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FRIEDEN/1061: Tod in Tunnel und Sperrzone - Gaza im ägyptisch-israelischen Würgegriff (SB)



Wollte man unter den derzeit herrschenden Verhältnissen allen Ernstes von einer Phase des Friedens für die Palästinenser im Gazastreifen sprechen, so gleicht diese einem permanenten unterschwelligen Kriegszustand, der jederzeit in direkte militärische Eskalation umschlagen kann. Seit die offiziellen Grenzübergänge zwischen dem Gazastreifen und Israel wie auch Ägypten vor knapp drei Jahren geschlossen wurden, leben 1,5 Millionen Menschen in einem Freiluftgefängnis, dessen systematische Unterversorgung mit lebensnotwendigen Mitteln weit über die politische Erpressung hinaus längst die Züge eines schleichenden Genozids angenommen hat. Aus existentiellen Gründen darauf angewiesen, Nahrungsmittel und andere Güter zu beschaffen, graben die Bewohner des allseits einkesselten Küstenstreifens Tunnel unter der Grenze zu Ägypten, die man als einzig verbliebene Lebensader der drangsalierten palästinensischen Bevölkerung bezeichnen kann.

In jüngerer Zeit haben die USA und Israel ihren Druck auf Ägypten verschärft, diese Versorgungslinie abzuschneiden. Um ihr den Stempel der Illegalität aufzudrücken und ihre Zerstörung zu rechtfertigen, wurde die Sprachregulierung durchgesetzt, es handle sich dabei um Schmuggel, der insbesondere dazu diene, fortgesetzt Waffen in den Gazastreifen einzuschleusen. Da die ägyptische Regierung nicht das geringste Interesse daran hat, die Palästinenser aufzunehmen, es sich aber aus innen- und außenpolitischen Gründen nicht leisten kann, ihre Kollaboration mit Israel und den USA in aller Offenheit zur Schau zu stellen, duldete sie befristet den unterirdischen Grenzverkehr.

Mit der tief in die Erde getriebenen Sperrwand, die den Tunnelbau entscheidend erschweren soll, hat die ägyptische Führung bereits ein unmißverständliches Zeichen gesetzt, daß sie fortan auch die zweite Hand an die Kehle der Palästinenser legt, um sie Zug um Zug abzuwürgen. Wie ein aktueller Zwischenfall zeigt, müssen diese nunmehr nicht nur um ihr Leben fürchten, wenn israelische Kampfflugzeuge die Tunnel bombardieren. Nach Angaben der Hamas sind in einem Versorgungstunnel vier Palästinenser erstickt, wobei das Innenministerium in Gaza ägyptische Sicherheitskräfte beschuldigt hat, giftiges Gas eingeleitet zu haben. Ein Klinikarzt in der Grenzstadt Rafah, Hamdan Abu Latifa, bestätigte den Erstickungstod der vier Männer sowie schwere Verletzungen von sechs weiteren Personen. (www.spiegel.de 29.04.10)

Wie es hieß, hätten ägyptische Sicherheitskräfte schon des öfteren Gas in Tunnel geleitet, um die Palästinenser daraus zu vertreiben. Es sei jedoch das erste Mal, daß Menschen daran starben. Hamas-Sprecher Fausi Barhum bezeichnete dies laut der Tageszeitung "Jediot Aharonot" vor Journalisten als ein "schreckliches Verbrechen an einfachen palästinensischen Arbeitern, die nur versuchen, ihr täglich Brot zu verdienen". Er fügte hinzu: "Das war ein kaltblütiges Töten. Hamas und das ganze palästinensische Volk verurteilen dies nachdrücklich." Die Hamas warte nun auf eine ägyptische Erklärung und auf eine Untersuchung der Umstände. Die Verantwortlichen müßten zur Rechenschaft gezogen werden. (www.israelnetz.com 29.04.10)

Von ägyptischer Seite wurden die Vorwürfe umgehend bestritten, wobei die widersprüchlichen Angaben nahelegen, daß es sich bei dieser Rechtfertigung um ein mißlungenes Vertuschungsmanöver handelt. "Wir haben schon seit Tagen keine Tunnel mehr zerstört", behauptete ein Angehöriger der Sicherheitskräfte in dem ägyptischen Grenzort Rafah. Zudem setze man dabei nie Gas ein, sondern verschließe die Tunneleingänge lediglich mit Sand und Steinen. Überdies werde die Regierung der Hamas-Bewegung im Gazastreifen von der ägyptischen Polizei stets über die bevorstehende Zerstörung eines Tunnels informiert, damit dieser von palästinensischer Seite rechtzeitig geräumt werden könne.

Hingegen erklärte ein Vertreter des ägyptischen Geheimdienstes, die Sicherheitskräfte hätten mehrere Tunneleingänge gesprengt. Das sei gängige Praxis, um die Tunnel unbrauchbar zu machen. Durch das Feuer, das die Explosion entfache, werde der Sauerstoff unter der Erde verbraucht. Halten sich noch Menschen in dem Tunnel auf, können diese ersticken. (www.focus.de 29.04.10)

Wie wenig ein palästinensisches Leben aus Sicht der Besatzungsmächte wert ist, unterstrich ein weiterer tödlicher Zwischenfall am selben Tag, bei dem ein Bewohner des Gazastreifens von israelischen Soldaten erschossen wurde. Nahe der militärischen Sperrzone an der Grenze zu Israel hatten sich zahlreiche Palästinenser und internationale Aktivisten versammelt, um gegen den Sperrstreifen zu protestieren. Die Bewohner dürfen sich dem Grenzzaun höchstens auf 150 Meter und an einigen Stellen sogar nur auf 300 Meter nähern. Wie es hieß, hätten einige Demonstranten Steine geworfen und kleine Feuer angezündet. Daraufhin eröffneten die israelischen Soldaten das Feuer und trafen den 21 Jahre alten Ahmad Salem Deeb, der im Krankenhaus an seinen Verletzungen starb. Nach Angaben einer Armeesprecherin feuerten die Soldaten Warnschüsse ab, um die Masse vom Grenzzaun fernzuhalten. Eine Untersuchung des Vorfalls sei angeordnet worden.

Da der Beschuß angesichts der Umstände nicht rundweg bestritten werden konnte, bediente sich die Armee einer Standarderklärung, wonach "Warnschüsse" abgegeben worden seien, um ein weiteres Vordringen der "Masse" zu verhindern. Zwischen der angeblichen Warnung und dem Tod des jungen Palästinensers klafft wie so oft ein nicht zu überbrückender Widerspruch, den eine interne Untersuchung der Streitkräfte erfahrungsgemäß nicht im Sinne einer realitätsgerechten Ermittlung, geschweige denn Strafverfolgung aufklären wird.

Friedensbrecher, so steht zu befürchten, bleiben nach dieser Deutungshoheit die Palästinenser und internationalen Aktivisten, deren Protest gegen die Willkür des Sperrstreifens wie grundsätzlich die Blockadepolitik sie ins Unrecht setzt. Israelische Waffengewalt forciert die Abriegelung und Einschnürung, indem sie selbst demonstrativen Widerstand unter Feuer nimmt. Im Schulterschluß mit ägyptischen Sicherheitskräften versiegelt man die letzten verbliebenen Lücken in der umfassenden Blockade Gazas, um die Erpressung auf die Spitze zu treiben, und setzt zugleich die Doktrin, daß palästinensischer Widerstand um jeden Preis im Keim erstickt werden müsse, mit Brachialgewalt durch.

29. April 2010