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HEGEMONIE/1693: Halbe Revolution ... EU sucht neue Form der Einbindung Tunesiens (SB)



Die rasante Entwicklung in Tunesien hat Regierungen wie Medien der EU zu hektischen Aktivitäten genötigt. Das Land, das den meisten Bundesbürgern lediglich als Urlaubsziel bekannt war, das man bedenkenlos besuchen konnte, mutierte innerhalb weniger Tage von einem mit der Europäischen Union auf gutem Fuß stehenden Mittelmeeranrainer zu einer korrupten Autokratie respektive brutalen Diktatur. Die schnelle Flucht des Präsidenten Zine El Abidine Ben Ali und die daraus folgende Möglichkeit einer politischen Entwicklung, die der Kontrolle der EU und USA entgleitet, haben dazu geführt, daß der als zuverlässiger Garant westlicher Hegemonie gehandelte Despot nicht einmal mehr in Frankreich Aufnahme fand. Präsident Sarkozy, der anfangs wohl keine Einwände gegen seine Einreise hatte, stieß bei den 600.000 Exiltunesiern in seinem Land auf so lautstarken Widerstand, daß Ben Ali nach Saudi-Arabien ausweichen mußte. Dort kann das Präsidentenpaar als Gast eines anderen despotischen Regimes die Pfründe einer Herrschaft genießen, die exemplarisch für die von der EU und den USA gestützten Oligarchien der arabischen Welt ist.

In den westlichen Hauptstädten ist man insbesondere deshalb beunruhigt, weil der durchschnittliche Lebensstandard in Tunesien nicht einmal so niedrig ist wie in Algerien und Ägypten, den vorrangigen Kandidaten für eine Erhebung der Bevölkerung nach tunesischem Vorbild. Die jüngsten Preissteigerungen bei Lebensmitteln haben den ökonomischen Druck, der auf den Menschen dieser Länder lastet, weiter verschärft, wie die Hungerevolte nach der Streichung von Lebensmittelsubventionen in Algerien, deren Teuerungswirkung durch eine Steuersenkung nach den Protesten zumindest teilweise wieder zurückgenommen wurde, gezeigt hat. Die marktwirtschaftliche Zurichtung der arabischen Volkswirtschaften hat zu dauerhafter Massenarbeitslosigkeit und zu massiver Verelendung der Landbevölkerung geführt. Um die nationalen Oligarchien vor der eigenen Bevölkerung zu schützen, suchen die Regierungen die Unterstützung des Westens, der der Gelegenheit, seine hegemonialen Interessen in der Region durchzusetzen, mit finanzieller, militärischer und politischer Stabilisierung der arabischen Despoten entspricht.

Der in westlichen Hauptstädten immer wieder zu vernehmende Ruf nach einer Demokratisierung der arabischen Staatenwelt wird im gleichem Atemzug dementiert, sobald selbst gemäßigte Parteien des politischen Islam drohen, an die Macht zu gelangen. Was in Algerien mit dem Abbruch der Wahlen nach dem Erfolg der FIS und in Palästina mit dem internationalen Boykott nach dem Wahlsieg der Hamas geschah, ist Ausdruck der neokolonialen Strategie, Demokratie nur dann als solche zu akzeptieren, wenn die Bevölkerungen äußeren Kräften genehme Parteien wählen. Mit der Unterdrückung der ägyptischen Muslimbruderschaft durch das Regime Mubarak trotz längst vollzogener Abwendung von terroristischer Militanz wird in dem bevölkerungsreichsten arabischen Staat eine der größten sozialen, in den Gewerkschaften des Landes fest verankerten Bewegungen daran gehindert, ihr demokratisches Recht wahrzunehmen.

Dies erfolgt unter Gutheißung und Beteiligung westlicher Regierungen, nicht etwa nur, weil sie damit das eigene säkulare Staatsverständnis in der arabischen Welt durchzusetzen versuchen. Heute wird gerne vergessen, daß die panarabischen sozialistischen Regierungen der Region zumindest so lange massiv von den USA und den ehemaligen europäischen Kolonialherren bekämpft wurden, als sie sich deren Hegemonialinteressen nicht unterwarfen. Die in die Mittelmeerunion der EU eingebundenen nordafrikanischen Staaten sollen in jeder Hinsicht daran gehindert werden, auf eine Weise selbstbestimmt zu agieren, die der Durchsetzung imperialistischer Interessen wie der Ressourcensicherung, der Vorverlagerung der Flüchtlingsabwehr jenseits des Mittelmeers und der geostrategischen Ausdehnung der sogenannten Sicherheitsarchitektur der EU entgegensteht.

Wenn die Erhebung der Tunesier in der EU und den USA nun mit paßförmigen Titeln wie denen einer "Jasmin-Revolution" oder "WikiLeaks-Revolution" als Ausdruck legitimer demokratischer Interessen der Bevölkerung umworben wird, dann dient dies wie die Einsetzung einer Interims-Regierung aus den Reihen des alten Regimes in erster Linie der Kooptierung einer Entwicklung, mit der einer tatsächlich den Interessen der Tunesier gemäßen Transformation von Staat und Gesellschaft entgegengewirkt werden soll. Gelänge der Bevölkerung eines arabischen Staates ein solcher Schritt, dann würde allein der Vorbildcharakter für andere Länder der europäischen Peripherie dem Hegemonialanspruch des imperialen Zentrums gefährlich und dementsprechend bekämpft. Die arabischen Bevölkerungen stehen daher vor dem Problem, über den Widerstand gegen die sie beherrschenden autokratischen Dynastien hinaus über keinen Zukunftsentwurf zu verfügen, der nicht nur ihrer politischen, sondern auch ihrer sozialen Unterdrückung ein Ende setzte. Erst dann wäre von einer vollständigen Revolution zu sprechen.

16. Januar 2011