Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → KOMMENTAR

HEGEMONIE/1726: Erdogans eigenständige Außenpolitik - Türkei strebt regionale Führerschaft an (SB)



In ihrer Brückenstellung zwischen Europa und Vorderasien kommt der Türkei wachsende Bedeutung als kulturelle, wirtschaftliche, politische und militärische Schnittstelle der Weltregionen zu. Als NATO-Mitglied Teil der westlichen Militärallianz, doch von der Europäischen Union vor der Tür gehalten, zieht die Regierung in Ankara die Konsequenz, aus der Not dieser Zwiespältigkeit die Tugend einer eigenständigen Regionalpolitik zu machen. Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan hat bislang die innen- und außenpolitische Widerspruchslage erfolgreich zugunsten seiner Regierungsführung ausgesteuert. Er läßt sich nicht zum Handlanger US-amerikanischer und westeuropäischer Hegemonialinteressen degradieren, wie er auch Israel in die Schranken weist. Dabei ist seine strategische Leitlinie stets dem Ausbau türkischer Vormachtstellung geschuldet, die im Kontrast zur Brachialgewalt amerikanisch-israelischen Dominanzstrebens zwangsläufig bündnispolitische Kontrapunkte setzt, die ihm große Sympathien in der islamischen Welt eingebracht haben. Die westlicherseits mit Argwohn verfolgte Annäherung an stigmatisierte Parias wie den Iran, Syrien oder den palästinensischen Widerstand endet jedoch vor einer rückhaltlosen Parteinahme und kehrt immer wieder auf das Bestreben zurück, die maßgeblichen Kräfte zu eigenen Gunsten auszusteuern. So überzieht die türkische Regierung die Kurden mit Repression, stimmt im Einklang mit Washington und zur Enttäuschung Teherans der Aufstellung von Raketenbatterien zu und mahnt die Führung in Damaskus ab, wie Erdogan auch bei seinem vielbeachteten Auftritt in Kairo von dem Besuch des Gazastreifens Abstand genommen hat.

Die tiefgreifende Kontroverse mit Israel, die aus den engen Verbündeten vermeintlich erbitterte Feinde gemacht hat, war unvermeidlich, wollte sich die Türkei nicht dem unbedingten regionalen Vormachtanspruch der israelischen Führung unterordnen. Wenngleich der Bruch auf der Oberfläche früher und heftiger erfolgte, als dies zu erwarten war, ist er doch absehbarer Ausdruck der Konkurrenz um die Vorherrschaft in dieser Weltregion. Mit der Verweigerung einer Entschuldigung für den Tod der neun türkischen Aktivisten an Bord der Mavi Marmara hatte Israel in gewohnt machtbewußter Manier signalisiert, daß die Kooperation mit Ankara im Zweifelsfall keine Kompromisse einschließt, wie sie unter gleichrangigen Partnern zu erwarten wären. Erdogan war sich im klaren darüber, daß sein Einlenken angesichts dieser hoch aufgeladenen Belastung der Beziehungen der Bereitschaft gleichgekommen wäre, sich auf Dauer in die Nachrangigkeit der Türkei zu fügen. Er zog es vor, sofort das Heft des Handelns in die Hand zu nehmen, der Regierung in Jerusalem die Stirn zu bieten und die enorme Dividende dieser Unbeugsamkeit in den islamischen Staaten einzufahren. Wenngleich es sich durchaus um einen Machtkampf handelt, ist das Ende der strategischen Partnerschaft keineswegs besiegelt. Die seit Jahren ausgebaute wirtschaftliche und militärische Zusammenarbeit ist für beide Länder zu wichtig, um sie im Affekt preiszugeben.

Die türkische Regierung hat im Verlauf des eskalierenden Streits mehrfach unterstrichen, daß alle bislang ergriffenen Maßnahmen auf diplomatischer Ebene rückgängig gemacht werden können, sollte Israel zur geforderten Entschuldigung und damit dem Eingeständnis eines Fehlverhaltens bereit sein. Israels Verteidigungsminister Ehud Barak versuchte die Wogen zu glätten und zeigte sich zuversichtlich, daß die Krise vorübergehe. Weder werde die Türkei damit zum Feind, noch habe man das geringste Interesse daran, sie zum Feind zu machen. Dan Meridor, Minister für Geheimdienste, appellierte an seine Kollegen im Kabinett, jetzt kühlen Kopf zu bewahren, da Schweigen die beste Reaktion sei. Öl ins Feuer goß hingegen Außenminister Avigdor Lieberman: "Wir werden einen Preis von Erdogan einfordern, der es ihm klar machen wird, dass es sich nicht lohnt, Israel vorführen zu wollen." Er werde sich dafür einsetzen, daß der US-Senat die Massentötungen von Armeniern im Osmanischen Reich zwischen 1915 und 1917 als Völkermord anerkennt. Überdies wolle man die Kurden in ihrem Kampf gegen Ankara unterstützen und eine diplomatische Offensive gegen die Türkei starten. Lieberman plane ein Treffen mit Führern der verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) in Europa, bei denen diese Israel um Militärhilfe gegen die Türken bitten könnten. [1]

Während Lieberman einmal mehr als Kettenhund den Gegner verbellt und in seiner Narrenfreiheit offen aussprechen darf, über welche Druckmittel man im Zweifelsfall gebietet, ist die für israelische Verhältnisse auffallende Zurückhaltung seiner Kabinettskollegen nachvollziehbar. Israel droht angesichts des Streits mit der Türkei, der Botschaftsstürmung in Kairo und der Demonstrationen in Amman eine regionale Isolation, die seine über Jahre errichtete Sicherheitsarchitektur in Frage stellt. Druck mit massiver Hilfe Washingtons wie im Falle des ägyptischen Militärrats läßt sich auf Ankara nicht ausüben, da die US-Administration die Türkei nicht verprellen darf. Zugleich muß die israelische Führung fürchten, daß Erdogan diese tendentielle Schwäche Israels inmitten der Umwälzungen in den arabischen Ländern instinktsicher zu nutzen versteht, um die künftigen Konditionen ihres ungekündigten Bündnisses zu seinen Gunsten zu verschieben.

Vor seiner Reise in drei arabische Länder, mit der sich der türkische Ministerpräsident nach den politischen Umwälzungen in Nordafrika als Führungsfigur der islamischen Welt in Szene setzen will, legte Erdogan den Kurs an: "Morgen mache ich mich auf den Weg nach Tunesien und Libyen. Heute haben Tausende von Menschen in Kairo gegen Israel protestiert. Dahinter steckt ein Erwachen, eine Wende von autokratischen Ordnungen zu demokratischen. In diesen Ländern wird früher oder später das Recht Fuß fassen. Doch es gibt keinen Respekt vor dem Willen dieser Völker." [2] Mit der Gleichsetzung von gewaltsamer Vertreibung der israelischen Diplomaten und demokratischer Revolution gab er einen Vorgeschmack auf seine Argumentationslinie in der ägyptischen Hauptstadt. Dort traf er heute zunächst mit dem Chef des Militärrats, Mohammed Hussein, zusammen und hielt dann eine Rede vor den Außenministern der Arabischen Liga - eine Ehre, die einem Nicht-Araber nur selten zuteil wird. Geplant war zudem eine Ansprache auf dem Tahrir-Platz und eine Beratung mit Mahmoud Abbas. Wie dieses breite Spektrum unterstreicht, möchte sich Erdogan als früher Kritiker Husni Mubaraks, Fürsprecher der Palästinenser und islamischer Staatsmann, der Israel Paroli bietet, vor der Regierung und Bevölkerung Ägyptens profilieren.

In einem zum Auftakt seiner Reise in Ägypten ausgestrahlten Fernsehinterview richtete sich Erdogan mit einem Aufruf zur Trennung von Staat und Religion nach türkischem Vorbild an das ägyptische Volk. Dieses Prinzip, das in der neuen ägyptischen Verfassung garantiert sein müsse, bedeute nicht, daß die Religion keine Rolle spiele. Vielmehr achte der Staat die Religion und halte zu allen Religionen dieselbe Distanz, so Erdogan. Er selbst sei Muslim und stehe dennoch einem säkularen Staat vor. Jeder habe das Recht, religiös zu sein oder nicht. Zudem rief Erdogan die politischen Kräfte Ägyptens dazu auf, den Staat in seiner Verwaltung, dem Bildungswesen, den Finanzstrukturen und im Kampf gegen Korruption zu modernisieren. [3]

Die Regierung in Ankara hat innenpolitisch den Konflikt zwischen Militärmacht und parlamentarischer Demokratie, Islam und säkularem Staatswesen auf eine Weise entschärft, die selbst ihren Kritikern im In- und Ausland Respekt abnötigt. Wie Erdogans Aufruf zur Trennung von Staat und Religion wie auch der Modernisierung Ägyptens unterstreicht, ist der türkische Ministerpräsident mitnichten ein Hitzkopf oder Brandredner, der blindlings und ohne Rücksicht auf die Folgen Streit vom Zaun bricht. Wenngleich er die Klaviatur volksnaher Wünsche und Ressentiments erfolgreich zu bedienen weiß, bietet er den im Umbruch befindlichen arabischen Ländern weit darüber hinaus Zusammenarbeit bei der Gestaltung eines demokratischen Staatswesens an, die in Kontrast zur israelischen, westeuropäischen und US-amerikanischen Einflußnahme steht. Obzwar nicht frei von der historischen Erblast des Osmanischen Reichs in der arabischen Welt und angespornt von einem neuerwachten Streben nach regionaler Führerschaft, könnte die eigenständige Außenpolitik der Regierung Erdogan doch geeignet sein, das Netz hegemonialer Zähmung zu lockern, mit dem die westlichen Führungsmächte die aufbrechenden Sozialkämpfe in Nordafrika abzuwürgen und ihnen genehme Regimes zu installieren suchen.

Fußnoten:

[1] http://www.zeit.de/politik/ausland/2011-09/israel-tuerkei-gaza

[2] http://derstandard.at/1315006079007/Stolz-ueber-tuerkische-Wirkung

[3] http://www.kleinezeitung.at/nachrichten/politik/2830750/erdogan-wirbt-aegypten-fuer-saekularen-staat.story

13. September 2011