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FRIEDEN/1074: Nahost-Friedensprozeß - Verlustgeschäft für die Palästinenser (SB)



Wenn von einem Friedensprozeß im Nahen Osten die Rede ist, gilt es zunächst mit der gebotenen Skepsis zu klären, worüber man eigentlich spricht. Frieden - ein gemein den höchsten Gütern menschlichen Zusammenlebens zugeordnetes Konstrukt - erweist sich allzu leicht im Verbund mit seinem Pendant des Krieges als Phasenverlauf fortgesetzter Herrschaftssicherung. Frieden zwischen Israel und den Palästinensern, wie ihn alle ersehnen, ist nur dann für beide Seiten gleichermaßen erstrebenswert, sofern er das herrschende Machtgefälle nicht zementiert oder gar vertieft. Wenngleich sich nach Jahrzehnten bewaffneter Auseinandersetzungen der Eindruck aufdrängt, diese seien der Kern des Problems, dessen Aufhebung man folglich um jeden Preis anstreben müsse, blendet diese Auffassung die Gründe des Konflikts aus. So unbestreitbar kein Mensch in unausgesetzter Bedrohung durch Waffengewalt leben möchte, so wenig kann ihm an einem Frieden gelegen sein, der von Unterwerfung, Ausbeutung und Entwürdigung geprägt ist.

Zudem sollte man nicht vergessen, daß nahezu zwei Jahrzehnte von Gesprächen mit israelischen Regierungen - angefangen von der sogenannten Friedenskonferenz 1991 in Madrid über die Verhandlungen in Oslo und Camp David - die Lage der Palästinenser verschlechtert haben. Während diese jedesmal beträchtliche Zugeständnisse machten, erfüllte Israel seine Zusagen nicht und verhandelte beim nächsten Anlauf jeweils auf noch niedrigerem Niveau. Daher liegt es nahe, ein durchgängiges Muster in diesem Prozeß zu verorten, der die palästinensische Seite im Verbund mit Militärschlägen und administrativen Zwangsmaßnahmen fortgesetzt schwächt und ihren Widerstand bricht. Angesichts dieser Erfahrungen sind die Zweifel vieler Palästinenser hinsichtlich des Ausgangs der neuerlichen Friedensinitiative nur zu verständlich.

Zu prüfen ist weiterhin, welches Resultat der revitalisierten Gesprächsrunden avisiert ist. Die landläufige Ansicht, daß die beiden Seiten dabei eine unterschriftsreife Einigung anstreben, die anschließend umgesetzt werden kann, trägt den diplomatischen und politischen Winkelzügen dieses Vorhabens nicht Rechnung. Sollte es wider Erwarten gelingen, in den kommenden zwölf Monaten alle Kernfragen wie die Gründung des palästinensischen Staates, dessen Grenzverlauf, die Teilung Jerusalems in zwei Hauptstädte, die Flüchtlingsfrage sowie Sicherheitsvereinbarungen, Siedlungen und nicht zuletzt die Verteilung des Wassers zu behandeln, wird dabei bestenfalls ein Rahmenabkommen herausspringen, bei dem es sich mitnichten um einen Friedensvertrag handelt. Rahmenabkommen zeichnen sich dadurch aus, daß sie alle wesentlichen Details offenlassen und somit einander widersprechenden Interpretationen Vorschub leisten. Daß sich in der Folge die weitaus stärkere Seite nicht nur mit ihrer Auslegung durchsetzt, sondern auch über die Mittel verfügt, immer neue Fakten zu ihren Gunsten zu schaffen, liegt auf der Hand.

Palästinensische Fraktionen wie die Hamas sprechen Mahmoud Abbas grundsätzlich das Recht ab, im Namen des palästinensischen Volkes zu verhandeln. Da er nicht zum Führen derartiger Verhandlungen autorisiert sei, werde keine dabei getroffene Vereinbarung bindend sein. Abbas hatte im Januar 2005 die Präsidentschaftswahlen gegen sieben weitere Kandidaten für sich entschieden. Die verfassungsmäßig vorgesehene Neuwahl des Amtes im Januar 2009 verschob er jedoch eigenmächtig auf unbestimmte Zeit, weshalb es in der Tat fragwürdig ist, ihn überhaupt als "Palästinenserpräsident" zu bezeichnen. Ihn weiterhin in dieser Position wie auch als höchstrangigen Verhandlungsführer und Vertreter seines Volkes anzuerkennen, ist im wesentlichen ein strategisches Manöver Israels und dessen Verbündeten, die damit ihr Werk der Spaltung und Heranzüchtung willfähriger Fraktionen und Führungsfiguren fortsetzen.

Kann von Friedensgesprächen schon deshalb kaum die Rede sein, weil hier nicht auf gleicher Augenhöhe verhandelt, sondern das Diktat des Stärkeren in Stellung gebracht wird, so erweist sich auch die Vermittlerrolle der US-Administration als Farce. Von einer Vermittlung könnte man allenfalls dann sprechen, wenn den Mediator ein Mindestmaß an Unabhängigkeit, Neutralität und Vertrauenswürdigkeit auszeichnet. Nun sind die Vereinigten Staaten jedoch der engste Verbündete und alles entscheidende Rückhalt Israels, dessen Wirtschaft, militärische Schlagkraft und politische Positionierung mit diesem Schulterschluß steht und fällt. Das versetzt die US-Regierung mehr als jede andere in die Lage, Einfluß auf die israelische Führung zu nehmen, mindert aber im selben Maße die Wahrscheinlichkeit, daß dies jemals zugunsten palästinensischer Interessen geschieht.

Mit der Fokussierung auf den Siedlungsbau haben sich die USA und Israel wechselseitig Steilvorlagen zur Inszenierung einer neuen Runde von Friedensgesprächen gegeben, bei denen die verhandlungsbereiten Palästinenser erneut über den Tisch gezogen werden sollen. Hatte Präsident Barack Obama zunächst den Siedlungsstopp zur unverzichtbaren Voraussetzung aller weiteren Schritte erklärt, so ist davon schon lange keine Rede mehr. Die ursprüngliche Forderung auf palästinensischer Seite, erst nach einem sofortigen und dauerhaften Baustopp werde man Friedensgespräche aufnehmen, ist mit Aufnahme der aktuellen Verhandlungen Makulatur. Nunmehr starrt alle Welt gebannt auf den näherrückenden 26. September, an dem der befristete Baustopp von Siedlungen in der besetzten Westbank ausläuft.

Mahmoud Abbas droht mit einem Abbruch der Gespräche, sollte Israel das Moratorium nicht verlängern. Mohammed Ischthiah von der palästinensischen Delegation erklärte, der Siedlungsbau sei das Schlüsselthema dieser Verhandlungen. Es sei ein Test, der zeigen werde, ob es Israel wirklich ernst mit dem Friedensprozeß meint. Sofern die Siedlungen in welcher Form auch immer weitergebaut würden, zerstöre dies die Verhandlungen, unterstrich auch der palästinensische Chefunterhändler Saeb Erekat.

Netanjahus Partner in der Regierungskoalition haben hingegen deutlich gemacht, daß die Bautätigkeit nach dem Stichtag ungehindert weitergehen müsse. Ein Berater des israelischen Ministerpräsidenten, Ofir Gendelman, verwies am zwischenzeitlichen Tagungsort Scharm el Scheich scheinheilig darauf, daß der Bau der Siedlungen seit Beginn der Verhandlungen mit den Palästinensern im Jahr 1993 stets fortgesetzt worden sei, man aber dennoch weiter verhandelt habe. Deshalb verstehe er nicht, weshalb Abbas nun mit dem Abbruch der neuen Verhandlungen drohe, falls Israel weiter Siedlungen bauen sollte. Regierungssprecher Mark Regev erteilte Erwartungen eine Absage, die darauf hinausliefen, daß nur Israel Zugeständnisse machen sollte: Dies sei kein Rezept für einen erfolgreichen Abschluß der Gespräche.

Wie diese Äußerung Regevs zeigt, sieht sich die israelische Regierung fast am Ziel, das Bestehen der Palästinenser auf eine Verlängerung des Moratoriums zu einem kompromißlosen und nicht verhandlungsbereiten Starrsinn zu erklären. Seine Forderung, auch die Gegenseite müsse Zugeständnisse machen, heißt im Klartext, verhandelbar sei allenfalls das Tempo des weiteren Siedlungsbaus. Dies präzisierte Netanjahu gegenüber der Tageszeitung Haaretz mit den Worten, die Palästinenser wollten "null Siedlungsbau", die Israelis wollten weiterbauen. Zwischen null und eins gebe es eine Menge Möglichkeiten. Er wisse nicht, ob es notwendig sei, alle vorgesehenen 20.000 Wohneinheiten tatsächlich zu bauen.

Unterdessen kursierte in israelischen Medien die Meldung, wonach der Planungs- und Bauausschuß in Jerusalem Anfang Oktober über die Errichtung von mehr als 1.300 neuen Wohnungen östlich der Grünen Linie beraten wird. Zwar war Ostjerusalem vom Moratorium ausgenommen, doch ging auch dort die Bautätigkeit in den vergangenen Monaten deutlich zurück. Die Friedensgruppe "Peace Now" hat bereits vor einem Bauboom bei jüdischen Siedlungen im Westjordanland gewarnt, sofern das Moratorium nicht verlängert werden sollte. Dann könnten die Siedler sofort mehr als 13.000 Wohneinheiten ohne behördliche Genehmigungen errichten.

Worin der Ertrag der aktuellen Gespräche aus seiner Sicht bestehen sollte, unterstrich Netanjahu mit der bei einer Kabinettssitzung erhobenen Forderung, die Palästinenser sollten Israel als jüdischen Staat anerkennen. Das sei die "wirkliche Basis" für ein Ende des Konflikts. Aus seiner israelischen Gefängniszelle veröffentlichte der Palästinenserführer Barguti eine Erklärung, in der es heißt, die von Netanjahu geforderte Anerkennung Israels als jüdischen Staat komme einer "Hinrichtung des Friedensprozesses" gleich. Die Anerkennung des jüdischen Staats liefe darauf hinaus, sowohl den Palästinensern in Israel volle Bürgerrechte als auch den Flüchtlingen in den Lagern außerhalb Israels ein Rückkehrrecht zu verweigern.

Wer noch immer meint, zwischen Israel und den USA bestünden gegenwärtig gravierende Interessenkonflikte im Nahost-Friedensprozeß, sollte sich folgende Stellungnahme Hillary Clintons zu Gemüte führen. Wie die US-Außenministerin nach Gesprächen mit Netanjahu und Abbas deutlich machte, sei der Status quo unhaltbar. Das heiße jedoch nicht, daß er nicht "ein Jahr lang, oder ein, zwei, drei Jahrzehnte aufrechtzuerhalten ist", aber grundsätzlich sei der Status quo nicht haltbar. Der einzige Weg, um Israels Zukunft als sicherer, demokratischer, jüdischer Staat zu gewährleisten, bestehe in einer ausgehandelten Zweistaatenlösung und in einem umfassenden regionalen Frieden. Damit signalisierte Clinton, wie lange man die Palästinenser bei Bedarf weiter schmoren lassen will, und gab zugleich ein Bekenntnis zur Zukunft Israels als jüdischer Staat ab, womit das Rückkehrrecht der Palästinenser ebenso entsorgt wäre wie die Gleichberechtigung arabischer Bürger Israels.

15. September 2010