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HEGEMONIE/1722: Krisenbewältigung durch soziale und militärische Kriege (SB)



Die Ratingagentur Standard & Poor's begründet die historische Herabstufung der Bonität der USA von der Bestnote AAA auf AA+ unter anderem mit Zweifeln an der "Berechenbarkeit des amerikanischen Politikprozesses". Nachdem die Zahlungsunfähigkeit der Vereinigten Staaten gerade noch durch einen Kompromiß zwischen Demokraten und Republikanern abgewendet werden konnte, macht die Ratingagentur geltend, daß die Einsparungen im US-Haushalt in Höhe von 2,5 Billionen Dollar unter den zuvor von ihr verlangten vier Billionen an Kürzungen liegen. Der Eindruck, daß die Interessenvertreterin privatwirtschaftlicher Kapitaleigner den ökonomisch und militärisch mächtigsten Staat der Welt vor sich her treibt, trifft jedoch nur bedingt zu.

Der Staat handelt auch in diesem Fall noch als "ideeller Gesamtkapitalist", bedarf er zur Legitimation der zutiefst sozialfeindlichen Sparpolitik doch einer Vorwandslage, die es seinen mit den Kapitaleliten aufs engste verbandelten Funktionseliten ermöglicht, radikale Sozialkürzungen durchzusetzen, die ohnehin in wirtschaftlicher Not lebende US-Bürger am meisten treffen werden. Steuereröhungen für Wohlhabende, die in den nächsten zehn Jahren 900 Milliarden Dollar an Mehreinnahmen für die Staatskasse gebracht hätten, wurden zurückgewiesen. Dafür sollen an praktisch allem, was das ohnehin äußerst weitmaschig gespannte soziale Netz noch hergibt, Kürzungen vorgenommen werden, und das bei einer Armutsbevölkerung, unter der sich 45 Millionen Menschen befinden, die nur mit staatlich ausgegebenen Essensmarken überleben können.

Was in den Medien vorzugsweise als Streit zwischen eigennützig evaluierenden Ratingagenturen und einer durch parteipolitische Konkurrenz korrumpierten politischen Elite in den USA dargestellt wird, ist ein mit ungeheurer Härte geführter Klassenkampf von oben. Die seit Jahren absehbare und dennoch zugelassene, durch großdimensionierten Landraub, europäische Agrarinteressen und die Verfeuerung von Nahrung für die Mobilität des Kapitalismus verschärfte Hungersnot in Ostafrika ist nur eine Facette des offenkundigen Mißverhältnisses zwischen überbordendem Reichtum und bitterer Armut.

Auch wenn der hohe Schuldenstand der US-Regierung eine geringere Bonität rechtfertigt, verfügen die drei großen Ratingagenturen in Folge irreführender Einstufungen zu Beginn der Finanzkrise ihrerseits über eine so angeschlagene Glaubwürdigkeit [1], daß ihre Sachkompetenz nicht minder als die Haushaltslage von ihr benoteter Staaten eine Herabstufung verdient hätte. Man spielt sich die Bälle mit erheblichem Theaterdonner zu, um vergessen zu machen, daß die Hauptstoßrichtung des Angriffs der "Märkte" nicht auf die US-Regierung, sondern die erwerbs- und von Transferleistungen abhängigen Bevölkerungen gerichtet ist.

Die globalen Auswirkungen dieses durch die Eurokrise verschärften Lavierens am Rande eines Crashs der Weltwirtschaft könnten kaum bedrohlicher sein. Die mit dem von fast allen Industrie- und Schwellenstaaten mit dem Mittel der Austeritätspolitik betriebene Reorganisation des kapitalistischen Verwertungsmodells erfordert eine Regulation der sich zuspitzenden sozialen Widersprüche, die die Möglichkeit des Führens weiterer Aggressionskriege auf den Plan ruft. Neben schlichtem Raub durch den Zugriff auf bislang noch von nicht in das westliche Freihandelssystem vollständig integrierter Staaten wie Libyen, Syrien oder Iran, der Ausschaltung ökonomischer Konkurrenten und Schaffung neuer Investitionsmöglichkeiten durch umfassende Zerstörung bieten sich neue Kriege zum Einschwören der von der Schuldenkrise betroffenen Bevölkerungen auf den Kurs ihrer Regierungen an. Hier rückt insbesondere das populistische Moment einer gegen mehrheitlich islamische Staaten oder China gerichteten Offensive ins Blickfeld der in ihrer Vormachtstellung in Frage gestellten NATO-Staaten.

Im Rahmen einer solchen Umwälzung werden neue Formen kapitalistischer Herrschaftsicherung wie der Ausschluß als "unproduktiv" disqualifizierter Menschengruppen aus der defizitären Geldzirkulation zwecks direkterer Ausbeutbarkeit und Beherrschbarkeit - vorgedacht etwa in der Einrichtung von Arbeitslagern in Ungarn auch für den Einsatz staatlich verfügter Zwangsarbeit in Privatunternehmen -, die datenelektronische Kontrolle der Erwerbseinkommen für "Steuergerechtigkeit" und "verantwortlichen" Konsum, die Unterdrückung jeglichen sozialen Widerstands durch die bereits propagierte Aufhebung des Unterschieds zwischen innerer und äußerer Sicherheit, also der Ineinssetzung von innerer und äußerer Kriegführung, vorstellbar.

Sogar Innovationen gouvernementaler Art, die letztlich die Freiheit des Kapitals beschneiden, könnten zwecks Sicherung staatlicher Verfügungsgewalt erforderlich werden, weil die ruinöse Auszehrung des öffentlichen Gemeinwesens die gesellschaftliche Ordnung als solche in Frage stellt. So dominant das Kapital gegenüber den Regierungen erscheint, so erschüttert ist es in seinem von Entwertung durch wegbrechende Anlagemöglichkeiten gefährdetem Bestand. Je dringlicher sich die Frage stellt, wo es sich noch reproduzieren kann, desto angewiesener ist es auf seine Gewährleistung durch staatliche Gewaltmonopolisten und Ordnungspolitiken. So läßt sich der bereits in den letzten zwei Jahren verdoppelte Preis von Grundnahrungsmitteln nicht endlos in die Höhe treiben, ohne Aufstände zu riskieren, die sich nicht mehr mit konventionellen Mitteln befrieden lassen.

Indem die europäischen und amerikanischen Eliten die Zukunft der Bevölkerungen mit Ignoranz strafen, versuchen sie, den Deckel so lange wie möglich auf dem Topf zu halten. Die sich darin zusammenbrauende Wut wächst unter Druck jedoch um so schneller zu einem Problem heran, das sich nicht mehr mit symbolpolitischen Handreichungen bewältigen läßt. Die größte Gefahr in dieser Situation liegt in dem Versuch, die Bevölkerungen mit rechtspopulistischer Agitation aufeinanderzuhetzen. Die antikapitalistische Linke ist daher nicht nur mit der Kritik der politischen Ökonomie beschäftigt, sie muß gleichzeitig den sozialrassistischen Demagogen den Wind aus den Segeln nehmen. Andernfalls droht beim Entwicklungsstand heutiger Produktivkräfte und der durch sie freigesetzten Instrumente der Sozialkontrolle eine faschistische Verhältnisse ungeahnter Wirksamkeit durchsetzende "Berechenbarkeit des Politikprozesses".

Fußnote:

[1] http://www.jungewelt.de/2011/07-26/043.php?sstr=R%FCgemer%7CRating

7. August 2011