußtsein der Bundesbürger fast völlig ausgeblendet ist die Tatsache, daß es sich bei mehr als der Hälfte der Bewohner Gazas um Kinder handelt. Die Auswirkungen eines mehrwöchigen Bombardements, in dem jeder Bewohner des kleinen Gebiets zu jeder Zeit von einer Bombe, Rakete oder Kugel getroffen werden konnte, auf die mentale Verfassung von Kindern dürfte sich dem Vorstellungsvermögen der meisten Deutschen, die nicht mehr zu der Generation gehören, die die Schrecken des Bombenkriegs erlebt haben, entziehen.

Schon vor dem letzten großen Überfall auf Gaza mußten laut einer Erhebung der kanadischen Queen's University aus dem Jahr 2006 98 Prozent der Kinder in Gaza traumatisierende Erfahrungen machen, die einem mitteleuropäischen Heranwachsenden meist erspart bleiben. Sie wurden mit Tränengasgranaten, mit von Kunsstoff ummantelten Kugeln, die schwere Verletzungen hervorrufen können, oder scharfer Muntion beschossen. Die Häuser ihrer Familien wurden von israelischen Soldaten durchsucht, zum Teil verwüstet oder zerstört. Sie mußten mitansehen, wie ihre Eltern gedemütigt und mißhandelt wurden. Sie mußten regelrechte Kriegshandlungen miterleben und wurden selbst verletzt, gefangengenommen und gefoltert. An dieser Situation permanenter Bedrohung hat sich nach dem Rückzug der israelischen Siedler und Soldaten im Sommer 2005 praktisch nichts geändert. Israelische Streitkräfte drangen regelmäßig in den Gazastreifen ein, Kampfhubschrauber feuerten Raketen auf angebliche Terroristen ab, Artilleriebeschuß und Bomben taten ein übriges dazu, nicht nur Kämpfer, sondern auch Zivilisten umzubringen. Ein- und Ausreise sind spätestens seit Juni 2007, als der Machtkampf zwischen Hamas und Fatah zugunsten der 2006 gewählten Partei entschieden wurde, unmöglich. All das wird begründet mit palästinensischen Raketen, die im israelischen Grenzgebiet meist wirkungslos verpuffen und hinsichtlich des dennoch angerichteten Schadens um ein Hundertfaches vergolten werden.

Unter den Toten des Bombardements vor einem Jahr befanden sich über 350 Kinder. Über 1800 Kinder wurden verletzt, etwa 500 trugen dabei lebenslange Schäden und Behinderungen davon. Die Traumatisierung durch den wochenlangen Beschuß scheint kein Kind ausgelassen zu haben, was nicht erstaunen kann, wenn man die Enge ihrer Lebensverhältnisse und die Unmöglichkeit, der Zerstörungsgewalt der Aggressoren durch Flucht in den Raum auszuweichen, bedenkt. Berichte von Kindern, die unter schwerwiegenden Störungen wie nächtlichem Bettnässen, Schlaflosigkeit, Panikattacken, völliger Regression in die Sprachlosigkeit leiden, die das Haus nicht mehr verlassen wollen, weil sie befürchten, ihre Familie nicht mehr wiederzusehen, oder die sich vom Verlust ihrer Eltern oder Geschwister nicht mehr erholen, dringen mitunter durch, werden hierzulande aber nicht annähernd so publik gemacht wie etwa die psychischen Probleme deutscher Soldaten in Afghanistan.

Die Bundesregierung hat nicht das mindeste Interesse daran, den Verbündeten Israel durch Forderungen nach einer Verbesserung der Lage in Gaza in Schwierigkeiten zu bringen. Sie hat, ganz im Gegenteil, die Isolation der Hamas und die daraus resultierende Blockade Gazas zum Bestandteil der eigenen Regierungspolitik gemacht. Ein Ergebnis dessen besteht darin, daß die Aktivistinnen und Aktivisten des Gaza Freedom March keinerlei Unterstützung durch die Bundesregierung erhielten.

Nun mußte die deutsche Delegation dieses großangelegten Versuchs, die Blockade Gazas zu durchbrechen oder zumindest internationale Aufmerksamkeit für die unverminderte Drangsalierung der Palästinenser zu wecken, erleben, daß der Versuch von vier Ärzten und einer auf Psychotherapie spezialisierten Krankenschwester aus Deutschland, nach Gaza einzureisen und dort medizinische Hilfe zu leisten, vom Auswärtigen Amt in Berlin behindert wurde [siehe INFOPOOL-POLITIK-AUSLAND-NAHOST/601]. Da die Helferinnen und Helfer sich unter anderem vorgenommen hatten, die Leiden der traumatisierten Kinder zu lindern, ist die Behauptung des Außenministeriums, man könne ihnen das gewünschte Empfehlungsschreiben für die Einreise in den Gazastreifen aufgrund der für dieses Gebiet ausgestellten Reisewarnungen nicht ausstellen, an Zynismus kaum zu überbieten.

Wenn schon eine Bundeswehrsoldatin, die Zeugin eines Anschlags auf ihre Kameraden wird, schwerwiegende Beeinträchtigungen ihres psychischen Wohlbefindens erleidet, wie wird es wohl Kindern ergehen, die nichts als Krieg und Zerstörung, als Armut und Hunger kennen? Wenn an die Bundesbürger appelliert wird, das Schicksal der in Afghanistan traumatisierten Bundeswehrsoldaten zur Kenntnis zu nehmen, während man sie über die Probleme der Kinder in Gaza weitgehend in Unkenntnis läßt und sogar den Versuch engagierter Bundesbürger, auf eigene Faust Hilfe zu leisten, torpediert, dann hat man es mit einem signifikanten Merkmal imperialistischer Kriege zu tun. Um für diese unter der Bevölkerung Akzeptanz zu schaffen, gefallen sich Politiker darin, mehr materielle und mentale Unterstützung der eigenen Soldaten zu fordern. Geht es um die Probleme der von der eigenen Kriegführung oder der verbündeter Staaten betroffenen Menschen, dann ist man vor allem mit Beschwichtigung beschäftigt.

Je weniger die von militärischer Aggression Betroffenen in Erscheinung treten, desto wirksamer kann verhindert werden, daß das schlichte Mitgefühl, das der Mensch entwickeln kann, wenn andere Menschen unter Gewalt, Mangel und Unrecht leiden, in politische Forderungen an die eigene Regierung mündet. Im Falle Afghanistans beträfen diese den sofortigen Abzug der Bundeswehr, um anstelle dessen effiziente Hilfe zur Linderung der materiellen Not der Bevölkerung des Landes zu leisten. Im Falle Palästinas ginge es im mindesten um die Einstellung jeglicher materiellen wie politischen Unterstützung der Besatzungspolitik Israels. Weitergehende Schritte wie die Strafverfolgung der für Kriegsverbrechen verantwortlichen israelischen Politiker und Militärs und den Einsatz wirksamer Sanktionen gegen das Land lägen auf der Strecke einer Außenpolitik, die völkerrechtliche Grundsätze und humanistische Werte nicht nur dann zu ihrem Credo erklärt, wenn sie ihren strategischen Interessen dienen.

11. Januar 2009