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HEGEMONIE/1732: Technokraten retten die Welt - Urbane Legende für fortgeschrittenes Vergessen (SB)



Die Einsetzung von Technokratenregierungen in Griechenland und Italien wird in bürgerlichen Medien als offenkundiger Verlust an demokratischer Partizipation diskutiert. Doch die Kritik an dieser Form schleichender Ermächtigung ist keineswegs einhellig. Nicht wenige Kommentatoren beugen sich der vermeintlichen Einsicht, daß die Schuldenkrise nur durch entschiedenes Durchregieren zu bewältigen sei, da langwierige demokratische Verhandlungsprozesse mit der dynamischen Entwicklung der am Finanzmarkt herrschenden Bedingungen nicht Schritt halten könnten. Im Klartext gemeint ist damit nichts anderes, als daß das Interesse der Bevölkerungen an angemessenen Lebensverhältnissen den Renditeforderungen der internationalen Gläubiger geopfert werden muß, wenn deren Kreditvergabe nicht zu unbezahlbaren Konditionen erfolgen soll.

Die Beauftragung des neuen griechischen Ministerpräsidenten Lucas Papademos und seines italienischen Kollegen Mario Monti, die von der Troika aus EU, IWF und EZB verordnete Sparpolitik durchzusetzen, erweckt nicht von ungefähr den Eindruck, im Augenblick der Not stelle Demokratie ein unkalkulierbares Risiko dar. Wenn gewählte Regierungen zur Bewältigung existentieller Probleme als ungeeignet disqualifiziert werden, dann erscheinen die regulären politischen Verhältnisse als eine Art Schönwetterdemokratie, was der Praxis repräsentativer Politik in der EU durchaus nahekommt. Die Technokratenregimes in Athen und Rom können nur insofern als irreguläre Form der Administration erscheinen, als vergessen wird, daß die politischen Weichenstellungen, die zur Ausplünderung der Staatshaushalte zugunsten der Banken und Investoren geführt haben, mit dem daraus resultierenden Krisenmanagement untrennbar verknüpft sind.

Der Fortschreibung der spätestens seit 2007 offenkundigen Unvereinbarkeit von mehrwertabschöpfender Akkumulation und gesamtgesellschaftlicher Reproduktion liegt die demokratisch legitimierte Favorisierung dieses Verwertungsmodells zugrunde. Wenn nun zwischen Politikern und Technokraten unterschieden wird, dann bedient man sich des symbolischen Wechsels zweier Legitimationskonstrukte. Die demokratische "Wertegemeinschaft" EU wurde als Versprechen auf größere Freiheit wie Handlungsfähigkeit inszeniert und mußte dennoch gegen den Willen der Bevölkerungen durchgesetzt werden. Referenden über die Ablösung des nationalen durch einen europäischen Verfassungsvertrag scheiterten in Frankreich und den Niederlanden, nur um mit Hilfe eines neuen Anlaufs von weitgehend unverändertem Gehalt zum Erfolg geführt zu werden. Die irische Bevölkerung mußte mehrmals zur Wahlurne gebeten werden, um ihre Zustimmung zu gewähren, wobei beim letzten Mal unverhohlen mit dem Entzug der finanziellen Rückendeckung durch die EU gedroht wurde. Die Bundesbürger durften überhaupt nicht abstimmen, weil sie nur bedingt Gewinner der europäischen Einigung sind, da die Exportkonjunktur durch real sinkende Löhne und die Einführung des Zwangsregimes Hartz IV ermöglicht wurde.

Nun wird nicht mehr mit dem Ideal einer "Wertegemeinschaft" um Zustimmung geworben, sondern der unterstellte ökonomische Sachzwang in die faschistoide Form der "Schicksalsgemeinschaft" gegossen. Wo den EU-Bevölkerungen mit dem Argument, es gehe um nichts Geringeres als die erfolgreiche Zukunft Europas im kapitalistischen Weltsystem, die Akzeptanz der sie in allererster Linie betreffenden Austeritätspolitik praktisch abgenötigt wird, da tritt die kapitalistische Verfaßtheit der EU unverhohlen in Erscheinung. Die krisenhafte, staatsautoritäre und soziale verelendende Zukunft der EU haben linke Theoretiker spätestens seit dem Vertrag von Maastricht prognostiziert. Daß ihre demokratische Intervention damals so gering geschätzt wurde, wie ihr heute unfreiwillig Recht gegeben werden muß, unterstreicht lediglich den voluntaristischen Charakter eines auf ökonomischer und militärischer Gewalt basierenden Einigungsprozesses.

Dieses Ergebnis wurde von den gleichen Politikern vorangetrieben, von denen jetzt behauptet wird, dem Ernst der Lage nicht gewachsen zu sein. Das basisdemokratische Anliegen einer Volksabstimmung, wie sie Giorgos Papandreou zur EU-Sparpolitik abhalten wollte, könnte sie nicht wirksamer diskreditieren. Indem er von diesem Plan nach nur wenigen Tagen wieder abrückte, wurde dem Prinzip der Volkssouveränität mit exemplarischer Deutlichkeit eine Absage erteilt. Daß sich der ehemalige griechische Ministerpräsident dem Druck aus Berlin, Paris und Brüssel gebeugt hat, dokumentiert die Zugehörigkeit der politischen Funktionselite zum Direktorat aus Staat und Kapital. Von daher müßte anläßlich der Einsetzung nichtgewählter Technokratenregimes, deren vornehmster Zweck die politische Durchsetzung der Refinanzierung privatwirtschaftlicher Akteure ist, ohne die, wie unterstellt wird, die gesellschaftliche Reproduktion schlechterdings unmöglich sei, gefragt werden, inwiefern jemals demokratische Verhältnisse in der EU herrschten, in denen die Ausbildung autoritärer Verfügungsgewalt nicht programmatisch angelegt war.

Die intellektuelle Bescheidenheit, die Folgen politischer Gewaltverhältnisse nicht zu antizipieren, um bei der Legitimation ihres Vollzugs die Meriten der Unterwerfung einheimsen zu können, spiegelt sich in der vorherrschenden Generalamnesie. So erweist sich der behauptete Gegensatz zwischen Politiker und Technokrat als bloße Formalie eines postdemokratischen Gewaltverhältnisses, das vor allem deshalb unangreifbar bleibt, weil es nicht bei seiner Konstitution verworfen wurde, so daß die Bevölkerungen nun an die eiserne Kette vermeintlich alternativloser Sachzwänge genommen werden können. Die angebliche Effizienz durch ihre Tätigkeit als EZB-Banker oder neoliberale Wirtschaftswissenschaftler legitimierter Regierungschefs setzt die Unterstellung voraus, daß ökonomische Verhältnisse abstrakt-technischen Regulativen unterliegen, die mit politischen Mitteln bestenfalls auf eine ihren Verlauf störende Weise zu beeinflussen wären. Damit wird der Mensch vollends aus dem Funktionsprinzip der Kapitalverwertung gestrichen. "Märkte" interagieren mit "Staaten" zwecks Erwirtschaftung einer Äquivalenz aus privater Aneignung und öffentlichem Verbrauch, deren Eintreten auf bilanztechnischem Wege bestimmt wird.

Die große Unbekannte in dieser Gleichung ist die menschliche Subjektivität. Werden soziale Ansprüche geltend gemacht, die sich in den Rechenmodellen der Ökonomen nicht unterbringen lassen, dann wird auf exekutive Gewalt gesetzt. Dies erfolgt völlig unabhängig davon, ob die jeweilige Regierung gewählt oder eingesetzt wurde, ob ihr vor allem Politiker oder Technokraten angehören. Die wichtigste Expertise, derer es zum erfolgreichen Krisenmanagement bedarf, besteht in der Unterwerfung jedes sich artikulierenden Widerstands, in der Unterordnung der Bevölkerungen unter das Diktat aus Staat und Kapital. Deren Kartell zu brechen und auseinanderzudividieren gelingt nur, indem die Logik des krisenhaften Verlaufs vom Kopf eines schicksalhaften Sachzwanges auf die Füße seiner politisch, gesellschaftlich und materiell bestimmten Voraussetzungen gestellt wird. Zu verhindern, daß auf diese Weise die Systemfrage gestellt wird, ist der Zweck der urbanen Legende, daß die Superhelden des Finanzkapitals etwas anderes wären als seine Sturmtruppen.

18. November 2011